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THEORIE/175: Die arabischen Revolutionen im Spiegel der Theorie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Analyse:
Die arabischen Revolutionen im Spiegel der Theorie

Von Hannah Wettig



Als Anfang 2011 die Tunesier und Ägypter ihre Diktatoren stürzten und auch in Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien die Massen gegen ihre Machthaber auf die Straßen gingen, war offensichtlich, dass es sich um Revolutionen handelte. Inzwischen benennen westliche Medien und Experten die Erhebungen vorsichtiger als "Frühling", oder verkleinernd als Revolten. Dieser Wandel in der Bewertung ging mit wachsender Skepsis einher. Die Revolution ist aus westlicher Sicht gescheitert, wenn sie kein stabiles Nachfolgesystem hervorbringt.

In der Geschichte ist es eher die Ausnahme, dass Revolutionen unmittelbar eine stabile Demokratie hervorbringen. Die Französische Revolution führte zur Herrschaft des Terrors und schließlich in die Despotie Bonapartes. Die Russische Revolution ebnete den Weg für Jahrzehnte stalinistischen Terrors. Die deutschen Revolutionen scheiterten bis 1989 allesamt. Wer aber spräche von einer französischen, russischen, deutschen Rebellion? Nach den arabischen Revolutionen bereiten vor allem die Gewinne der Islamisten Sorge. Zugleich zeigte sich, dass in Ägypten zumindest vorübergehend eine Militärdiktatur entstand. Als sich in Ägypten der Systemwechsel nicht einstellte, Libyen im Chaos zu versinken schien und der syrische Diktator nicht abtreten wollte, wurde aus der arabischen Revolution in der öffentlichen Wahrnehmung eine "Arabellion". Was also macht eine Revolution aus? Wie und warum entsteht sie? Und was ist im Fall der arabischen Revolutionen besonders?

Viele Analysten machen soziale Ursachen für Revolutionen verantwortlich. Das gilt auch für die arabischen. Im vorangegangenen Jahrzehnt erlebten große Teile der Bevölkerung einen sozialen Abstieg. Durch Privatisierungen und Senkung der Subventionen für Lebensmittel und Brennstoffe vergrößerte sich die Schere zwischen Arm und Reich drastisch. Weiter befördert wurde dies durch Dürren und die Lebensmittel- und Wirtschaftskrise 2008. Bahrain ging schließlich das Erdöl aus.

Hinzu kam, was Ted Gurr als "relative Deprivation" bezeichnet. In seinem Standardwerk Rebellion erläutert er damit das Auseinanderfallen von Ansprüchen und Erwartungen, ausgelöst durch eine Vergleichsgruppe, die mehr hat als man selbst. Vergleichsgruppen in den arabischen Diktaturen waren beispielsweise die Familienclans der Herrscher, die ihren durch Korruption erworbenen Reichtum zunehmend zur Schau stellten. Möglicherweise waren es auch die eigenen Eltern, die nach dem Hochschulabschluss eine Anstellung bekamen, während die heutige Jugend auf dem Arbeitsmarkt chancenlos ist. Die jungen arabischen Revolutionäre vergleichen sich im Zeitalter der Globalisierung aber auch viel stärker als noch ihre Eltern mit den Gleichaltrigen in der westlichen Welt.

Eine andere Spur verfolgt der französische Demograf Emanuel Todd. In dem Interview-Band Frei - Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet polemisiert er gegen diese, seiner Meinung nach neoliberale, Sicht: "Wir leben in einer von der Wirtschaft besessenen Welt, einer der gewendeten Marxisten, die davon ausgehen, dass Wirtschaft alles sei."

Seiner Analyse zufolge lassen sich Revolutionen mit zwei Faktoren erklären: Der Alphabetisierungs - und der Geburtenrate. Ob französische, englische, russische oder iranische Revolution, sie alle ereigneten sich, als über 50% der Bevölkerung alphabetisiert waren (zumindest in den Städten). In Arabien verhält es sich jetzt ebenso. Als zusätzlichen Schub für eine Revolution sieht Todd den Wandel in den Familien- und Geschlechterverhältnissen. Mit der Alphabetisierung der Frauen sinkt die Geburtenrate. "In einer Gesellschaft, die ihre Geburten kontrolliert, haben sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau gewandelt. Noch dazu ereignet sich dieser Wandel in einer Gesellschaft, in der die Jungen schreiben und lesen lernen. Damit tritt eine Situation ein, dass die Söhne, nicht aber die Väter lesen können. Dies führt zu einem Bruch in den Autoritätsbeziehungen, und zwar nicht nur auf der familiären Ebene, sondern implizit auf der Ebene der Gesamtgesellschaft."

In eine ähnliche Richtung argumentiert die Politikwissenschaftlerin und ägyptische Revolutionärin Hoda Salah, wenn sie schreibt: "Junge Frauen und Männer wenden sich von den patriarchalen Werten der Gesellschaft ab, sie wollen niemandem mehr aufgrund seines Geschlechts oder Alters gehorsam sein. Sie haben den Ägyptern die Angst vor dem Staat genommen und sie brachen mit dem Respekt vor Mubarak, dem "Vater der Nation."

Dieser Lesart entsprechen die Forderungen der Demonstranten in allen Revolutionsländern: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit. Als Bashar Al Assad in Syrien kurz nach Ausbruch der Proteste die Staatsgehälter und Subventionen für Heizöl erhöhte, reagierten die Demonstranten verärgert darüber, dass er sie abspeisen wollte: Sie hatten Freiheit, nicht Brot gefordert.

Nach Hannah Arendt zeichnet genau diese Forderung eine Revolution aus, gekoppelt an die "Erfahrung des Neubeginns". Dass die Wurzel aller Revolutionen die soziale Frage sei, sei ein Vorurteil des 19. Jahrhunderts, schreibt sie in ihrer Abhandlung Über die Revolution.

Mit Freiheit meint Arendt nicht die Befreiung von der Gewaltherrschaft, sondem die Freiheit zum Handeln, zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen, weswegen "die Einberufung von verfassungsgebenden Versammlungen zu Recht zum Wahrzeichen von Revolutionen überhaupt geworden ist".

Diesen Anspruch haben die arabischen Länder, in denen das Regime gestürzt werden konnte, verfolgt. In Tunesien und Libyen sind verfassungsgebende Versammlungen gewählt und ernsthaft an der Arbeit. Das revolutionäre Ägypten hat diesen Prozess allerdings von Anfang an verpatzt. Erst setzten die Muslimbrüder als stärkste Fraktion des Parlaments vor allem ihresgleichen in die Versammlung und verprellten Linke, Christen und Frauen. Dann löste das Oberste Gericht das Parlament auf, und in der Folge auch die verfassungsgebende Versammlung.

Auch sonst stellt sich in Ägypten die Frage, ob überhaupt ein Neubeginn stattgefunden hat. Ägyptische Revolutionäre bejahen dies und verweisen auf die neuen Freiheiten: Demonstrationen waren unter Mubarak schwer möglich, Versammlungen wurden vom Geheimdienst überwacht, die Sittenpolizei kontrollierte den Umgang zwischen Männern und Frauen. Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre der Angst. Ganz anders fühlt sich das neue Ägypten an. Die Menschen sagen offen ihre Meinung, debattieren laut im Café und nehmen sich auch sonst die persönlichen Freiheiten, nach denen sie verlangt. Sollte ein Polizist sie verwarnen wollen, wird er beschimpft. Das ist ein deutlicher Bewusstseinswandel.

Strukturell hat sich jedoch wenig geändert. Gesetze und Institutionen sind die gleichen geblieben. Fraglich ist, ob die gewonnenen Freiheiten tatsächlich die Freiheit zur politischen Gestaltung beinhalten. Vor allem fehlt in Ägypten bisher der für eine geglückte Revolution entscheidende Machtwechsel innerhalb des Staates. Für diesen Wechsel war in den meisten Revolutionen der Geschichte das Militär die entscheidende Größe. Nur wenn es den Schießbefehl verweigert oder die Machthaber das zumindest befürchten, kann die Revolution glücken.

In Tunesien verlief die Revolution in diesem Sinne wie aus dem Lehrbuch. Die ägyptischen Revolutionäre, offenbar im Wissen revolutionärer Abläufe, appellierten von Anbeginn an ihre Armee, sich der Revolution anzuschließen. Auch sie verweigerte den Schießbefehl, schloss sich damit aber keinesfalls der Revolution an. Denn anders als das tunesische ist das ägyptische Militär eng mit dem alten Regime verwoben. Es ist neben der Familie Mubaraks der größte Nutznießer der korrupten Wirtschaftspolitik der alten Ordnung. Ihm gehören Hotels, Krankenhäuser, Bäckereien. Militäreigene Unternehmungen sollen bis zu 40% des ägyptischen Wirtschaftsvolumens ausmachen. Die Generäle haben kein Interesse daran, die alte Ordnung zu überwinden. Als die Demonstrationen eine bestimmte Stärke erreicht hatten, stellten sie sich gegen Mubarak, gerade weil der wankende Diktator zur Gefahr für die alte Ordnung geworden war. Solange das Militär die politische Macht nicht vollends abgibt, bleibt das alte Regime bestehen. Hinzu kommt, dass die Muslimbrüder, die nun die Regierung stellen, keine Revolutionäre sihd. Sie haben seit je mit dem Regime paktiert. Auch dies ist ein Unterschied zu Tunesien, wo die Anhänger der gemäßigt islamistischen Ennahda in tatsächlicher Opposition zum Regime Ben Alis standen.

Islamisten, so könnte man jedoch einwenden, fehlt das Bekenntnis zum modernen Staat; folglich können sie auch in Tunesien keine Revolutionäre sein. Allerdings bewegt sich die Ennahda in einer mehrheitlich revolutionären politischen Landschaft. Nahezu 60% der Wählerstimmen gingen an linke und linkszentristische Parteien, die sich klar zur Revolution bekannt haben und denen man den Willen zu Freiheit und Demokratie abnehmen kann.

In Ägypten stellt sich die Situation anders dar. Starke revolutionäre Parteien gibt es nicht. In allen arabischen Revolutionsländern fällt auf, dass es praktisch keine revolutionären Führer gab. Die westlichen Medien haben versucht, die Blogger dazu zu machen, aber nur wenige dieser Helden der Revolution sind mehr als Bürgerjournalisten: zweifellos so wichtig für die Revolution, wie es einst Flugblattschreiber und Drucker waren, aber eben keine Anführer.

Nicht nur nach Hannah Arendt bedarf es aber für den Ausbruch der Revolution "einer genügenden Anzahl von Menschen, die auf einen Zusammenbruch mehr oder minder vorbereitet und willens sind, die Macht zu ergreifen". Im Falle der arabischen Revolutionen haben die neuen Medien wie Facebook jedoch bewirkt, dass die revolutionäre Bewegung hierarchiefrei als stetig wachsendes Netz entstand.

Tatsächlich ist das nicht völlig ohne Plan geschehen. Einer der Köpfe der ägyptischen Revolution war Wael Ghonim, der als Administrator der ägyptischen Facebook-Seite "Wir alle sind Khaled Said" einen erheblichen Anteil am Entstehen erfolgreicher Protestformen hatte. In seinem Buch revolution 2.0 beschreibt er, wie er seit Sommer 2010 mit ein paar Anderen diskutiert hat, zu welchen Protesten auf der Seite aufgerufen werden solle, was erfolgsversprechend sei, wann man mutiger werden könne, aber auch, welche Informationen unterdrückt werden sollten.

Trotzdem schreibt er über das Phänomen Revolution 2.0: "Niemand war der Protagonist, denn alle waren ihre Protagonisten." Alle jedenfalls, die sich im Netz an den Diskussionen beteiligten.

Facebook war nicht der Auslöser der Revolutionen, doch haben die sozialen Medien ein neues Setting geschaffen, eines ohne revolutionäre Führer. In Tunesien übernahmen bestehende (Untergrund-)Parteien diese Rolle. In Ägypten aber konnten die Konterrevolutionäre, das Militär und die Muslimbrüder, die Revolution absorbieren. In Libyen gibt es zwar ebenfalls keine revolutionären Führer oder Parteien, doch sind die konterrevolutionären Strukturen ebenso schwach wie der neue Staat, sodass dort alles noch offen ist.

Hannah Wettig (* 1971) Sozialwissenschaftlerin, berichtete für diverse deutsche Zeitungen aus der arabischen Region und arbeitete u.a. als Redakteurin für den libanesischen Daily Star. Mit Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sie das Buch Wege zur Einen Welt - Etappen sozialdemokratischer Entwicklungspolitik bei vorwärts buch veröffentlicht.

hannahwettig@yahoo.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 20-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2012