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HEGEMONIE/1746: Schlüssel statt Vorschlaghammer - Putins Rußland im Fadenkreuz westlicher Begierde (SB)



Das Unbehagen des Westens angesichts eines Rußlands, das auf Jahre hinaus von Präsident Wladimir Putin geführt wird, hat einen Grund, den man nicht einmal hinter vorgehaltener Hand ausspricht. Das größte Land der Erde mit seinen gewaltigen Rohstoffen wird keine leichte Beute der neoimperialistischen Offensive, die ihre Strategen bei Ende des Kalten Krieges an der Schwelle ungehinderten Zugriffs wähnten. Wohl ist die Sowjetunion zerfallen und Rußland von der NATO eingekreist, doch hat Putin in seinen ersten Präsidentschaften die Auflösung von Staat und Gesellschaft nicht nur gebremst, sondern den Ausverkauf an westliche Konzerninteressen beendet, die politische Macht konsolidiert und insbesondere die Militärs hinter sich versammelt. Dies stellt die weitere Einschnürung und Unterwanderung vor immense Probleme, die sich mit brachialer Gewalt nicht aus dem Weg räumen lassen.

Nachdem das Trommelfeuer westlicher Propaganda, Wladimir Putin sei ein dem Volk verhaßter Despot, der nur durch Repression und Manipulation seinen Machterhalt sichern könne, vom russischen Wählerwillen konterkariert worden ist, löst Ratlosigkeit die Haßtiraden wie verwehende Nebelschwaden auf. Nun ist Expertise gefragt, die man am Tag nach dem Urnengang fast unisono bei Alexander Rahr sucht, der zum Stichwortgeber diverser Medien avanciert. Der Politologe und Osteuropaexperte arbeitet seit 1994 für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und ist Leiter des Berthold Beitz-Zentrums für Rußland, das sich mit Entwicklungen in der Ukraine, Weißrußland und Zentralasien befaßt. Er berät die Bundesregierung, deutsche und internationale Wirtschaftsunternehmen und ist Ehrenprofessor an der Moskauer Diplomatenschule und an der Higher School of Economics in Moskau. [1]

Rahr argumentiert auf der Linie deutscher Wirtschaftsinteressen, die einer engen Zusammenarbeit mit Rußland profitable Perspektiven abgewinnen können. Hinter diesen lauert unausgesprochen das Kalkül, daß man zwar mit den Amerikanern am besten fahre, den eigenen Draht nach Moskau deswegen aber noch lange nicht kappen müsse. So warnt Alexander Rahr den Westen vor dem Fehler, sich zu wenig mit Rußland zu befassen und sich "ständig auf die Reizfigur Putin" zu konzentrieren. Dabei sei dieser doch germanophil und versuche, sich über Deutschland dem Westen anzunähern. Diese Chance müsse ergriffen werden. Man solle aufhören, Rußland zu belehren, und statt dessen auf eine "pragmatische Interessenspolitik" setzen. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit werde unter Putin weiter wachsen, der den Unternehmen die notwendige Stabilität für Geschäfte biete. Auch sei er der einzige gewesen, der sich für den Beitritt Rußlands zur Welthandelsorganisation (WTO) stark gemacht habe. [2]

Fakt sei, daß der 59jährige über Mehrheiten in seinem Land verfüge, da er in seinen ersten Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 die Lebensbedingungen der Menschen stark verbessert habe. Zudem habe er in den letzten zwölf Jahren das neue Rußland wieder aufgerichtet, zu dem andere Länder aufschauen, was ihm beträchtliche Sympathien in der Bevölkerung einbringe. Der "stillen Mehrheit" der Russen sei soziale Gerechtigkeit wichtiger als eine liberale Öffnung, die aus ihrer Sicht in den 1990er Jahren ihre Chance gehabt habe, als sie unter Boris Jelzin mehrere Minister stellte und das Oligarchensystem aufbaute, das zu einer enormen Bereicherung einer Minderheit führte.

Putin sei kein Diktator und Anti-Demokrat, da er sich Wahlen stelle, auch wenn diese teilweise manipuliert würden, erklärt Rahr. Von massiven Wahlfälschungen zu sprechen, wie dies beispielsweise die OSZE getan hat, hält der Politologe für weit übertrieben. Selbst Putins radikalste Gegner räumten ein, daß er bereits im ersten Wahlgang gewonnen hat. Was den Prozentsatz an Fälschungen betreffe, gehe es um maximal acht Prozent der Stimmen, ohne die er dennoch in der ersten Wahlrunde gewonnen hätte. Ohnehin richteten sich die meisten demonstrierenden Bürger seines Erachtens nicht in erster Linie gegen Putin, sie forderten vielmehr politische Teilhabe. Im Westen habe man gesehen, wie die neue Mittelschicht auf die Straße gegangen ist, auf der anderen Seite aber die große Masse der Russen vergessen. Der Mittelstand mache vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung aus und opponiere keineswegs geschlossen gegen Putin. Jene 60 Prozent der Bevölkerung, die ihn wählten, hätten schlechte Erfahrungen in den 1990er Jahren gemacht und wünschten Stabilität. [3]

Was Wladimir Putins künftige Politik betrifft, sieht Rahr zwei Optionen. Der russische Präsident könne sich jenem Flügel zuneigen, der an ein Rußland mit mehr Demokratie, mehr Marktwirtschaft, mehr internationaler Öffnung und an den WTO-Beitritt glaubt. Oder er hält es mit den Konservativen, die eine starke Führung fordern und eine Juniorpartnerschaft mit dem Westen vehement ablehnen. Putin werde wohl versuchen, auf beiden Klavieren zu spielen.

Indem Alexander Rahr die Bezichtigung Putins und die Belehrung der Russen für fehlgeleitet und kontraproduktiv erklärt, verspricht er in nüchterner Manier einen Schlüssel zu schmieden, wo der Vorschlaghammer vergebens gegen die Tore Rußlands geschwungen wird. Was nun einmal nicht aufzusprengen ist, läßt sich doch wohl mit Geschick und Sachverstand aufschließen. "Man kann mit Putin sehr viel machen", schreibt der Osteuropaexperte der hiesigen Politik ins Stammbuch, sich auf die Kernkompetenz der europäischen Führungsmacht Deutschland zu besinnen.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/ausland/tid-25187/russland-experte-rahr-ueber-putins-rede-wladimir-putin-ist-beleidigt-putin-hat-die-sowjetunion-oft-romantisiert_aid_720732.html

[2] http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/2962584/experten-putin-kann-man-sehr-viel-machen.story

[3] http://derstandard.at/1330390353611/Politologe-im-Interview-Putin-war-sich-seines-Sieges-nicht-sicher

5. März 2012