Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

FRIEDEN/1092: Free-Gaza-Bewegung - Aktivismus neuen Typs mit linker Zukunft (SB)



Die Feindseligkeit, mit der die Free-Gaza-Bewegung in der Bundesrepublik quer durch alle politischen Lager überzogen wird, ist ihrer Wirksamkeit geschuldet. Was mit dem Antisemitismusanwurf an die Adresse der Linkspartei fristgerecht im Vorfeld der Entsendung der Free-Gaza-Flottille II in Stellung gebracht wurde, dient nicht nur der Durchsetzung des israelischen Siedlerkolonialismus. Es ist ganz generell ein Angriff auf die emanzipatorischen Inhalte linken Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung, wie die mit grobem Pinselstrich vollzogene Ineinssetzung antikapitalistischer Organisation und antisemitischer Obsession belegt.

Die Absicht, jegliche Opposition gegen das herrschende Verwertungssystem, bei der die Gefahr einer größeren Mobilisierungsfähigkeit gewittert wird, mit Hilfe dieses Vorwurfs zu zerschlagen, fällt in Deutschland auf besonders fruchtbaren Boden. Der dabei zu Tage tretende Mangel an Differenzierungsvermögen zwischen dem Staat Israel und dem geostrategischen Dispositiv, das ihn für seine Verbündeten USA und EU wertvoll macht, einerseits und dem dem Vermächtnis des Holocaust geschuldeten Kampf gegen Militarismus, Rassismus, Faschismus und Imperialismus andererseits ist desto verheerender, als er die Kritik an Staat, Kapital und Nation nachhaltig unterminiert. Es ist kein Zufall, daß die Phalanx der sogenannten Israelsolidarität von neokonservativen Demagogen durchsetzt ist und kein Problem mit der Instrumentalisierung ethnischer, religiöser und nationalistischer Identifikationsmomente hat.

Die Auseinandersetzung um Palästina und Israel ist auch ein Kampf um die Zukunft der daran beteiligten Gesellschaften. Dem in Israel favorisierten Paradigma eines waffenstarrenden HighTech-Kapitalismus stehen keine rückständigen Stammesgesellschaften gegenüber, wie gerne behauptet wird. Die Palästinenser und andere arabische Gesellschaften, die das Joch des Kolonialismus niemals vollständig überwinden konnten und denen nach dem Scheitern des panarabischen Sozialismus eine islamistische Indoktrination droht, deren Sachwalter an der etablierten Klassenherrschaft nicht rühren, sondern diese mit Hilfe moralischer Normen fortschreiben wollen, haben in diesem Jahr einen Faden historischer Einflußnahme in die Hände bekommen, mit dem sich das ganze Knäuel ihrer desolaten Lage entwirren ließe. Im Zustand der Unmündigkeit und Rückständigkeit gehalten wurden diese Gesellschaften vor allem durch ihre Subordination unter europäische und US-amerikanische Interessen, für deren Durchsetzung die Dominanz Israels ein zentraler Legitimationsfaktor ist.

Der nun in See stechenden Free-Gaza-Flottille ist vor dem Hintergrund der arabischen Aufstände ein noch größerer Wirkungsgrad beschieden als der letztjährigen Initiative, die bereits weltweit wahrgenommen wurde. Die PalästinenserInnen bedürfen aufgrund ihrer doppelten Unterdrückung durch die israelische Besatzungsmacht und die eigenen Oligarchien äußerer Unterstützung, um sich überhaupt in den Stand zu bringen, den sozialen Kampf um ihre Lebensmöglichkeiten aufzunehmen. Die Free-Gaza-Flottille und die BDS-Kampagne repräsentieren denjenigen Teil der Verantwortung, den europäische und nordamerikanische AktivistInnen übernehmen können, weil es ihre Regierungen sind, die das israelische Besatzungsregime stützen. Um den Vorposten der westlichen Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten zur Akzeptanz der ihm völkerrechtlich auferlegten Zugeständnisse zu bringen, ist das Eintreten westlicher AktivistInnen von großer Bedeutung, wird das Schicksal der Palästinenser doch seit langem als Konstante gelungener westlicher Hegemonialpolitik nicht nur in Kauf genommen, sondern aktiv besiegelt.

Für linke Oppositionsbewegungen ist die Palästinasolidarität darüberhinaus ein Anlaß, ihren desolaten Zustand zu überwinden und neue Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Was in der provinziellen Sicht der sogenannten Antisemitismusdebatte um die Linkspartei gerne vergessen wird, ist der internationalistische Charakter der Palästinasolidarität. Die linken Bewegungen in den Metropolengesellschaften der EU außerhalb Deutschlands und Nordamerikas sind in dieser Frage weit weniger gespalten als die bundesrepublikanische Linke, in der die Verunglimpfung linker wie bürgerlicher UnterstützerInnen Palästinas vorherrscht. Dies ist um so bedeutsamer, als gerade auf diesem Feld Organisationsformen entwickelt werden, die sich nicht einfach mit der üblichen antikommunistischen Propaganda ausgrenzen und niedermachen lassen.

Das Potential der humanitär und völkerrechtlich legitimierten Free-Gaza-Bewegung geht denn auch über das vordringliche Anliegen, die Situation der Palästinenser zu verbessern, hinaus. Da dieser Kampf Menschen aus verschiedensten Ländern und Kulturkreisen, aus linken Organisationen und mit bürgerlichem Selbstverständnis auf solidarische Weise miteinander verbindet, könnte hier durchaus der Fokus einer Gegenbewegung entstehen, deren Ziele sich nicht auf die bislang bestimmten beschränkt. Die Entwicklung herrschafts- und kapitalismuskritischer Zusammenschlüsse scheitert nicht zuletzt an apologetischen Bekenntnissen, in denen, wie etwa die von den USA und Deutschland ideologisch bemäntelte militärische Aufrüstung Israels belegt, fortgeschrieben wird, was angeblich bekämpft wird. Sich hier Klarheit zu verschaffen und die eigene Ohnmacht schonungslos offenzulegen, um ihr nicht weiter zu erliegen, sondern sie unumkehrbar zu überwinden, kann auch im Rahmen dieser Bewegung erfolgen.

Der emanzipatorische Kern der Free-Gaza-Bewegung zeigt sich auch in der Distanzierung der türkischen Regierung von ihr. Dieser NATO-Staat ist in besonderer Weise dazu auserkoren, die hegemoniale Kontrolle über die arabischen Staaten zurückzuerlangen. Allem Anschein nach verbessern sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel wieder, EU und USA üben so gut wie keinen Druck zur Aufhebung der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei aus, und im Falle Syriens baut man darauf, daß der türkische Einfluß die Einbindung des Landes nach dem Sturz der Assad-Regierung ins westliche Bündnissystem begünstigt. Am Beispiel Palästinas wird mithin wie bei einem Lackmustest der Stand des kolonialistischen Gewaltverhältnisses ablesbar, dessen Sicherung in der gesamten Region das vordringliche Anliegen imperialistischer Regierungen ist.

So zieht sich eine klare Linie von der verschärften Mobilisierung des Antisemitismusverdachts über die zunehmende Aggressivität, mit der die NATO-Staaten im Nahen und Mittleren Osten intervenieren, bis zur Abstimmung über die Anerkennung eines Palästinenserstaates in der UN-Generalversammlung im September. Die strategische Reorganisation westlicher Vorherrschaft in der Region ist in vollem Gange, und sie ist untrennbar von den kapitalistischen Verwertungsimperativen, die in diesem Teil der Welt gesichert und vertieft werden sollen. Der Kampf für die Freiheit Palästinas und die Aufhebung oligarchischer, religiöser und etatistischer Herrschaftsformen steht nicht im Widerspruch dazu, die Monstrosität der Judenvernichtung zum Anlaß der Streitbarkeit gegen jede Form der Unterdrückung zu nehmen. Wer dies behauptet, indem er den Antisemitismusverdacht für die Vorherrschaft eines nationalreligiös definierten Staates über eine andere Bevölkerung und die globale Führungsrolle der zutiefst sozialfeindlichen US-Gesellschaft instrumentalisiert, kann die Widersprüchlichkeit seiner Apologie nur mit massiver Aggressivität kaschieren. In diese Gefahr begeben sich die AktivistInnen der Free-Gaza-Flottille, doch in diesem entschiedenen Eintreten für in den Staub getretene Menschen liegt auch die Stärke einer Streitbarkeit, die einst linke Sachwalter des gegen Linke erhobenen Antisemitismusvorwurfs längst gegen saturierte Bürgerlichkeit eingetauscht haben.

26. Juni 2011