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FRIEDEN/1068: IHH-Verbot bedroht nicht nur humanitäre Organisationen islamischer Herkunft (SB)



Mit dem Verbot des Vereins Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) am Montag hat Bundesinnnenminister Thomas De Maizière neue Verbotsnormen für humanitäre Arbeit gesetzt, die nicht nur diese angeblich den Terrorismus unterstützende Institution treffen. Das geht aus der Begründung hervor, mit der der IHH unheilige Absichten unterstellt werden.

Laut Pressemitteilung des Bundesinnnenministeriums vom 12. Juli unterstütze die IHH "unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe (...) seit einem langen Zeitraum und in beträchtlichen finanziellen Umfang im Gaza-Streifen ansässige so genannte Sozialvereine, die der HAMAS zuzuordnen sind. Die HAMAS übt Gewalttaten gegenüber Israel und israelischen Staatsbürgern aus und beeinträchtigt dadurch die friedliche Verständigung des israelischen und palästinensischen Volkes. Sie negiert schon von ihrer Satzung her das Existenzrecht Israels und fördert den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen und religiösen Ziele. Die HAMAS wirkt in aggressiv-kämpferischer Weise darauf hin, Angehörige und Institutionen des Staates Israel auch unter Einsatz von terroristischen Mitteln zu bekämpfen, ihnen Schaden zuzufügen und weitere Gewalt hervorzurufen." [1]

Mit dieser Darstellung der palästinensischen Hamas entspricht De Maizière der Linie der Bundesregierung, die von fast vorbehaltloser Parteinahme für die Besatzungsmacht Israel bestimmt ist. Unterschlagen wird dabei, daß die Hamas 2006 in einer demokratischen Wahl von den Palästinensern mit dem Auftrag der Regierungsbildung betraut wurde, daß sie vor diesem Urnengang einen einseitigen Waffenstillstand einhielt und sich im Vorfeld des Überfalls der israelischen Streitkräfte auf Gaza 2008/2009 vergeblich um eine Erneuerung des beiderseitigen und von ihr weitgehend eingehaltenen Waffenstillstands bemühte. Von einer friedlichen Verständigung beider Völker ist nicht auszugehen, solange die eine Seite der anderen das staatliche Existenzrecht vorenthält, und das gilt nicht nur für die Hamas. Um Frieden zu schaffen bedarf es einer gleichberechtigten Ausgangslage, von der in diesem Gewaltverhältnis keine Rede sein kann.

Der Verweis auf die Satzung der Hamas hebt auf ein Dokument ab, das als Verhandlungsmasse eines gerechten Friedensprozesses durchaus zur Disposition stehen könnte, wie der Oslo-Prozeß zwischen Israel und der PLO bewiesen hat. Dazu gehörte auch ein beiderseitiger Gewaltverzicht, zu dem die eindeutig stärkere gewaltausübende Seite Israel nicht bereit ist. Die vom Bundesinnnenminister gewählte Formulierung erweckt den Anschein, die Hamas schicke fortwährend Kämpfer aus, um terroristische Anschläge auf Israel durchzuführen, und feure immer wieder Raketen auf das Staatsgebiet Israels ab. Das trifft nicht zu, so daß sich der Eindruck aufdrängt, De Maizière nehme hier aus politischen Gründen die denkbar härteste Linie gegenüber der palästinensischen Partei und Regierung Gazas ein.

Man muß von einem Bundesinnnenminister nicht erwarten, daß er derartige Verbotsentscheidungen als Außenpolitiker trifft. Das jedoch scheint ein maßgeblicher Antrieb dafür zu sein, eine humanitäre Organisation zu kriminalisieren, die die notleidende Bevölkerung Gazas materiell unterstützt. Die Unterstellung, die IHH agiere unter dem "Deckmantel" humanitären Engagements und unterstütze "deshalb in Wahrheit die Terrororganisation HAMAS als Ganzes", bedarf schon des ausdrücklichen Verweises auf ihre angebliche Lauterkeit, um nicht als fragwürdige und höchst subjektive Einschätzung zu erscheinen. Die IHH zu bezichtigen, sie lege es darauf an, mit ihrer finanziellen Hilfe "den Einfluss der HAMAS wegen ihres vermeintlichen sozialen Engagements weiter zu steigern" und bewirke zudem eine Entlastung des Gesamtbudgets der Hamas, "so dass ihr mehr Mittel für terroristische Aktivitäten zur Verfügung stehen", läßt vor allem auf die Absicht schließen, humanitäre Hilfe per se als terroristisch zu verdächtigen.

Was der IHH als "geradezu zynisch" angelastet wird, betrifft letzten Endes jede humanitäre Organisation, die der Bevölkerung Gazas hilft und damit die Handlungsmöglichkeiten der Hamas erhöht. Selbst wenn diese Hilfen nicht im Namen der islamischen Partei ausgegeben werden, so entlasten sie diese doch davon, die Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem Regierungshandeln durch materielle Vergünstigungen zu gewährleisten. Was immer den Menschen in Gaza gut tut, nützt letztlich auch der Hamas, soll diese doch nicht nur durch ihre diplomatische Isolation, sondern auch die Blockade des Gebiets so unglaubwürdig gemacht werden, daß eine andere, den Interessen Israels gewogenere Administration an ihre Stelle tritt.

Wer tatsächlich an einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts interessiert ist, der verabschiedet sich zuallererst davon, die relevanten Akteure ideologisch zu brandmarken. Schließlich lassen sich nicht nur der palästinensischen Hamas, sondern auch der israelischen Regierung Stellungnahmen von ausgemachter Feindseligkeit gegenüber der anderen Konfliktpartei nachweisen. Es ist die Position der israelischen Regierung und ihrer Verbündeten, in der Hamas keinen Verhandlungspartner zu sehen und Gaza als feindliches Territorium unter den Belagerungszustand materieller Auszehrung und eines latenten Krieges zu stellen, der, wie die erheblichen Zerstörungen und Verluste an Menschenleben vor anderthalb Jahren dokumentieren, vor allem von israelischer Seite geführt wird.

Auch läßt sich der Vorwurf des Zynismus keineswegs nur in eine Richtung erheben, wenn der IHH angelastet wird, "gegen den Gedanken der Völkerverständigung" zu verstoßen. Die Bundesregierung betreibt Völkerverständigung im Nahen und Mittleren Osten vor allem mit Waffengewalt, sei es bei der Besetzung Afghanistan durch die NATO, sei es bei der Befürwortung scharfer Sanktionen gegen den Iran, sei es durch Rüstungslieferungen an Israel, die die Kriegsgefahr in der Region erhöhen. Vor allem die politische Unterstützung, die israelische Regierungen bei militärischen Überfällen auf ihre Nachbarn genießen und die von stillschweigender Billigung bis offener Gutheißung reichen, ist für diese von unschätzbarem Wert und rückt die Friedensbekundungen der Bundesregierung in ein Licht, das den moralisch-ethischen Deckmantel bis auf die Knochen kruden machtpolitischen Interesses durchdringt.

Nicht minder bedeutsam für die Motive De Maizières ist die Tatsache, daß das Verbot einem Ableger der größten Organisation türkischer Muslime in Deutschland, der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), gilt. Der Bundesinnnenminister hat den Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, der von der IGMG dominiert wird, wegen strafrechtlicher Ermittlungen gegen dessen führende Mitglieder von der Islamkonferenz ausgeschlossen und das Integrationsprojekt damit gegen wichtige Vertreter des politischen Islam abgeschottet. Ein Verbot der IGMG wurde zwar bisher nicht erwirkt, aber die Ausgrenzungsabsicht ist mit dem Verbot der IHH noch deutlicher geworden. Wie immer man zu der in sich durchaus heterogenen islamistischen Doktrin stehen mag, so befördert eine solche Polarisierung genau das, was mit der Integrationsabsicht angeblich verhindert werden soll. Den Betroffenen wird der Eindruck, Integration bedeute nichts anderes als Unterwerfung unter die ihnen abverlangte Norm politischen Wohlverhaltens und lebensweltlicher Anpassung, geradezu aufgedrängt.

Im Interview mit der taz [2] erklärt die Islamismusexpertin Claudia Dantschke, daß die Führer der verbotenen IHH nicht zu denjenigen Gruppierungen innerhalb der IGMG gehören, die "sehr in die Türkei gewandt sind und noch stark mit dem radikalen Kurs des Milli Görüs-Gründers Erbakan verbunden sind". Sie wollten sich viel mehr "stärker auf Deutschland und Europa beziehen und eine Loslösung vom türkischen Einfluss propagieren", doch nun seien sie durch das Verbot diskreditiert. Es fällt schon auf, daß der Bundesinnnenminister gegenüber der Hamas wie der IHH eine Kriminalisierung durch das Terrorstigma betreibt, mit der die Schraube der Eskalation eher zugezogen denn entspannt wird. Seine Argumentation erinnert an ein von US-Bürgerrechtsanwälten als schwerwiegender Einschnitt in die Verfassungsrechte erachtetes Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. Dieser drohte Menschenrechtsorganisationen vor wenigen Wochen an, humanitäre Hilfe oder Rechtsberatung zur Konfliktlösung als terroristischen Akt zu verfolgen, wenn es sich bei den Adressaten um als terroristisch erachtete Befreiungsbewegungen handelte. Die Mehrheit der Verfassungsrichter übernahm die Sprachregelung der Generalstaatsanwältin, laut der jegliche Form von politischer Legitimation und materieller Hilfe für diese Gruppen letztendlich zu terroristischen Gewalthandlungen führe [3].

Dieser inhaltliche Gleichklang legt nahe, daß es den Regierungen der transatlantischen Wertegemeinschaft um einen breit orchestrierten Angriff auf die Legalität humanitärer Organisationen geht, zumindest insofern sie sich nicht auf herrschaftsförmige Strategien wie die zivil-militärische Zusammenarbeit in den Protektoraten der NATO oder bei militärischen Interventionen der EU und USA einlassen. Mit der IHH wurde eine Organisation gewählt, deren Name schon einen schlechten Klang hat, wofür die negative Berichterstattung deutscher Medien über die türkische - mit der verbotenen deutschen IHH nicht identischen - IHH und ihre Rolle bei der Gaza Freedom-Flottille gesorgt hat. Da sie zudem dem politischem Islam nahesteht und mit der Hamas eine als "radikalislamistisch" stigmatisierte Organisation unterstützt hat, eignet sie sich als Einfallstor für weitere Verbote dieser Art. Über ideologische Mauern hinwegzudenken und Frieden zwischen verfeindeten Lagern zu schaffen kann mit dieser Politik jedenfalls nicht beabsichtigt sein.

Fußnoten:

[1] http://www.bmi.bund.de/cln_165/sid_38102CFA598D5B00960A15AE11697C84/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2010/07/ vereinsverbot.html

[2] http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/direkter-einfluss-auf-60-000-muslime/

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1387.html

14. Juli 2010