Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FINANZEN

INTERNATIONAL/010: Zur Krise der Mikrofinanzierung in Indien (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2011


Schuldenfalle in der Landwirtschaft
Zur Krise der Mikrofinanzierung in Indien

Von Christa Wichterich


Seit Jahren verbindet sich mit dem Ruin der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Indien eine grauenhafte Statistik: Die Selbsttötung von Bauern. Todesursache: Überschuldung. Seit 1993 waren es mehr als 200.000. Im vergangenen Jahr häuften sich erstmals die Nachrichten über Frauen in ländlichen Regionen, die sich ebenfalls wegen ihrer untilgbaren Schuldenlast das Leben nahmen. Hinter den Zahlen steht die Tatsache, dass die Modernisierung der indischen Landwirtschaft mit dem Übergang zu Cash Crops, Bewässerungsanbau, zu Pestiziden, Hochertragssaatgut und anderen technologischen und agro-chemikalischen Inputs ein politisch gesteuerter Prozess ist, der sich in hohem Maße über Kredite und Finanzdienstleistungen vermittelt.


Kredite für ländliche Entwicklung

Seit Indira Gandhi 1970 indische Banken verstaatlichte, waren diese verpflichtet, 40 Prozent ihrer Kredite für ländliche Entwicklung zu vergeben und 25 Prozent an die sozial schwächsten Gruppen der Bevölkerung. Ende der 1980er Jahre kamen die Banken diesen Zielvorgaben sehr nahe. Seit jedoch mit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft 1991 als Bedingungen für die Kreditvergabe finanzielle Solvenz, gute Geschäftsaussichten und Profitabilität eingeführt wurden, war die Vergabe von Darlehen an ressourcenarme Bauern rückläufig, während die ressourcenreichen Bauern sich zu einer neuen ländlichen Kapitalistenklasse entwickelten. Gleichzeitig übernahmen die Regierungen der südindischen Bundesstaaten das Modell der Mikrofinanzierung für Selbsthilfegruppen von Frauen. Pate stand die Grameen Bank in Bangladesh. Mithilfe von Weltbank-Krediten und vermittelt über die staatliche Entwicklungsbank NABARD bekamen seitdem etwa 100 Millionen Frauen kleine Kredite, mit denen sie die ländliche Entwicklung als Kleinstunternehmerinnen ankurbeln sollten. Neben den durch die Regierung und NROs mobilisierten Selbsthilfe-Programmen löste die Liberalisierung des Finanzsektors eine Gründungswelle von kommerziellen Mikrofinanzinstitutionen (MFIs) aus. Die indische Regierung erklärte "finanzielle Inklusion" zum Ziel, weil nur 50.000 der 600.000 Dörfer Indiens Zugang zu Finanzdienstleistungen hatten. Sie verpflichtete die MFIs per Gesetz dazu, sich auf Kreditvergabe zu beschränken. Deshalb nahmen sie zur Finanzierung ihrer Kreditgeschäfte selbst bei indischen und immer häufiger auch bei ausländischen Banken Kredite auf, die sie mit erheblichen Zins- und Gebührenaufschlägen an die Frauen weiterverliehen. Die "Penetrationsrate" entlegener Gebiete wurde zum neuen Erfolgsindikator, aber eine gesetzliche Regulierung des wildwüchsigen Sektors gab es nicht.

Jahrelang wurden die Mikrokredite als entwicklungspolitisches Patentrezept zur Armutsbekämpfung, zum Frauen-Empowerment und zur ländlichen Entwicklung schlechthin gepriesen - sowohl in Indien als auch von ausländischen Gebern. Im Zentrum der Erfolgsgeschichte standen lachende Frauengruppen mit einer hohen Rückzahlungsmoral, nämlich bis zu 98 Prozent. Mit der Nachricht über die Selbsttötung von Frauen ist diese Säule der internationalen Entwicklungsarchitektur wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Die Rückzahlungen der Frauen brachen massiv ein. Die Mikrofinanzinstitutionen gerieten in Liquiditätsprobleme. Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, dem weltweiten Musterland der Mikrofinanzierung, platzte - wie in den USA - die Kreditblase und der Mikrofinanzmarkt steckt in einer heftigen Krise.

Was ist passiert in den kleinbäuerlichen Haushalten Andhra Pradeshs? Seit der Liberalisierung fuhr die indische Regierung ihre Investitionen in den kleinbäuerlichen Sektor um mehr als ein Drittel zurück. Die kleinbäuerlichen Einkommen sanken um 20 Prozent. Kleinbauern liehen sich immer häufiger Geld von lokalen Geldverleihern, weil es zu schwierig war, von den Banken einen Kredit für die Landwirtschaft zu bekommen. Weil jedoch die Geldverleiher im Dorf regelmäßig Wucherzinsen verlangen, während häufig die Hoffnung auf schnelle Produktivitätssteigerung und gute Verdienste aus dem Anbau nicht aufging, gerieten die Bauern in eine Verschuldungsspirale. Der regelmäßig von der Regierung aus wahlpopulistischen Gründen ausgerufene Schuldenerlass für Bauern brachte keine Wende, weil nur Bankkredite, nicht aber informelle Finanztransaktionen abgedeckt werden.

Zeitgleich wurden die Frauen in den Dörfern, die meisten Subsistenzbäuerinnen, die zusätzlich als Tagelöhnerinnen auf den Feldern reicher Bauern arbeiten, mit Mikrokrediten überschüttet. Denn inzwischen waren mehr als 3.000 Mikrofinanzinstitutionen (MFIs) entstanden. Die dank der hohen Rückzahlungsquote der Frauen guten Renditeaussichten lösten eine Art Goldrausch und Wachstumswahn aus. Je mehr Dörfer "penetriert" wurden, desto mehr bäuerliche Haushalte wurde finanziell "inkludiert". Doch diese Inklusion fand nicht über die Landwirtschaftskredite der Banken, sondern über die Mikrokredite für die Frauen statt.


Finanzialisierung des Alltags, Feminisierung der Verschuldung

Mit festem Blick auf die Rendite und ihre Erfolgsprämien jagten sich zigtausende, meist männliche Agenten der MFIs gegenseitig die Kundinnen in den Dörfern ab. Wie bei den billigen Hypothekenkrediten in den USA kam es zu einer Kreditschwemme und die MFI-Agenten drängten den Frauen, darunter viele unter der Armutsgrenze, die keine realistische Rückzahlungschance hatten, die Darlehen förmlich auf. Je stärker die MFIs expandierten, desto mehr Kapital brauchten sie vom internationalen Finanzmarkt. Den Banken, Investoren und den Anlegern in den inzwischen zahlreichen Mikrokreditfonds wurden sichere finanzielle und moralische Rendite in Aussicht gestellt, nämlich Frauen zu helfen, sich aus eigener Kraft von der Armut zu befreien. Trotz des sozialen Feigenblatts sind die kleinen Kredite nun gänzlich in die Verwertungslogik des Finanzkapitals eingebunden. Bizarrerweise profitierten die MFIs von der globalen Krise 2008, in der nomadisierendes Kapital neue Anlagemöglichkeiten suchte - und damit zum Aufbau einer neuen Blase beitrug.

In Andhra Pradesh, das zur weltweiten Nr. 1 der Kredit-"Penetration" avancierte, hatte all dies zur Folge, dass schließlich 82 % der bäuerlichen Haushalte hoch verschuldet waren - über 30 Prozent mehr als im indienweiten Durchschnitt. Rein statistisch flossen in jeden armen Haushalt in Andhra Pradesh acht Kredite. Cash-Flow und Konsum nahmen in den Dörfern bei wachsender Verschuldung zu. Die Mikrokredite bewirkten eine Finanzialisierung des Alltags, wie dies für die USA genannt wurde, und zu einer wachsenden Abhängigkeit kleinbäuerlicher Haushalte von den Finanzdienstleistungen.

Die Kredite sollten die Frauen für "einkommenschaffende Maßnahmen", vor allem einen Einstieg in nicht-landwirtschaftliche Selbstbeschäftigung und kleinstunternehmerische Tätigkeiten nutzen. Tatsächlich aber zahlten viele Haushalte mit den Mikrokrediten der Frauen als erstes die Schulden der Männer beim lokalen Wucherer zurück. Da die MFI-Agenten die stattlichen Zinsen und Gebühren von meist mehr als 30 Prozent einmal pro Woche eintrieben, nahmen die Frauen mehrere Kredite von mehreren Anbietern auf, um alle Rückzahlungen prompt leisten zu können. Wenn das nicht reichte, gingen sie schließlich doch wieder zum lokalen Geldverleiher. Hinter der hohen Rückzahlungsquote, die sich demnach nur teilweise durch den Gruppendruck erklären lässt, verbarg sich ein kompliziertes System finanzieller Transaktionen mit einer wachsende Verschuldung bei verschiedenen Quellen und ein ständiges Verschieben der Schulden.

Trotzdem haben die kleinen Kredite vielen Frauen Anerkennung und Verhandlungsmacht sowohl in der Familie als auch gegenüber Behörden brachten. Doch der nachhaltige ökonomische Nutzen ist offenbar extrem gering. Wegen ihrer kurzen Laufzeiten sind Mikrokredite nicht zur Finanzierung der Landwirtschaft und zur Überwindung der Krise kleinbäuerlicher Produktionsweise geeignet. Doch weil die Haushalte gelernt haben, ihren Alltag knapp oberhalb oder unterhalb der Armutsgrenze durch das Jonglieren mit den kleinen Darlehen zu finanzieren, sind sie hochgradig abhängig von der immer wieder neuen Zufuhr von Geld von außen. Für sie sind die Kleinkredite zum Lebensmittel geworden.

Wo die Kreditvergabe zum Business und der Profit für die Gläubiger zum Selbstzweck wurde, haben die kleinen Kredite mit der ursprünglich intendierten Armutsbeseitigung nichts mehr zu tun. Das versprochene Münchhausen-Prinzip, dass die Frauen sich am eigenen Schopf aus der Misere ziehen können, erweist sich als Mär. Vielmehr bewirken die Mikrokredite eine Feminisierung der Verschuldung und stellen das direkte Gegenteil des ursprünglichen Ziels dar, die Frauen aus den Fängen der lokalen Geldhaie zu befreien. Überschuldung aber bedeutet ein hohes Risiko, das kleine Stück eigenes Land zu verlieren, und damit eine Bedrohung für die kleinbäuerliche Existenz.

Eine kürzlich erlassene Verordnung der Regierung von Andhra Pradesh zu MFIs bemüht sich um Schadensbegrenzung, aber schützt die Kreditnehmerinnen nicht effektiv vor Ausbeutung. Sie ist ebenso halbherzig wie die Finanzmarktregulierung im Westen. Nationale wie ausländische Banken, darunter der US-Konzern Citi Group entfalteten mit Kapitalhilfe einen Rettungsschirm für die MFIs.


Kreditunabhängige Landwirtschaft

Erstaunlicherweise bestehen jedoch in Andhra Pradesh auch krisenfreie Zonen, wo kleinbäuerliche Landwirtschaft und ein Überleben der Haushalte unabhängig von permanenter Kreditvergabe möglich sind. Die Deccan Development Society (DDS), eine NRO, die in fast hundert semi-ariden Dörfern tätig ist, setzt nicht auf Kredite, sondern auf Hirse als Lebensmittel. Hirse steht für tradierte, im Unterschied zu Reis und Weizen genügsame, vor allem dürreresistente Sorten und ein landwirtschaftliches Konzept des Mischanbaus, das auf "moderne" Inputs und Bewässerung weitgehend verzichtet. Hier sind Frauen aus kleinbäuerlichen Haushalten die Hauptakteurinnen, weil sie von alters her die Expertinnen des Saatguts und der Biodiversität sind. In jahrelanger Arbeit haben sie Saatgutbanken angelegt und mehr als 70 Sorten von Getreide und Linsen vor dem Vergessen und Aussterben bewahrt. DDS veranstaltet in jedem Jahr ein aufwendiges Festival, um die alten Sorten und das lokale Wissen über sie zu verbreiten, organische Schädlingsbekämpfer statt Pestizide und Kompost statt Kunstdünger bekannt zu machen. Dabei tauschen die Frauen Saatgut und Kenntnisse, haben aber auch ihr eigenes Kreditsystem entwickelt. Sie vergeben Saatgut als Kredit, für den sie Erntegut als Rückzahlung erhalten. Durch Aussaat wird das Saatgut quantitativ vermehrt und seine Qualität erhalten.

Auch in diesen Dörfern sind es überwiegend Männer, die immer wieder den Versprechen auf höhere Erträge und Verdienste durch cash-crop-Anbau Glauben schenken, die Abhängigkeit von Markt- und Preisschwankungen nicht sehen und bereit wären, für Agrarinputs und Brunnenbohrung einen Kredit aufzunehmen - wenn denn die Frauen zustimmen würden. Das stärkste Gegenargument der Frauen ist die Erfahrung, dass ihr biodiversitätszentrierter Anbau sowohl Dürren als auch die Mikrokreditkrise ohne große Einbrüche überstanden und die eigene Ernährung wie auch die Belieferung der lokalen Märkte sichergestellt hat. Sie sind durch eine kleinbäuerliche Landwirtschaft empowert, die nicht von Krediten abhängig ist.


Die Autorin ist Soziologin und freiberufliche Publizistin. Sie ist Mitglied in der AG Frauen des Forums Umwelt und Entwicklung.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


*


Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2011, S. 20-21
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
Koblenzer Str. 65 53173 Bonn
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 0228/35 97 04, Fax: 0228/923 993 56
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011