Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

REDE/939: Außenminister Steinmeier zur aktuellen Lage in der Ukraine, 7.5.2014 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, zur aktuellen Lage in der Ukraine vor dem Deutschen Bundestag am 7. Mai 2014 in Berlin:



Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Um es mit einem Wort zu sagen: Die Lage im Osten und im Süden der Ukraine ist furchtbar. Wir alle waren über die Fernsehnachrichten Zeugen von Besetzungen von Häusern, vor allen Dingen in Odessa am vergangenen Freitag, als mindestens 40 Menschen in einem Haus gestorben sind, in das zwei Gruppen vor der Gewalt auf der Straße geflüchtet waren. Ukrainische Sicherheitskräfte und prorussische Separatisten sind auch gestern und wohl auch im Laufe des heutigen Tages wieder brutal aufeinandergestoßen. Es gab Verletzte, auch Tote in Donezk, Slawjansk und Odessa. An der Grenze zur Ukraine stehen russische Soldaten, und natürlich haben viele Menschen Angst davor, dass sie irgendwann die Grenze überschreiten könnten.

Die Nachrichten sind erschreckend. Wir alle spüren in diesen Tagen nicht nur, dass die Nachrichten immer schlechter werden, sondern auch, dass sie immer schneller schlechter werden. Ein Brandbeschleuniger kommt hinzu: Je dramatischer die Ereignisse, desto schärfer die öffentliche Rhetorik. Ich weiß zwar, dass das, was viele Beteiligte über die politischen Lautsprecher hinausrufen, in der diplomatischen Arbeit oft viel pragmatischer klingt; aber dennoch werden Aktion und rhetorische Reaktion immer mehr zu einem Teufelskreis. Irgendwann droht der Point of no Return. Dann stehen wir auf unserem Kontinent tatsächlich an der Schwelle zu einer Konfrontation, die wir eigentlich, 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, nicht mehr für möglich gehalten haben.

Ich beschreibe diese Lage nicht düster; ich beschreibe sie ehrlich. Ich tue das nicht, um Ängste zu schüren, sondern ich tue das, weil wir jetzt auch hier in Deutschland zeigen müssen, dass wir bereit sind, uns gegen jede weitere Eskalation mit unseren Möglichkeiten, die nicht uferlos sind, zu stemmen - ich sage und betone: mit allen diplomatischen Mitteln -, um tatsächlich immer wieder Auswege zu bahnen. Ich bin davon überzeugt: Noch ist es nicht zu spät, noch kann die Vernunft die Oberhand gewinnen; aber sie kann eben nur die Oberhand gewinnen, wenn alle Beteiligten bereit sind, auf den Weg von politischen Lösungen zurückzufinden, allen voran in Moskau und in Kiew. Darum ringen wir jeden Tag.

Ich weiß es auch: Viel Zeit ist nicht mehr. Am 25. Mai sollen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sein. Weil nicht mehr viel Zeit ist, war ich am vergangenen Freitagmorgen beim gegenwärtigen Chef der OSZE, bei Didier Burkhalter, in der Schweiz, hatte Freitagmittag Frau Ashton nach Berlin eingeladen und bin gestern nach Wien geflogen, um dort den ukrainischen Außenminister zu treffen, am Ende auch Sergej Lawrow, um etwas vorzubereiten, was ich in der gegenwärtigen Situation für dringend notwendig halte und was ich in fünf knappen Thesen gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben habe:

Erstens. Ich glaube, wir brauchen noch einmal eine Zusammenkunft der großen Vier, die in Genf bereits zusammengetroffen sind - Ukraine, Russland, EU und USA -, und zwar nicht, weil Genf I ein Fehler war, sondern weil nach Genf nichts folgte, um ein kluges politisches Agreement tatsächlich Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen.

Zweitens. Wir brauchen eine Verständigung darüber - ich sage: eine Verständigung auch mit Russland -, dass die Wahlen am 25. Mai in der Ukraine tatsächlich stattfinden.

Ich habe gestern mit der Überzeugungskraft, die mir zur Verfügung steht, meinem russischen Kollegen Lawrow noch einmal gesagt: Gerade ihr, die ihr die Legitimität der gegenwärtigen Führung in der Ukraine bezweifelt, müsstet das allergrößte Interesse daran haben, dass die erste Institution der politischen Führung in der Ukraine jetzt neu gewählt wird. - Im Verlaufe des Jahres kann man dann über Parlamentswahlen und die Wahl einer neuen Regierung nachdenken. Aber die Präsidentschaftswahl am 25. Mai sollte und muss der Beginn sein.

Drittens. Ich glaube, dass es, um die Wahlen am 25. Mai durchzuführen, dringend notwendig ist, dass wir zu diesem Zeitpunkt auch das einleiten, was fehlt: einen nationalen Dialog. Dafür gibt es ganz viele Ideen. Aber man muss beginnen, diese Ideen umzusetzen. Man kann das machen, indem man Bürgermeisterkonferenzen einberuft. Man kann das machen, indem man Gouverneurskonferenzen mit Teilnehmern aus allen Teilen der Ukraine einberuft. Man kann das machen, was in anderen europäischen Ländern in Phasen des Umbruchs Nutzen gebracht hat: runde Tische, in diesem Fall unter Beteiligung der Ostukraine und unter Beteiligung der südlichen Ukraine und, wo es nicht von selbst läuft, unter Mediation der OSZE.

Viertens. Wir brauchen die Einleitung einer Verfassungsreform, bei der sich alle Regionen des Landes in den Institutionen, in denen diese Reform beraten wird, tatsächlich vertreten fühlen.

Fünftens. Wir brauchen einen Prozess, in dem die Schritte beschrieben werden, mit denen wir zur Entwaffnung der illegalen Gruppierungen und Räumung öffentlicher Orte beziehungsweise öffentlicher Gebäude kommen.

Dies sind fünf klare Vereinbarungen, die man treffen muss und für die man Umsetzungsschritte vereinbaren muss. Das kann auf der Grundlage der Genfer Vereinbarung vom 17. April geschehen. Die Gespräche, die ich dazu geführt habe, haben mir jedenfalls gezeigt: Es gibt eigentlich niemanden, der ein erneutes Genfer Treffen ablehnt. Aber vor einem nächsten Treffen, einem Treffen für konkretere Umsetzungsschritte, darf die Latte nicht jeden Tag höher gelegt werden. Es kommt jetzt darauf an, dass alle vier Beteiligten in der Lage und bereit sind, die gelegten Hürden tatsächlich zu überspringen. Daran arbeiten wir.

Ich weiß: Die Diplomatie bewegt sich immer zu langsam, in kleinen Schritten vorwärts. Natürlich sehe ich, dass jede Besetzung öffentlicher Gebäude, jede Ausschreitung mit Gewalt uns weiter zurückwirft. Aber trotz aller Enttäuschung - ich teile Ihre Enttäuschung -: Wenn uns Gewaltakte zurückwerfen, müssen wir versuchen, uns in die andere Richtung zu bewegen, uns nach vorne zu bewegen. Deshalb habe ich geschrieben: Gerade in der gegenwärtigen Situation ist und darf Aufgeben keine Option sein.

Nun weiß ich, dass es überall auf der Welt, auch in Europa, immer wieder Stimmen gibt, die etwas anderes von Außenpolitik erwarten. Das findet sich in der Kritik wieder, dass wir angeblich nicht entschieden genug seien, dass wir mehr Entschlossenheit, mehr Stärke, mehr Strength in unserer Außenpolitik zeigen müssten.

Das kann man ja sagen. Nur: Man muss sich über die Alternativen im Klaren sein. Was heißt das, jenseits von diplomatischen Druckmitteln? Wer wirklich diese behauptete Stärke zeigen will, der muss auch zu etwas bereit sein, wozu ich nicht bereit bin, nämlich dazu, die Anwendung militärischer Mittel in einer solchen Situation mitzudenken. Ich weiß mich einig mit der großen Mehrheit dieses Hauses, dass eine militärische Lösung keine Lösung wäre, sondern ein Weg in die größere Katastrophe.

Deshalb sage und schreibe ich, wo immer ich kann - auch gegen Ihre Kritik - : Es kommt nicht auf diese Stärke-Rhetorik an. Nicht Stärke und Schwäche sind in solchen Situationen entscheidend, sondern es ist Klugheit. Die Außenpolitik, die nur in den Kategorien von Stärke und Schwäche denkt, will am Ende Gewinner und Verlierer produzieren. Kluge Außenpolitik - und die brauchen wir in der jetzigen Situation - denkt voraus an Konfliktlösung. Deshalb weiß kluge Außenpolitik, dass ein Automatismus vermieden werden muss und eine Eskalation vermieden werden muss, die am Ende - davon bin ich überzeugt - nur Verlierer produzieren wird.

Es gab am vergangenen Wochenende einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer; jedenfalls habe ich das so gesehen. Am Samstag ist es uns, sozusagen in letzter Minute, gemeinsam mit der OSZE inmitten der schon stattfindenden Kämpfe um Slowjansk gelungen, die zwölf Militärbeobachter, die jetzt Gott sei Dank in Sicherheit und bei ihren Familien sind, aus der Geiselhaft zu befreien. Das war ein Hoffnungsschimmer für Diplomatie. Trotz der umkämpften Situation in Slowjansk war - das habe ich in den letzten Stunden davor kaum noch für möglich gehalten - ein Mindestmaß an Zusammenarbeit möglich, nicht nur mit unseren Partnern, sondern auch zwischen Kiew und Moskau. Deshalb habe ich mich bei allen Beteiligten bedankt, in Kiew, in Russland, bei der OSZE und insbesondere bei demjenigen, der in letzter Minute geschickt wurde: beim russischen Diplomaten Wladimir Lukin. Alle haben dazu beigetragen, dass die Freilassung gelingen konnte. Deshalb ist diese Stelle, glaube ich, der richtige Platz für einen Dank.

Ich sage das in aller Offenheit auch deshalb, weil ich manche Kritik, die es in diesen Tagen an der OSZE gegeben hat, nicht ganz verstanden habe. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht ganz verstanden, warum man plötzlich auf die Idee kommt, den unterschiedlichen OSZE-Missionen, die ja keine Erfindung dieser Tage sind, eine unterschiedliche Wertschätzung entgegenzubringen. Die OSZE - das darf ich all denjenigen, die es vergessen haben, in Erinnerung rufen - ist eine zentrale Errungenschaft der internationalen Sicherheitsarchitektur der 70er Jahre, ein Kind der Entspannungspolitik.

Mit dem Wiener Dokument, über das so viel fantasiert worden ist, hat man der OSZE am Beginn der 90er Jahre ein zusätzliches Instrument der Transparenz an die Hand gegeben - nichts anderes ist passiert -, ein Instrument, das in den vergangenen 20 Jahren von allen Seiten immer wieder genutzt worden ist, auch von Russland. Deshalb war es richtig - ich sage das in aller Offenheit -, dass nach dem Wiener Dokument auch diese Mission in der Ostukraine vor Ort war. Diejenigen, die das kritisieren, sollten ein bisschen darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn diese OSZE-Inspektoren nicht Gerüchte korrigiert hätten, nach denen Russland schon ganz am Beginn der Krim-Krise mit Streitkräften auf ukrainischem Boden gestanden habe. Diese Gerüchte gab es, und sie sind von den Militärbeobachtern der OSZE widerlegt worden. Deshalb will ich ganz klar sagen: Für mich kommt eine unterschiedliche Wertschätzung der OSZE-Missionen nicht in Betracht. Sie sind allesamt Teil der großen OSZE-Familie. Diejenigen, die sich in Systemen der internationalen Sicherheit bewegen, die eine Wertschätzung für die Errungenschaften der Entspannungspolitik haben, sollten und dürften das eigentlich nicht kritisieren.

Deshalb ganz zum Schluss: So richtig es war, dass die OSZE in Gestalt der Mission nach dem Wiener Dokument vor Ort war, so richtig finde ich es, dass wir den Weg weitergegangen sind mit der Einrichtung einer Beobachtermission, die langsam aufgebaut wird. Ebenso richtig finde ich es, dass gleichzeitig jetzt der Aufbau einer ODIHR-Wahlbeobachtungskommission stattfindet. Damit sind innerhalb der Ukraine unter einem Dach gleichzeitig drei Missionen der OSZE unterwegs; sie alle versuchen, die Situation dort zu beruhigen und weitere Verschärfungen der Situation nicht zuzulassen.

Wer das nicht will, wer andere Wege für richtig hält oder gar kritisiert, dass wir mit diesem Ansatz einer diplomatischen Entschärfung der Situation scheitern könnten, der hat zwar recht - man kann scheitern -; man muss aber auch einen Augenblick lang an die Alternativen denken, und die sind allesamt viel schlechter. Deshalb sage ich: Aufgeben ist keine Option.

*

Quelle:
Bulletin 49-2 vom 7. Mai 2014
Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,
zur aktuellen Lage in der Ukraine vor dem Deutschen Bundestag
am 7. Mai 2014 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstr. 84, 10117 Berlin
Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-0
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2014