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FRIEDEN/1122: Friedensprozeß - Synonym für palästinensische Entmächtigung (SB)




Öffneten sich die Gräber, Gefängnistore, Grenzsperren, Flüchtlingslager und Armenhäuser, um vor den Augen der Welt die Täter anzuklagen, stünden die Deutschen diesmal nicht allein mit der auf Amnesie plädierenden Ausflucht: Wir haben es nicht gewußt! Sollten es eines Tages veränderte Verhältnisse erlauben, die Opferbilanz zu ziehen und offen über die getöteten, vertriebenen, ausgehungerten, gefangengehaltenen, gefolterten und erniedrigten Palästinenser zu sprechen, müßten in Jerusalem ebenso wie in Berlin, Brüssel oder Washington Ströme Wassers vergossen werden, damit sich alle die Hände in Unschuld waschen können. Damit es nicht dazu kommt, gibt die politische Führung Israels der Doktrin ihrer eigenen absoluten Suprematie folgend niemals nach und geht keinerlei Kompromisse ein. Zieht sie die Schraube nicht unablässig enger, muß sie befürchten, die Deutungshoheit und damit ihre schärfste ideologische Waffe zu verlieren.

Zu den klassischen Werkzeugen der Geheimhaltung, Verschleierung und Propaganda, die in gewissem Umfang die Verhältnisse in den besetzten Gebieten und die Lage der Palästinenser in Israel unter dem Radar der Wahrnehmung halten, gesellt sich ein wirkmächtigeres Instrument: Die Okkupation von Sprache und Denken. Wo der vielzitierte Menschenverstand erkennen müßte, wie im Nahostkonflikt Stärke und Schwäche verteilt sind, wo sich Mitleid mit den Unterdrückten und Leidenden regen sollte, wo Parteinahme gegen die Zügellosigkeit der Macht ihr Haupt erheben könnte, beherrschen Ignoranz, Gleichgültigkeit und Bezichtigung das Feld.

Die oder wir, lautet die Überlebensformel, deren Mathematik nur die Existenz zu Lasten anderer kennt. Da niemand mit den Herkünften und Konsequenzen seines eigenen Wohlergehens konfrontiert werden möchte, läßt man der Staatsdoktrin und Regierungspolitik freie Hand, gesellschaftliche Widersprüche zu leugnen, Feindbilder zu schaffen und sprachregulierende Antworten zu geben. Dies schafft jenen symptomatischen Zustand selbstgewählter Umnachtung, der dem nie abhanden gekommenen Wissen um die unablässigen Greuel und Grausamkeiten die Absolution des Gottgewollten, Naturnotwendigen und Legitimen verleiht.

Die Palästinenser sind die Verlierer, mit denen man nichts zu tun haben will, denn wer möchte schon auf der falschen Seite stehen, die zu verorten die instinktivste menschliche Regung ist. Damit das so bleibt, unterwirft man sie einer Schuldknechtschaft, aus der es kein Entkommen gibt. Was immer sie tun oder lassen, vermehrt den Saldo ihrer Bringschuld, erhöht ihre Bestrafung und verlegt das Ende ihrer Gefangenschaft in die Unendlichkeit. Sie sind eben keine Menschen wie wir, diktiert eine Mixtur aus uralten rassistischen und hochmodernen sozialchauvinistischen Bezichtigungsstrategien dem Bürger ins Stammbuch.

Ein menschenwürdiges Leben der Palästinenser setzt eine Friedenslösung im Nahostkonflikt voraus. Daß ein Friedensschluß alles sei, was den Menschen in den besetzten Gebieten zu ihrem Glück fehlt, ist hingegen eine jahrzehntelang praktizierte Doktrin der Delegitimierung palästinensischen Widerstands und Rechtfertigung der Okkupation. In Aussicht gestellte Friedensverhandlungen hängen den Palästinensern seit jeher eine Karotte vor der Nase, mit der man sie hinhält und in jede gewünschte Richtung lenkt. Während man ihnen diktiert, daß Friedensgespräche nur ohne Vorbedingungen möglich seien, geht Israel von nicht verhandelbaren Positionen aus und schafft mit dem Siedlungsbau unablässig Fakten auf dem Boden. Aus israelischer Sicht ist weder ein Abzug aus den besetzten Gebieten, noch die Rückkehr der Flüchtlinge oder die Schaffung eines lebensfähigen und gleichberechtigten palästinensischen Staates verhandelbar. Einzig relevantes Thema ist die Befriedung jeglichen Widerstands gegen das Expansionsstreben Israels.

Als Staatsgebilde ohne Verfassung und definierte Grenzen stellt sich Israel seit seiner Gründung als provisorischer Entwurf dar, der auf Ausweitung angelegt ist und sich die dafür benötigten vollendeten Tatsachen fortwährend selber schafft. Leidtragende sind zwangsläufig die Palästinenser, deren Verdrängung und Vertreibung die Maxime aller israelischen Regierungen ungeachtet deren jeweiliger Zusammensetzung war. Würden Juden in einem gemeinsamen Staat mit den Palästinensern leben, wäre die demographische Entwicklung der zuverlässigste Bündnispartner des arabischen Bevölkerungsteils. Wollte man aber die Zweistaatenlösung realisieren, droht der Bürgerkrieg mit den Siedlern, die das okkupierte Land nicht freiwillig räumen werden. Daher bleibt als strategische Option mit den geringstmöglichen Einbußen eigener Existenzsicherung die unablässige Dezimierung des Palästinenserproblems durch alle erdenklichen Formen militärischer, ökonomischer und administrativer Drangsalierung.

Palästinenser werden systematisch ihres Landbesitzes, ihrer Häuser, ihrer Erwerbsmöglichkeiten, ihrer Freizügigkeit, ihrer politischen und kulturellen Betätigung, ihrer Bildungsmöglichkeiten, einer angemessenen Ernährung und Gesundheitsversorgung und ihres Lebens beraubt. Entsetzliche Massaker wie der Angriff auf den Gazastreifen unterscheiden sich in der Intention nicht von der Hungerblockade. Unterernährung, Krankheit und sinkende Lebenserwartung führen unmittelbar zur Dezimierung der Bevölkerung, wobei die unerträglichen Lebensverhältnisse nicht zuletzt die Heimatverbundenheit brechen und die Abwanderung oder Deportation beschleunigen sollen.

Wie die Geschichte lehrt, ist nicht ein einziges Nahostabkommen der Vergangenheit von israelischer Seite umgesetzt worden. Es handelte sich vielmehr um eine Abfolge von Verhandlungen auf immer niedrigerem Niveau, das den jeweils erzwungenen Status Quo zur Grundlage erklärte und den Palästinensern stets weitere Zugeständnisse abverlangte. Die Strategie unablässiger Erniedrigung, Verelendung, Vernichtung und Vertreibung nimmt ungehindert ihren Lauf. Die politische Führerschaft der USA und Europas gaukelt kritische Distanz zur israelischen Regierung vor, während man beiderseits entschlossen ist, die Palästinenser auf dem Altar gemeinsamer Hegemonialinteressen zu schlachten.

Die Siedlungspolitik konzentriert sich darauf, das Westjordanland endgültig in zwei Teile zu spalten und Ostjerusalem derart einzuschließen, daß ein lebensfähiger Palästinenserstaat mit dieser Hauptstadt schlechterdings unmöglich scheint. Blickt man auf sechs Jahrzehnte Israel zurück, so mutet die aktuelle Situation wie der Triumph aggressiven Dominanzstrebens an, das die Fesseln mit jedem Krieg und jedem gebrochenen Abkommen enger gezogen hat, bis für die Palästinenser kaum noch etwas übriggeblieben ist, das man mit Attributen eines Staates wie Territorium, Sourcen, Infrastruktur und konsistenter politischer Willensbildung in Verbindung bringen würde.

Wenn von jüdischen Siedlungen gesprochen wird, handelt es sich dabei um einen irreführenden Begriff, der an die frühere Kibutzbewegung erinnert und deren Ideologie entlehnt ist. Der Siedlungsmythos von einer umkämpften Existenz bei der Urbarmachung und Bewässerung des Landes, einer handwerklichen und gewerblichen Produktivität und einer Selbstverteidigung kleiner jüdischer Gemeinschaften hat nicht das geringste mit dem Ausbau der Siedlungsblöcke zu tun. Die meisten Neuankömmlinge sind dorthin gezogen, weil die Mieten subventioniert werden und die Infrastruktur ausgezeichnet ist. Man hat Zugang zu fruchtbarem Land, eine gesicherte Wasserversorgung und den Komfort städtischer Einrichtungen.

Ebenso irreführend wie die Bezeichnung "Siedlung" ist die Unterscheidung zwischen offiziellen und inoffiziellen Siedlungen. Nach Artikel 47 der Vierten Genfer Konvention und Artikel 2.4 der UNO-Charta sind all diese Siedlungen illegal, weil sie auf einer völkerrechtswidrigen Annexion nach zuvor erfolgter Gewaltanwendung beruhen. Was immer die israelische Regierung diesbezüglich autorisiert hat, verstößt gegen internationales Recht. Vor diesem Hintergrund erweist sich der ewige Streit um die Frage, welche Siedlungen unantastbar und welche verhandelbar seien, als inszeniertes Scheingefecht, das die unablässige Expansion verschleiern soll.

Da die Bevölkerung in den "Siedlungen" erheblich schneller wächst als im israelischen Kernland, sind der "natürlichen" Ausdehnung keine Grenzen gesetzt. Zusammen mit den jüdischen Bewohnern im ebenfalls illegal besetzten Ostjerusalem zählen die "Siedler" inzwischen weit über eine halbe Million Menschen, die gut zehn Prozent der jüdischen Einwohnerschaft "Großisraels" entsprechen. Auf diese Weise werden in Form einer unausgesetzten Expansion vollendete Tatsachen geschaffen, deren Eindämmung oder gar Umkehrung immer schwieriger, ja beinahe unmöglich erscheint.

Vor diesem Hintergrund mutet der nach knapp dreijährigem Stillstand wieder in Gang gesetzte Friedensprozeß zwangsläufig wie ein abgestandener Aufguß der immer gleichen Farce an. In der Larve des Vermittlers hatte US-Außenminister John Kerry monatelang auf eine Wiederaufnahme der Kontakte gedrängt und vollmundig angekündigt, diesmal sollten alle Kernprobleme wie die Grenzziehung, die Zukunft Jerusalems sowie das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und Sicherheitsgarantien für Israel auf den Tisch kommen. Ziel sei ein Friedensabkommen binnen neun Monaten und ein unabhängiger Palästinenserstaat.

Die Antwort Israels noch vor Beginn der Vorgespräche waren neue Siedlungsprojekte. Das Wohnungsbauministerium kündigte Ausschreibungen für den Bau von knapp 1200 Wohnungen im Westjordanland und Ost-Jerusalem an. Zudem bestätigte die Stadtverwaltung Jerusalems Baupläne für 890 Wohnungen im Gilo-Viertel, das auf 1967 erobertem Gebiet liegt. Kerry spielte diese israelische Machtdemonstration zum Auftakt der Verhandlungen mit der Einlassung herunter, die neuen Pläne stünden dem Wiederbeginn der Gespräche nicht im Weg. Zwar wäre es besser gewesen, den Bau neuer Siedlungen zu vermeiden, doch müßten in der Diskussion eben auch die Gegebenheiten innerhalb Israels berücksichtigt werden, worüber sich Abbas im Klaren sei. [1] Kürzer könnte man die absolute Irrelevanz palästinensischer Interessen in dieser grausamen Posse kaum in Worte fassen.

Fußnote:

[1] http://www.welt.de/politik/ausland/article118994124/Israel-entlaesst-palaestinensische-Haeftlinge.html

16. August 2013