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FRIEDEN/1098: Durchbruch oder Immunreaktion - Kampf um die Deutungshoheit im Nahostkonflikt (SB)



Der Kampf um die Deutungshoheit im Nahostkonflikt hat mit den Reden von Mahmud Abbas und Benjamin Netanjahu vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York einen spektakulären Höhepunkt erreicht. Ungeachtet dieser Inszenierung für eine fiktive Weltöffentlichkeit, wie sie im Spiegel der Medien vorgehalten wird, kämpfen die Palästinenser unverändert im Würgegriff des Besatzungsregimes um eine menschenwürdige Existenz. Der Antrag auf Vollmitgliedschaft eines Staates Palästina bei der UNO hat die Widerspruchslage auf die Tagesordnung weltpolitischer Wahrnehmung gesetzt wie seit Jahren nicht mehr. Ob damit ein Durchbruch gelungen ist, der die ideologische Suprematie Israels und seiner Verbündeten ins Wanken bringt, oder im Gegenteil mit dem Spektakel das Pulver verschossen und einer künftigen Immunreaktion Vorschub geleistet wurde, die das Anliegen der Palästinenser auf Jahre hinaus versiegelt, entscheidet sich in Auseinandersetzungen, die es noch zu führen gilt.

Während Netanjahus Rede weithin als überheblich und starrsinnig wahrgenommen wurde und sein Land weitere Sympathien gekostet haben dürfte, krönte Abbas seine politische Laufbahn mit einem glänzenden Auftritt. Ein junges Team im Ausland aufgewachsener Palästinenser hatte seit Wochen in Ramallah an diesem Projekt gearbeitet und die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Gegner auf dem Feld öffentlicher Darstellung um Längen zu schlagen. Abbas trug sachlich und nüchtern seine Sichtweise des Nahostkonflikts vor und beschrieb ausführlich das Leid und Unrecht, das die Palästinenser durch die "imperialistische israelische Besatzungspolitik" und insbesondere die Siedlungspolitik erlebten. Die palästinensischen Hoffnungen auf einen Frieden seien ein ums andere Mal an der "steinharten Ablehnung" der Gegenseite zerschellt. Der Wunsch der Palästinenser auf Selbstbestimmung sei gerecht, und wer auch nur "den Funken eines Gewissens" in sich trage, könne sich ihrem Wunsch auf Anerkennung ihres Staates nicht länger verschließen. [1]

Es sei nicht möglich, nach all den gescheiterten Anläufen so weiterzumachen wie bisher, argumentierte der 74jährige. Jetzt sei die Zeit für einen palästinensischen Frühling gekommen, rief er in den Saal. Die Palästinenser seien zu sofortigen Verhandlungen bereit, aber nur wenn Israel den Bau von Siedlungen komplett einstelle, da Treffen andernfalls sinnlos seien. Dann leitete Abbas das emotionale Ende seiner Rede ein und sprach von einem Moment der Wahrheit: "Unser Volk wartet auf die Antwort der Welt. Wird sie Israel erlauben, sich über das Recht zu stellen? Wir haben nur ein Ziel: Zu sein. Und wir werden sein." Dann hielt er unter dem donnernden Applaus der meisten Diplomaten, die sich von ihren Sitzen erhoben hatten, eine Kopie des zuvor von ihm eingereichten Antrags auf die Anerkennung Palästinas als Staat und Mitglied des Völkerbundes hoch. "Ich hoffe, dass wir nicht allzu lange warten müssen", schloß Abbas. Es sei an der Zeit, daß das palästinensische Volk seine Freiheit und Unabhängigkeit erlange. [2]

Demgegenüber machte Netanjahu eine schlechte Figur, da er durchweg arrogant und aggressiv wirkte. Als spreche er vor der heimischen Knesset, wo ihn der Rest der Welt nicht im geringsten interessiert, bezeichnete er die UNO-Vollversammlung als "absurdes Theater" und eine "Halle der Finsternis" für sein Land. Er verglich die Vereinten Nationen mit einem "Haus der vielen Lügen" und bezichtigte Abbas, Verhandlungsangebote ignoriert und ausgeschlagen zu haben. Dessen Worte von den Hoffnungen und Träumen der Palästinenser aufgreifend, fügte er höhnisch hinzu: "Hoffnungen und Träume. Und Raketen." Die Palästinenser sollten erst Frieden mit Israel schließen und dann einen eigenen Staat bekommen. Dann unterbreitete er Abbas das absurde Angebot, sich "heute und hier im Gebäude der Vereinten Nationen" zu treffen, als würden Friedensgespräche auf diese Weise geführt. Mit diesem durchsichtigen Manöver erwies sich Netanjahu insofern selbst einen Bärendienst, als damit die Fadenscheinigkeit angeblicher früherer Gesprächsangebote überdeutlich hervortrat.

Netanjahu setzte mithin auf verbale Brachialgewalt und die Standardtaktik, sein Land als Opfer feindseliger und verleumderischer Angriffe der internationalen Staatengemeinschaft darzustellen. Wohl wissend, daß relevante Entscheidungen ausschließlich im Sicherheitsrat gefällt werden, bemühte er sich gar nicht erst um die Sympathien der Vollversammlung, sondern demonstrierte Stärke und kanzelte das Plenum verächtlich ab. Laut UNO-Charta muß zunächst der Generalsekretär, dann der Sicherheitsrat und zuletzt die Vollversammlung über eine Neuaufnahme entscheiden. Im Parlament der 193 Nationen gilt den Palästinensern die Mehrheit als sicher. Sollten sie jedoch im Sicherheitsrat die erforderlichen neun von 15 Stimmen bekommen, wollen die USA mit ihrem Veto eine Aufnahme verhindern. Dem Vernehmen nach will sich der Sicherheitsrat bereits Anfang kommender Woche mit dem Antrag der Palästinenser befassen, was als ungewöhnlich schnell gilt. Dem steht allerdings die Einschätzung gegenüber, daß die Beratungen unter Umständen Monate oder sogar Jahre dauern können. [3]

Unterdessen ist das Nahost-Quartett mit einem Vorschlag auf den Plan getreten, der die Palästinenser ins Leere laufen lassen soll, ohne damit eine Welle massenhaften Aufbegehrens in den besetzten Gebieten zu riskieren. Die Vierergruppe aus Vereinten Nationen, Europäischer Union, USA und Rußland forderte Israel und die Palästinenser auf, eine Verhandlungslösung bis spätestens Ende kommenden Jahres anzustreben. Nach dieser Eingangsverpflichtung sollen binnen drei Monaten umfassende Vorschläge in den Fragen Grenzen und Sicherheit gemacht werden. Nach weiteren sechs Monaten solle es sichtbare Fortschritte geben, die auf einer internationalen Konferenz in Moskau festgeschrieben werden könnten. Zudem wurde als Lockmittel eine Geberkonferenz im kommenden Jahr für die Palästinenser in Aussicht gestellt.

Mit diesem Vorschlag spielt das Nahost-Quartett Israel in die Hände, zumal der Siedlungsbau unvermindert fortgesetzt werden und die Verhandlungen wie so oft in der Vergangenheit verzögert und blockiert werden können, ohne daß die Palästinenser den geringsten Fortschritt zu ihren Gunsten in Händen hielten. Nachdem zuletzt George W. Bush mit dem sogenannten Annapolis-Prozeß eine durchaus vergleichbare Farce inszeniert hatte, erklärte nun US-Außenministerin Hillary Clinton, die USA seien "sehr froh, dass es einen klaren Zeitplan gibt". Auch die Bundesregierung zeigte sich erfreut: "Nun sind Israel und die Palästinenser am Zug, ihre Verpflichtung zu Verhandlungen innerhalb der vereinbarten Fristen schnellstmöglich in die Tat umzusetzen und einen glaubhaften und zielorientierten Prozess zu beginnen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Nun muß sich erweisen, ob Mahmud Abbas, der vor dem Gang vor die Vereinten Nationen Vertrauen und Rückhalt der Palästinenser weitgehend eingebüßt hatte, am Ende doch noch Rückgrat zeigt. Gemessen an seiner Erklärung, ohne Siedlungsstopp seien Verhandlungen illusorisch, müßte er den Vorschlag des Nahost-Quartetts zurückweisen. Allerdings hat sich die palästinensische Delegation Presseberichten zufolge schon vor Tagen zu einem Aufschub der Entscheidung im Sicherheitsrat und der Aufnahme von Friedensgesprächen bereiterklärt. Es ist daher nicht auszuschließen, daß der kurzlebige Glanz des erfolgreichen Medienauftritts erstrahlte, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,788134,00.html

[2] http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/695609/Abbas-wirft-Israel-ethnische-Saeuberung-vor?_vl_backlink=/home/index.do

[3] http://www.zeit.de/news/2011-09/24/konflikte-un-beraten-am-montag-ueber-palaestinenser-antrag-24110010

24. September 2011