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HEGEMONIE/1626: NATO-Staat Türkei auf Abwegen ... Erdogan sucht neue Bündnispartner (SB)



Wenig begeistert dürfte man in den Hauptstädten der NATO-Staaten über die jüngsten Wandlungen in der außenpolitischen Positionierung des NATO-Partners Türkei sein. Sie gipfeln derzeit in einem dreitägigen Staatsbesuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Teheran, wo er die rapide Annäherung seines Landes an den Iran mit der Beschuldigung dokumentierte, der Westen beurteile das Verhalten der iranischen Regierung auf ungerechte Weise. Während er selbst über Atomwaffen verfüge und zudem mit Ländern verbündet sei, die sich nicht von der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) kontrollieren ließen, obwohl sie ebenfalls nuklear gerüstet sind, bezichtige er den Iran, atomar aufrüsten zu wollen. Er glaube den Beteuerungen der iranischen Führung, daß ihr Atomprogramm nur friedlichen Zwecken gewidmet sei, so Erdogan, der den iranischen Präsident Mahmud Ahmedinejad zudem als "Freund" bezeichnete (The Guardian, 26.10.2009).

Damit hat Erdogan die bislang guten Beziehungen seines Landes zu Israel einer weiteren Belastungsprobe ausgesetzt. Schwerwiegende Verstimmungen zwischen Ankara und Tel Aviv traten erst vor wenigen Tagen zutage, als die türkische Regierung die israelische Luftwaffe von dem jährlichen Manöver Anatolian Eagle ausschloß. Die Übung wurde letztendlich auf einen ungenannten Zeitpunkt verschoben, weil die USA, die zusammen mit Italien als einzige ausländische Teilnehmer geladen waren, ihre Teilnahme wegen des Ausschlusses Israels aufkündigten. Wiewohl nicht offiziell bestätigt, wird die gegen Israel gerichtete Entscheidung Ankaras als Reaktion auf die Bombardierung Gazas durch die israelische Luftwaffe verstanden.

Eine solche Maßnahme ist ein Novum in den engen sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern, haben die Regierungen in Ankara doch zuvor niemals offiziell versucht, auf eine solche Weise Kritik an der israelischen Besatzungspolitik zu üben. Das seit Mitte der 90er Jahre existierende strategische Bündnis zwischen Israel und der Türkei wurde weder durch die zweite Intifada noch durch die israelische Offensive im Westjordanland 2002 noch durch den Überfall der israelischen Streitkräfte auf den Libanon 2006 ernsthaft in Frage gestellt. Letzteres hatte die AKP-Regierung zwar zu deutlicher Kritik an der israelischen Kriegführung veranlaßt, jedoch keine weitergehenden Folgen gehabt.

Strategisch kommt der Türkei als Brückenkopf der NATO in den Nahen und Mittleren Osten besondere Bedeutung zu. Auch deutsche Außenpolitiker führen den kemalistischen Säkularismus in einem Land mit fast ausschließlich muslimischer Bevölkerung gerne als gelungenes Modell einer Integration des Islam in das westliche Weltordnungskonzept vor. Als südöstlicher Eckpfeiler im Territorium der NATO wird die Türkei insbesondere in Washington als überaus wertvoller Verbündeter hofiert und in ihrem Ansinnen unterstützt, als vollwertiges Mitglied der EU beizutreten.

Mit der Ablehnung dieses Vorhabens durch führende Kräfte in der EU wie den französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel soll vor allem verhindert werden, daß das über 70 Millionen Menschen zählende Land die politische Kräfteverteilung in der EU maßgeblich verändert. Erdogan hat mit seiner Meinung im Interview mit dem Guardian auch zu diesem Thema nicht hinterm Berg gehalten. Das jahrzehntelange Aufschieben des Beitritts der Türkei wäre ungerecht und zeige, daß die EU ihre eigenen Regeln mißachte. Wäre die Türkei in der EU, dann würde sie eine Brücke zu 1,5 Millionen Muslimen bilden, wird ihr der Beitritt unmöglich gemacht, dann werde die EU dadurch schwächer. Im Bewußtsein der großen Bedeutung seines Landes für die EU dürfte es Erdogan durchaus Befriedigung verschafft haben, den führenden EU-Regierungen das Dilemma des Widerspruchs zwischen ihren expansiven Ambitionen und der Sicherung ihrer Führungsposition innerhalb der EU vor Augen zu führen.

Die ablehnende Haltung der EU gegenüber der Türkei hat Erdogan viel von der Rückendeckung verschafft, die er benötigt, um sein außenpolitischen Revirement gegenüber den ihn argwöhnisch beäugenden kemalistischen Eliten in Staat und Gesellschaft zu rechtfertigen. Indem die EU die Türkei brüskiert und die Beziehungen zu ihr auf eine "privilegierte Partnerschaft" festlegen will, hat sie Ankara geradezu herausgefordert, den Beweis anzutreten, daß die Türkei nicht auf Europa angewiesen ist. Da das Vorgehen der türkischen Regierung gegen den "tiefen Staat", einem vom sogenannten Ergenokon-Netzwerk aus nationalkonservativen Kräften im Militär, in den Sicherheitskräften, den Geheimdiensten, der Regierungsbürokratie und der Wirtschaft gebildeten Kampfbündnis, das mit zahlreichen Anschlägen und Morden eine Strategie der Spannung in der Türkei verfolgte, die bislang allmächtigen Generäle geschwächt hat, ist die AKP-Regierung in der Lage, eine strategische Neuorientierung zu vollziehen, die der ersten von einer islamistischen Partei gebildeten Regierung 1997 noch zum Verhängnis wurde. Der damalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan hatte ebenfalls versucht, mit einer Annäherung an den Iran und arabische Staaten das strategische Koordinatensystem der Region zu verändern und wurde daraufhin zur stillschweigenden Genugtuung der NATO-Regierungen gestürzt.

Erdogan hat offensichtlich aus den Fehlern Erbakans gelernt und sichert den Wandel seiner Außenpolitik umfassend ab, indem er sich neue Verbündete sucht. Das Abschließen eines umfangreichen energie- und wasserpolitischen Abkommens mit dem Irak, die spektakuläre Entspannungspolitik gegenüber Armenien, die Verbesserung der Beziehungen zu Griechenland, die engen Kontakte zur syrischen Führung und die vorsichtige Einbindung der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die demokratischen Strukturen der Republik sind Ausdruck eines überlegten Vorgehens, mit dem die Machtstellung der AKP-Regierung innen- wie außenpolitisch konsolidiert werden soll.

Bislang halten sich die Regierungen der NATO-Staaten mit Reaktionen auf die Außenpolitik Erdogans zurück. Man kann jedoch davon ausgehen, daß dessen Schritte in der EU wie den USA mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden, hätte doch das weitere Ausscheren der Türkei aus dem geostrategischen Konzept der NATO erhebliche Auswirkungen auf die Hegemonialpolitik der Militärallianz im Nahen und Mittleren Osten. Das größte Hindernis, das neue Selbstbewußtsein der AKP-Regierung im Sinne der beanspruchten Rolle der Türkei als Schnittstelle zur islamischen Welt zu nutzen, dürfte darin bestehen, dies mit den Interessen Israels in Übereinstimmung zu bringen. Die nun in Israel wie den USA laut werdenden Stimmen, die die im politischen Islam wurzelnde Regierungspartei AKP der grundsätzlichen Feindseligkeit gegenüber dem Westen im allgemeinen und Israel im besonderen bezichtigen, lassen ahnen, daß dieser Konflikt noch einigen Zündstoff enthält.

27. Oktober 2009