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HEGEMONIE/1557: Gaza als Labor interventionistischer Ordnungspolitik (SB)



Das Timing der israelischen Kriegspolitik ist überaus exakt und kündet von einer durchdachten politischen Regie. Am 4. November, dem Tag der Präsidentschaftswahl in den USA, provozierte die Regierung in Tel Aviv palästinensische Vergeltungsangriffe durch einen militärischen Übergriff, der unter dem Vorwand präventiver Maßnahmen durchgeführt wurde und bei dem sieben Palästinenser starben. Am 27. Dezember, also unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen und zu Beginn einer Phase, in der das Interesse für politische Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften so gering wie in keiner anderen Woche des Jahres ist, begannen die Luftangriffe auf den Gazastreifen. Kurz vor den Inaugurationsfeiern in Washington am 20. Januar beendet Israel seine Offensive ausdrücklich unter Verweis auf das Ende des Interregnums in den USA.

Der Juniorpartner Washingtons im Nahen und Mittleren Osten zeigte damit, daß er die weltweit gefeierte Amtsübernahme durch Barack Obama nicht mit einem Massaker belasten wollte, dessen Grausamkeit Millionen von Menschen zutiefst empört hat. Er demonstriert damit aber auch, daß er durchaus in der Lage ist, dies und mehr zu tun, das heißt maßgeblich Einfluß auf die Außenpolitik der USA nehmen kann. Nachdem sich Obama im Wahlkampf und mit seinen Personalentscheidungen weitgehend auf die traditionell Israel bevorzugende Politik seines Landes festgelegt hat, muß er froh und dankbar sein, daß ihn die Regierung in Tel Aviv nicht zu einer Positionierung genötigt hat, die einem Gesichtsverlust des Hoffnungsträgers in den Augen vieler Menschen gleichgekommen wäre. Sein Schweigen zu den Ereignissen in Gaza hat ihn bereits viel Ansehen gekostet, war sein Vorwand, sich nicht in die Angelegenheiten des amtierenden Präsidenten einmischen zu wollen, doch unglaubwürdig, da er dies bereits mit einer Stellungnahme zu den Anschlägen in Mumbai getan hatte.

Doch was die Betroffenen und die Millionen Menschen in aller Welt, die sich mit ihnen solidarisch gezeigt haben, umtreibt, ist für die Sachwalter der globalen Ordnungspolitik lediglich eine Manöverlage, die ihnen, wenn überhaupt, einige symbolische Gesten der Beschwichtigung abverlangt. Viel entscheidender für die Zukunft ihrer regulativen und interventionistischen Möglichkeiten ist der konkrete strategische Ertrag dieses Kriegs.

Mit ihm konnte die israelische Regierung die Bedingungen der westlichen Politik im Nahen und Mittleren Ostens weitgehend zu ihren Gunsten reformulieren. Da keine Regierung in den USA und der EU den bis dahin gültigen Konsens, mit der Hamas dürfe nicht verhandelt werden, bevor sie nicht umfassende und einseitige Zugeständnisse an Israel machte, im Verlauf der israelischen Angriffe durchbrach und durch die massiven Zerstörungen im Gazastreifen und die humanitäre Katastrophe, unter der seine Bevölkerung leidet, gleichzeitig dringender Handlungsbedarf geschaffen wurde, kann die politische Ausschaltung aller die palästinensische Selbstbestimmung verfolgenden Kräfte nun um so wirksamer in Angriff genommen werden.

Hier schaltet sich die Bundesregierung mit einem mit der EU abgestimmten Fünf-Punkte-Plan für einen stabilen Waffenstillstand im Gazastreifen ein. Während man in Berlin nicht minder als in Washington erleichtert darüber ist, daß der Verbündete Israel das ethische Glaubwürdigkeitskonto nicht noch weiter belastet, als er es mit der exorbitanten Gewaltättigkeit getan hat, mit der die Palästinenser für ihre weitgehend wirkungslos gebliebenen Raketenangriffe abgestraft wurden, nutzt man die Gelegenheit zum Ausbau der interventionistischen Reichweite. Wenn deutsche Spezialisten zur Bekämpfung des Waffenschmuggels von Ägypten in den Gazastreifen und für weitere Grenzsicherungsmaßnahmen eingesetzt werden, dann hat die Bundesrepublik einen Stiefel in der Tür eines der für ihr außenpolitisches Renommee wichtigsten Krisenszenarios überhaupt.

Da die Bundesregierung mit der Notstandsregierung in Ramallah kooperieren und sie zur Verwaltung des Gazastreifens einsetzen will, während die Hamas weiterhin persona non grata bleibt, erweitert sie ihren Status eines politischen Unterstützers Israels durch die Rolle des aktiven Gestalters einer Zukunft der Palästinenser, die unter dieser Maßgabe niemals wirklich selbstbestimmt sein kann. Indem sich EU und Bundesrepublik an der Ghettoisierung des Gazastreifens direkt beteiligen, begünstigen sie bei aller bekundeten Absicht, die Grenzen für die Palästinenser zu öffnen, jede Form von Zwangsmaßnahmen, die auf dem Weg dorthin als notwendig erachtet werden.

Wenn sich die Hamas mit dem ihr aufoktroyierten Machtverlust nicht abfinden wollte, dann ständen die internationalen Kräfte an der Seite Israels im verdeckten oder offenen Kampf mit ihr. Die in den Augen der palästinensischen Bevölkerung weitgehend diskreditierte Notstandsregierung in Ramallah und ein palästinensischer Präsident, dessen Amtszeit offiziell am 9. Januar ausgelaufen ist, können im Rahmen dieses Krisenmanagements niemals eine andere Funktion als die eines Vasallenregimes erfüllen. Druck auf die Hamas auszuüben, um sie auf diese oder jene Weise zu Zugeständnissen zu nötigen, hat bisher nicht funktioniert, weil die islamische Partei nicht als Gesprächspartnerin auf Augenhöhe akzeptiert wurde, und wird daher auch in Zukunft nicht funktionieren.

Dem Gazastreifen steht daher die Zementierung seines desolaten Zustands als internationalisiertes Protektorat bevor, wobei die mit Israel verbündeten Staaten zusehends selbst zu Gewaltakteuren in diesem Konflikt werden. Die Demontage des Ansehens des palästinensischen Präsidenten und seiner Regierung durch deren offene Kollaboration mit dem Angreifer Israel hat tatsächlich dazu geführt, daß das Wort Ariel Sharons, man habe auf palästinensischer Seite keinen Gesprächspartner, auch auf die Führung in Ramallah zutrifft. Das sich daraus ergebende gouvernementale Defizit wird zusehends durch internationale Akteure wie die EU und die USA ausgefüllt werden, was diese in direkte Konflikte mit der palästinensischen Bevölkerung treiben wird.

Die Entwicklung könnte für die israelische Regierung nicht besser laufen. Ihr werden so gut wie keine Zugeständnisse abverlangt, während ein lebensfähiger Staat für die Palästinenser, nachdem sie sich mit der Hamas für die falschen, Israel gegenüber unnachgiebigen Führer entschieden haben, in unerreichbare Ferne rückt. Selbst wenn Deutschland, Frankreich und Britannien den Anschein erwecken, nicht nur als Freunde Israels, sondern auch Partner der Palästinenser aufzutreten, werden die USA Sachzwänge konstruieren, an denen das europäische Krisenmanagement nicht vorbeikommt. Mit der Reorganisation des Großlagers Gaza als internationales Protektorat, das je nach Widerstandsbereitschaft seiner Bevölkerung mehr oder weniger starken Zwangsmaßnahmen unterworfen werden wird, wird eine Matrix der Kontrolle geschaffen, die sich den Palästinensern im Westjordanland ebenso wie anderen Bevölkerungen in den Expansionszonen der EU und USA überstülpen läßt.

Wo die EU im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen die Morgenluft anwachsenden geostrategischen Gewichts wittern, da greifen die USA als führende Ordnungsmacht weit über Palästina hinaus auf Länder wie den Iran, Syrien und Pakistan aus, die sich der westlichen Hegemonie über die Region noch widersetzen. Was Israel an den Palästinensern mit aller Brutalität exemplarisch vorexerziert hat, fungiert als Sinnbild für einen ordungspolitischen Interventionismus, dessen Anspruch in nichts geringerem als dem Erlangen vollständiger Verfügungsgewalt über die Objekte seiner Maßregelung besteht. Gaza kann als Labor für die Manipulierbarkeit und Beherrschbarkeit einer Bevölkerung verstanden werden, die in ihren Lebenserfordernissen vollständig von äußerer Hilfe abhängig ist und deren gewaltsame Zurichtung auf das verlangte Wohlverhalten ebenso aus fremder Hand gewährleistet wird. Die Angriffe auf ihre sozialen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die die Palästinenser immer wieder in einer Totalität erleiden müssen, die ihren Zusammenhalt zutiefst erschüttert, werden von einer neokolonialistischen Ratio bestimmt, die im organisch gewachsenen wie freiwillig beschlossenen Widerstand gegen ihre Suprematie den Kern allen terroristischen Übels verortet. Die territoriale wie ökonomische Kontrolle, die über die Palästinenser ausgeübt wird, ist eben nicht nur Produkt des israelischen Siedlerkolonialismus, sondern auch Experimentierfeld interventionistischer Ordnungspolitik im Zeitalter der Ressourcenverknappung und Mangelverwaltung.

Die fast perfekte Zusammenarbeit der Regierungen in Tel Aviv, Washington und Berlin wird dadurch, daß Israel in dieser Situation die Funktion des Schrittmachers erfüllt, kaum gemindert. In den USA und der EU weiß man sehr genau, was man daran hat, daß Israel Maßstäbe bei der Entwicklung der Aufstandsbekämpfung, der Bevölkerungskontrolle und der Legitimation menschenfeindlicher Akte setzt. Wäre es anders, dann hätte man die offene Flanke, die die israelische Regierung durch den Verstoß gegen zahlreiche Grundsätze des Kriegsvölkerrechts bot, gegen sie verwandt. Indem man dies ebensowenig tat, wie man bisher auf die Einlösung völkerrechtlicher Resolutionen zu Palästina drängte, gewährte man einen Blick auf die Tiefe des Einverständnisses, das unter westlichen Regierungen zum Vorgehen Israels gegen die Palästinenser herrscht.

20. Januar 2009