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FRIEDEN/1078: Israels Expansionismus läßt sich keine Grenzen setzen (SB)



Von den gut 7,6 Millionen Einwohnern Israels leben inzwischen rund 500.000 in mehr als 120 Siedlungen auf besetztem Land, wozu noch 100 sogenannte Vorposten radikaler Siedler kommen. Dies ist schon zahlenmäßig ein so hoher Prozentsatz, daß der Siedlungsbau keinesfalls als marginales und isoliertes Phänomen behandelt werden kann. Der Staat subventioniert in den Siedlungen die Errichtung von Wohneinheiten zu Kosten, die deutlich unter jenen im Rest des Landes liegen. Darüber hinaus baut er aufwendige Sicherheitsmaßnahmen aus und stellt eine vorzügliche Infrastruktur bereit, so daß die Expansion der Siedlungen massiv gefördert wird. Weit über den harten Kern ideologisch begründeter Ansiedlung hinaus ist dieses Projekt auch für Wohnungssuchende ohne spezifische religiöse oder politische Bindung außerordentlich attraktiv. Im Kontext einer Verelendung wachsender Teile der Bevölkerung sorgt diese Begünstigung für einen nie versiegenden Zustrom an Interessenten, der den Ausbau und die Erweiterung der Siedlungen in einen vermeintlich unaufhaltsamen Prozeß verwandelt, der immer neue vollendete Tatsachen schafft.

Seit Beginn der Besatzung im Jahr 1967 rang sich keine einzige israelische Regierung dazu durch, den Bau von Siedlungen zu verhindern, wobei sich seit dem Friedensabkommen von Oslo 1993 die Zahl der Siedler sogar verdreifacht hat. Beim Siedlungsbau handelt es sich mithin um ein seit Jahrzehnten vorangetriebenes Kernstück israelischer Regierungspolitik, das durch fortgesetzten Landraub die Existenzvoraussetzungen der Palästinenser einschränkt und deren mögliche Staatsgründung auf ein immer niedrigeres Niveau drückt, wenn nicht gar unmöglich macht. Zeitgewinn durch verhinderte oder gescheiterte Friedensverhandlungen stellt daher aus Perspektive eines expansionistischen Entwurfs nicht etwa ein Versagen oder Unvermögen, sondern im Gegenteil die erfolgreiche Umsetzung einer schleichenden Umsetzung großisraelischer Ambitionen dar.

Die Dauerblockade des Gazastreifens und die Trennmauer im Westjordanland schotten den erreichten Zugewinn auf israelischer Seite ab. Auf Grundlage dieser gewaltsamen Kompression palästinensischen Raums werden weitere Brückenköpfe in Gestalt der Siedlungen befestigt und erweitert, die auf Grundlage eines Masterplans die Westbank systematisch fragmentieren. Damit verschafft sich Israel Zugriff auf Land und Ressourcen wie insbesondere die Wasservorkommen in dieser Region und zerstückelt zugleich das schrumpfende Palästinensergebiet in voneinander getrennte Enklaven.

Wenngleich es sich beim Siedlungsbau um einen Bruch des Völkerrechts handelt, der durchaus als solcher beim Namen genannt wird, setzt sich Israel unablässig über völkerrechtliche Standards hinweg und ignoriert dauerhaft Resolutionen der UN-Vollversammlung. Da niemals Sanktionen verhängt und israelische Regierungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, handelt es sich bei der vielfach erhobenen Forderung nach einem Siedlungsstopp in erster Linie um ein Täuschungsmanöver zur Verschleierung der internationalen Rückendeckung, die man der Siedlungspolitik de facto gewährt.

Die gern kolportierte Sichtweise, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu müsse um des Fortbestands seiner Koalition willen auf die Interessen der Siedler Rücksicht nehmen, geht einer ausgeklügelten Argumentationskette auf den Leim. Obgleich es zutrifft, daß der harte Kern radikaler Siedler immer unverhohlener eine rassistische Doktrin propagiert und seine reaktionären Ideologie als Staat im Staate zu verankern sucht, blendet die Fixierung auf dieses Phänomen dessen langjährige Förderung durch die israelische Regierungspolitik und deren ausländische Bündnispartner aus.

Netanjahu bewährt sich als Jongleur, der die innerisraelischen und internationalen Unwuchten je nach Bedarf so gegeneinander zu kehren oder miteinander zu verflechten versteht, daß unter dem Strich Friedensverhandlungen nicht stattfinden und der Siedlungsbau fortschreitet. Wenn er dabei selbst die US-Regierung vorzuführen scheint, so in erster Linie deshalb, weil er sich einer breiten Konvergenz der beiderseitigen Interessen sicher sein kann, der gegenüber die gelegentlichen Ausreißer eines Barack Obama bislang das Maß auszusteuernder Kapriolen nicht überschritten haben.

Dies unterstreicht die jüngste Initiative der Obama-Administration, die im Bestreben, vorzeigbare Resultate im Nahost-Friedensprozeß präsentieren zu können, die Farce vorgeblich neutraler Vermittlung zwischen den Konfliktparteien vollständig preisgibt. Um Netanjahu bei seiner Rückkehr aus Washington mit einem Geschenkkorb auszustatten, der es ihm erlaubt, seiner Regierungskoalition einen erneuten Baustopp von 90 Tagen im Westjordanland schmackhaft zu machen, ergreift die US-Regierung offen Partei für die politische und militärische Durchsetzungsfähigkeit seines Verbündeten.

Der Vorschlag sieht vor, daß Israel drei Monate lang auf neue Bauvorhaben im Westjordanland verzichtet und darüber hinaus auch die Projekte ruhen läßt, die nach dem Auslaufen des zehnmonatigen Siedlungsstopps Ende September begonnen worden waren. Das Moratorium soll allerdings nicht für Ost-Jerusalem gelten. Im Gegenzug bietet die US-Regierung an, nach Ablauf der 90 Tage keinen weiteren Baustopp zu fordern sowie für die Dauer eines Jahres ein Veto gegen alle israelkritischen Resolutionen im UN-Sicherheitsrat und anderen internationalen Foren einzulegen. Zudem soll die Lieferung von 20 Kampfflugzeugen des Typs F-35 im Wert von drei Milliarden Dollar genehmigt werden.

Netanjahu konnte und wollte nicht den Eindruck erwecken, er habe in seiner über sieben Stunden langen Konferenz mit US-Außenministerin Hillary Clinton bereits Nägel mit Köpfen gemacht. Sofern der Vorschlag ergänzt wird, werde er ihn beim geeigneten Regierungsforum einbringen, kündigte er weitere Bedingungen für den Baustopp an. Erst wenn diese erfüllt seien, werde der Ministerpräsident den Vorschlag seinem Sicherheitskabinett präsentieren, verlautete aus israelischen Regierungsreisen. Obgleich Netanjahu damit betonte, daß Israel nicht der Juniorpartner der USA sei, lobte US-Präsident Barack Obama die bloße Bereitschaft, den Vorschlag zu prüfen. Netanjahu habe einen "konstruktiven Schritt" unternommen, der "vielversprechend" sei. "Das ist nicht leicht für ihn, aber ich denke, das ist ein Signal, daß es ihm ernst ist", fügte der US-Präsident hinzu. (www.stern.de 15.11.10)

Legt man den unterbreiteten Vorschlag auf die Goldwaage, schrumpft das vermeintlich pompöse Angebot auf einen vorerst undefinierbaren Restbestand zusammen. Die USA haben schon in der Vergangenheit nicht nur im UN-Sicherheitsrat alle Resolutionen und Beschlüsse torpediert, die den Interessen der israelischen Führung zuwiderliefen. Auch die angebotene Lieferung der 20 hochmodernen Tarnkappenjets ist insofern nicht neu, als die USA bereits im Vorfeld des auf 60 Milliarden Dollar bezifferten Waffenabkommens mit Saudi-Arabien den Israelis einen entscheidenden technologischen Vorsprung in Gestalt der F-35 zugesichert haben. Wenngleich keineswegs auszuschließen ist, daß womöglich eine beschleunigte Lieferung, günstigere Konditionen oder sonstige bislang unter Verschluß gehaltene Einzelheiten vereinbart werden, drängt sich doch der Eindruck auf, daß hier eine weitere Initiative zu Lasten der Palästinenser auf überdimensionale Größe aufgeblasen wird.

Die Regierungen in Washington und Jerusalem wollen die Palästinenser daran hindern, einseitig ihren Staat auszurufen und damit unter Umständen unkontrollierbare Verwicklungen auf den Plan zu rufen. Offenbar hofft die US-Regierung, innerhalb von drei Monaten direkter Verhandlungen eine Einigung über gewisse territoriale Fakten des künftigen Staates Palästina zu erreichen. Wäre geklärt, welche Siedlungsblocks Israel im Rahmen einer endgültigen Lösung angegliedert werden, könnte dort weitergebaut werden, ohne daß man neue Konflikte schürt. Ob es daraufhin in absehbarer Zeit zur Gründung des Palästinenserstaats käme, steht auf einem andern Blatt. Ohnehin geht niemand davon aus, daß binnen dreier Monate die endgültigen Grenzen ausgehandelt werden können. Nüchtern betrachtet zielt der Vorstoß darauf ab, den Siedlungsbau voranzutreiben und ihn zugleich aus der Schußlinie zu nehmen.

Eine kleine national-religiöse Partei hat bereits mit dem Austritt aus der Koalition gedroht, sollte es zu einem zweiten Baustopp kommen. Kabinettminister Silvan Schalom von Netanjahus Likud-Partei deutete den entscheidenden Vorbehalt an. Sollte Israel den Bau von Siedlungen für drei Monate einstellen, werde der Druck unerträglich, über permanente Grenzen zu entscheiden. Sich in diese Lage zu bringen, wäre ein "riesiger Fehler". Solange die Gründung eines palästinensischen Staats als bloße Option vorgehalten wird, sind den expansionistischen Bestrebungen Israels keine Grenzen gesetzt. Wenngleich die verschiedenen Fraktionen durchaus unterschiedliche Vorstellungen und Begründungen ins Feld führen, wie weit die angestrebte Okkupation reichen soll, eint sie doch die Übereinkunft, daß nichts und niemand ihnen dabei in die Quere kommen darf. Würde man sich jemals auf die genauen Ausmaße eines Palästinenserstaats festlegen, wäre erstmals in der Geschichte Israels dessen Staatsgebiet definiert und somit begrenzt.

15. November 2010