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FRIEDEN/1035: Die lange verhinderte Freilassung Gilad Schalits (SB)



Spekulationen um eine bevorstehende Freilassung des seit Juni 2006 im Gazastreifen gefangengehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit sollten dazu Anlaß geben, angesichts der außerordentlich medienwirksamen Debatte um das mit ungeheuren Projektionen überfrachtete Schicksal des jungen Stabsfeldwebels nicht zu vergessen, daß Palästinenser zu Zehntausenden israelische Gefängnisse bevölkert haben und gegenwärtig noch immer Tausende dort inhaftiert sind. Wer argumentiert, das könne oder dürfe man nicht vergleichen, muß sich die Frage gefallen lassen, ob nicht gerade durch die Überhöhung Schalits zu einem Sonderfall, um den angeblich eine ganze Nation bangt, Kriege geführt und ungeheure Repressalien über die Palästinenser verhängt wurden, nicht ein Vergleich in Stein gemeißelt wird, bei dem unter dem Strich ein monströses Unverhältnis in der Bewertung des beiderseitigen Lebens und Wohlergehens zutage tritt.

So wünschenswert das Ende der Gefangenschaft Schalits ist, zumal im Zuge des geplanten Austausches Hunderte Palästinenser freikommen sollen, dokumentiert die Verhandlungsmasse dieses Abgleichs schon für sich genommen eine außerordentliche Geringschätzung des unterworfenen und drangsalierten Volks. Weder ist die israelische Regierung ein stümperhafter Handelspartner, der sich bei einem ungleichen Tausch über den Tisch ziehen läßt, noch die schwächere Seite in einem solchen Abkommen, die sich dabei schmerzliche Zugeständnisse abpressen ließe. Palästinenser sind Freiwild unter dem Besatzungsregime, die bei Bedarf nachgefangen werden können, ob sie nun in Verfahren abgeurteilt werden, die rechtsstaatlichen Standards standhalten, oder in einer wie auch immer gearteten gesteigerten Willkür von Kriegsrecht oder administrativen Verfügungen präventiv in Haft genommen werden.

Daß man die Befreiung Schalits mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln rückhaltlos angestrebt hätte, darf als widerlegt gelten. Bemühungen des Vatikans, vermittelnd tätig zu werden, wurden 2006 von israelischer Seite nur unzulänglich unterstützt, und die ägyptische Regierung beklagte sich mehrfach darüber, daß informelle Gespräche letztlich an immer neuen Forderungen Israels scheiterten (Neues Deutschland 25.11.09). Grundsätzlich lehnt die israelische Regierung Verhandlungen mit der Hamas ab, die sie als "Terrororganisation" einstuft. Daher drängt sich der Verdacht auf, daß der inzwischen 23 Jahre alte Soldat längst auf freiem Fuß wäre, hätten höherrangig eingestufte Erwägungen das bislang nicht verhindert.

Haupthindernis scheinen gegenwärtig zum einen Bedenken israelischer Geheimdienste wie auch von Mitgliedern des Sicherheitskabinetts und Ministern der Regierung zu sein, die keine Gefangenen freilassen wollen, die wegen der Beteiligung oder Planung von tödlichen Anschlägen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden sind. In jedem Fall müßten Sicherheitskabinett und Regierung zustimmen, worauf die Namen der freizulassenden Palästinenser veröffentlicht werden könnten. Dies würde mit Sicherheit zahlreiche Einsprüche vor dem obersten Gericht auslösen, die vor einer Freilassung abgewiesen werden müßten (Zeit Online 23.11.09).

Das zweite Problem ist nicht nur aus israelischer Sicht der mit einer Freilassung von Hunderten palästinensischen Gefangenen verbundene Prestigegewinn der Hamas, der auch Mahmoud Abbas und der zum Zweck der Spaltung vom Westen alimentierten Fatah schwer im Magen läge. Käme Marwan Barghouti im Zuge eines solchen Austausches frei, dessen Popularität unter den Palästinensern jede offene Obstruktion eines ihrer Führer verbietet, könnte dies zudem zu beträchtlichen Verwerfungen in Führungskreisen der Fatah führen.

Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, das sei am Rande bemerkt, gab sich bei seinem Besuch in Israel trotz intensiver Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes an der Vermittlung eines Austauschs ebenso zugeknöpft wie Benjamin Netanjahu oder die Autonomiebehörde. Die bei solchen Gelegenheiten gern wiederholte Warnung, Medienberichte hätten der Sache weit mehr geschadet als genützt, weshalb Stillschweigen über die Geheimverhandlungen allemal die erfolgversprechendste Option sei, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Als Symbol israelischer Überlegenheit, als vorgeblich unschuldiges Entführungsopfer, als Vorwand zahlloser Angriffe auf den Gazastreifen, als verlorener Sohn der Nation und als Kontrastmittel zu den vielzitierten "blutigen Händen" palästinensischer Gefangener wurde Gilad Schalit seit fast dreieinhalb Jahren so oft und so weitreichend für politische und militärische Zwecke mißbraucht, daß Geheimhaltung schon aus Gründen der Staatsräson das Gebot der Stunde ist.

25. November 2009