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FRIEDEN/1032: Einseitige Ausrufung eines palästinensichen Staates ein Verzweiflungsakt(SB)



Die israelische Regierung macht es ihren Verbündeten nicht eben leicht. Mit der Ankündigung des Baus von 900 neuen Wohneinheiten in Ost-Jerusalem nötigt sie sie, zumindest formalen Protest einzulegen, um gegenüber den davon betroffenen Palästinensern und vor allem der arabischen Welt das Gesicht zu wahren. Desto plausibler wird der Versuch der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die israelische Regierung durch die Ankündigung der einseitigen Ausrufung eines palästinensischen Staates unter Druck zu setzen. Wie der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat erklärte, geht es vor allem darum, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu zu bewegen, sich mit der ungelösten Palästinafrage zu beschäftigen und die Zweistaatenlösung auf der Basis der Grenzen von 1967 gutzuheißen.

Der Schritt der PA ist das logische Ergebnis einer Obstruktionspolitik Israels, mit der nicht nur der Status quo erhalten wird, sondern die die Chance der Palästinenser auf Eigenstaatlichkeit durch die permanente Expansion der jüdischen Siedlungen systematisch verringert. So haben sich in den letzten Jahren die Stimmen derjenigen Palästinenser, die das gesamte Projekt der Zweistaatenlösung zugunsten eines gemeinsamen Staats aller in Palästina und Israel lebenden Menschen aufgeben wollen, ebenso gemehrt wie die derjenigen Palästinenser, die die Beendigung des Oslo-Prozesses und die damit einhergehende Abschaffung der PA für die letzte sinnvolle Option halten. Das Problem der palästinensischen Selbstverwaltung besteht darin, daß durch sie formelle Abmachungen mit Israel legitimiert werden, die die Regierung in Tel Aviv zwar mißachtet, die die Palästinenser als schwächere Partei aber dennoch an Vorleistungen bindet, die im Falle ihrer Nichteinhaltung Sanktionen nach sich ziehen und die Position der ohnehin überlegenen Seite weiter verbessern.

Die in dem auch als Oslo II bekannten Interimsabkommen festgelegten Verpflichtungen der Palästinenser wurden im Fall der 2006 gewählten Hamas-Regierung erfolgreich zu deren Boykottierung eingesetzt. Die daraus resultierende Spaltung der Palästinenser stellt das größte Hindernis bei jedem Versuch der Opfer des israelischen Siedlerkolonialismus dar, ihre politische, ökonomische und gesellschaftliche Unterdrückung in ein gemeinsames Vorgehen gegen die Besatzungsmacht zu verwandeln. Der Oslo-Prozeß hat zwar eine Form begrenzter Selbstverwaltung ermöglicht, damit aber einen Zustand der Entrechtung legalisiert, der für keinen Palästinenser akzeptabel ist. Indem die Hamas von vornherein jede an die Palästinenser erhobene Forderung reziprok versteht, also keine Anerkennung Israels ohne Anerkennung des palästinensischen Rechts auf einen eigenen Staat gewährt und kein Gewaltverbot ohne ein Ende der israelischen Gewalt akzeptiert, hat sie das alle Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern bestimmende Gewaltverhältnis auf eine für Israel langfristig eher ungünstige Weise exponiert.

Das hat die Glaubwürdigkeit der islamistischen Partei unter den Palästinensern ebenso erhöht, wie es ihre Boykottierung durch die Verbündeten Israels zur Folge hatte. Dort setzt man nach wie vor auf die Fortsetzung des Oslo-Prozesses, obwohl die israelische Regierung nicht nur beim Ausbau der Siedlungen und bei gewaltsamen Übergriffen auf die Palästinenser unilateral handelt, sondern auch den Abzug aus dem Gazastreifen ohne deren Einbeziehung vollzogen hat. Die vom damaligen Ministerpräsident Ariel Sharon ausgegebene Devise, man habe unter den Palästinensern keinen Verhandlungspartner, hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu Zugeständnissen gegenüber Israel und den USA veranlaßt, die von nicht wenigen Palästinensern als Verrat an ihrer Sache empfunden werden.

In genau diese Kerbe schlägt Israels Außenminister Avigdor Liebermann. Er wirft der PA vor, ein "häßliches Doppelspiel" (Haaretz, 17.11.2009) zu betreiben, wenn sie einerseits die Hamas bekämpft und sich andererseits bei der internationalen Gemeinschaft über Israel beschwert. So habe die Regierung in Ramallah die israelische Regierung während des Angriffs auf Gaza gedrängt, die Hamas zu zerschlagen, um kurz darauf beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen die israelische Kriegführung einzureichen. Wie bereits zuvor Ministerpräsident Benjamin Netanjahu droht Liebermann der PA mit entsprechend einseitigen Maßnahmen, wenn sie den Oslo-Prozeß begeht und den UN-Sicherheitsrat mit ihrer Sache befaßt. Gleichzeitig bekräftigt Lieberman die Bereitschaft seiner Regierung, mit den Palästinensern ohne Vorbedingungen in Friedensverhandlungen einzutreten.

Mit dieser Ankündigung bekennt sich Liebermann zum Oslo-Prozeß, wohl wissend, daß sich die eigene Regierung permanent in jenem Vertragsbruch befindet, den sie nun der PA vorwirft. Es geht Netanjahu und ihm schlicht um den Erhalt eines Legalismus, mit dem die Palästinenser nach Belieben zu nötigen und zu spalten sind, während der israelischen Seite dank der Rückendeckung durch die USA und EU nichts abverlangt wird. Das Ergreifen einseitiger Maßnahmen ist vor allem als Drohgebärde zu verstehen. Auch wenn die Palästinenser im UN-Sicherheitsrat durch das Veto Washingtons kaum eine Chance darauf haben, daß man dort im Rahmen einer Resolution ihr Recht auf Eigenstaatlichkeit bekräftigt und es auf neue Füße stellt, so führte die einseitige Beendigung des Oslo-Prozesses durch die Palästinenser und eine darauf wahrscheinlich folgende Annexion der jüdischen Siedlungen im Westjordanland durch Israel in eine weitere Phase gewaltsamer Auseinandersetzungen.

Als vertraglich formal geregelter Besatzungszustand und unterschwelliger Dauerkrieg bietet der Nahostkonflikt der stärkeren Partei alle Vorteile, die sich aus der Unterdrückung einer anderen Bevölkerung ziehen lassen. Der von der israelischen Regierung avisierte Wirtschaftsfrieden und die einer palästinensischen Eigenstaatlichkeit abverlangten Souveränitätsverluste sollen die Palästinensergebiete in eine verlängerte Werkbank der hochentwickelten israelischen Industrie verwandeln, die in eigener Regie repressiv reguliert werden soll. Mehr ist aus rechtszionistischer Sicht für die Palästinenser nicht drin, und nicht wenige Israelis sind mit dem erreichten Provisorium zufrieden, da es ihr Leben kaum beeinträchtigt. Um dies ohne größere Erschütterungen fortzusetzen benötigt man eine palästinensische Günstlingswirtschaft, die die eigenen Interessen dort durchsetzt, wo auch die Überlegenheit israelischer Feuerkraft nicht hinreicht.

Die PA war von Anbeginn an als eine Israel und seinen Verbündeten dienende Statthalterschaft konzipiert und hat sich zusehends als solche erwiesen. Die immer rabiatere Mißachtung der Regierung in Ramallah durch Israel hat dennoch dazu geführt, daß sie vor der eigenen Bevölkerung nur noch durch die Androhung der Aufkündigung ihrer Subordination bestehen kann. Der von Abbas unternommene Versuch, dafür Rückendeckung bei den Vereinten Nationen und der Europäischen Union zu erhalten, ist ein durchaus eigennütziger Verzweiflungsakt. Auf diese Weise will die PA noch einmal ihre Unverzichtbarkeit als Sachwalterin einer Kolonialordnung demonstrieren, gegen die die mit Israel verbündeten Regierungen keinerlei Einwände haben, so lange dadurch keine eigenen Hegemonialinteressen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Die Grenze der Belastbarkeit der vorbehaltlosen Unterstützung Israels durch die EU-Regierungen und die US-Regierung scheint nicht mehr gänzlich außer Sichtweite zu liegen. Das Schicksal der Palästinenser ist ein Stachel im Fleisch der westlichen Hegemonie über den Nahen und Mittleren Osten, dessen entzündliche Folgen immer schwerer zu beherrschen sind. Der Überfall auf Gaza hat die Einstellung vieler Bürger westlicher Staaten zu Israel verschlechtert und macht es ihren Regierungen nicht eben leichter, das Land als strategischen Vorposten in der Region militärisch und politisch zu unterstützen. Die PA und die palästinensische Oligarchie sind für die Kontrollierbarkeit der Situation unverzichtbar, und sei es nur, weil sie die rudimentäre Option auf einen Friedensprozeß verkörpern.

Mit diesem Pfund versucht die Führung in Ramallah nun, den weiteren Verfall ihrer geliehenen Macht aufzuhalten. Sollte es durch ihr Scheitern wieder zu offenem Krieg zwischen Israelis und Palästinensern kommen, dann beflügelte das alle Kräfte in der Region, die die Hegemonie des Westens grundsätzlich ablehnen und ohne Rücksicht auf eigene Verluste bekämpfen. Von daher ist nicht auszuschließen, daß die EU sich in ihrem Verhältnis zu Israel nicht mehr wie bisher als zahnloser Tiger vorführen läßt.

18. November 2009