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HEGEMONIE/1754: "Krise als Chance" ... es schlägt die Stunde lodengrüner Herren (SB)




Als Joseph Fischer sich im Mai 2000 öffentlich "Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" machte, nahm er den Faden des bereits in den frühen 1990er Jahren von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers entworfenen Kerneuropagedankens auf und machte dieses Konzept des deutschen Imperialismus auch unter Grünen salonfähig. Gerade erst mit den Weihen der tatkräftigen Beteiligung am Zustandekommen des ersten Angriffskriegs nach dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden geadelt, erhob er Deutschland und Frankreich zu einem "Gravitationszentrum" der europäischen Integration. Diese "Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen" [1] müsse, verfügt 2012 über eine Machtfülle unter den 27 Mitgliedstaaten der EU, die zu einem Gutteil der währungspolitischen Integration nach Maßgabe der von der Bundesrepublik vorgegebenen Stabilitätskriterien des Euro geschuldet ist. Die feste Anbindung der anderen Staaten der Eurozone an den hochproduktiven Wirtschaftsraum Deutschland und die dort unter anderem mit Hartz IV durchgesetzte Politik der Lohnzurückhaltung oktroyiert diesen auf, die nicht mehr mögliche Abwertung ihrer Landeswährung angeblich zugunsten ihrer Konkurrenzfähigkeit durch die Senkung der Sozialkosten zu kompensieren.

Die Ausbeutung des Produktivitätsgefälles innerhalb der EU durch die kapitalkräftigeren Staaten wurde erst möglich durch einen Integrationsschritt, der durch die Freisetzung ökonomischer Sachzwänge zur zentralen Triebkraft der europäischen Einigung ausgebaut werden sollte. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel proklamierte Identität von Euro und Europa hat die Bundesrepublik nicht nur ökonomisch zum Krisengewinner gemacht, sie hat auch die Hegemonie der Berliner Republik in den politischen Entscheidungsgremien zementiert. Wenn Joseph Fischer nun in der Süddeutschen Zeitung die "Krise als Reformbeschleuniger" [2] feiert, wendet er die von dem neoliberalen Ökonomen Joseph Schumpeter geprägte und von neokonservativen Geostrategen auf die militärische Wandlungskraft des Shock and Awe übersetzte Doktrin der "kreativen Zerstörung" auf den neoliberalen Strukturwandel der europäischen Gesellschaften an. Es ist kein Zufall, wenn Fischer eingangs das Wort vom "Krieg als Vater aller Dinge" zitiert, um die Krise in den Stand eines Transformationsmotors zu erheben, der zumindest in seinen Augen wahre Wunder wirken kann.

Der Grünenpolitiker verschwendet in seinem Beitrag keinen Gedanken an die menschlichen Kosten dieses Wandels, sondern bewegt sich ausschließlich im Geviert einer Herrschaftsdoktrin, der die Bevölkerungen Manövriermasse höherer Interessen sind. Dabei nimmt Fischer von vornherein den Standpunkt des Supervisors ein, der das Gewicht der deutschen Führungsmacht nicht nur zu Gunsten dort angesiedelter Nationalinteressen, sondern vor allem eines machtvollen Auftretens der EU in der globalen Konkurrenz einsetzen will. Er stößt damit in das gleiche Horn wie sein Genosse aus Frankfurter Tagen, Daniel Cohn-Bendit. Dieser wirbt zusammen mit dem ehemaligen belgischen Premierminister Guy Verhofstadt unter dem Titel des von ihnen verfaßten Manifestes "Für Europa!" für einen föderalen Bundesstaat, der in der Summe seiner zu einem Pendant der Vereinigten Staaten von Amerika vereinigten Mitgliedstaaten künftig mit politischen, ökonomischen wie militärischen Mitteln seinen Platz in der Welt zu behaupten vermag.

Der Weg dorthin wird für Fischer markiert durch die Stationen "Bankenunion, Fiskalunion, politische Union", also die Ausbildung eines Europas des Kapitals, das nicht etwa der eigenen Wertschöpfung, sondern der staatlichen Alimentation seiner Bürger enge Zügel anlegen soll. Das betriebswirtschaftliche Kalkül, die Renditeziele der "Märkte" zu erfüllen, wird an keiner Stelle in Frage gestellt, sondern durch den Ausblick auf ein ordnungspolitisches Instrumentarium bekräftigt, das die Zahlungsfähigkeit der Staaten und Finanzagenturen zugunsten eines global konkurrenzfähigen Wirtschaftswachstums über alles stellt. Da dieser Kurs aus gutem Grund auf den Widerstand der europäischen Bevölkerungen stößt, die ihre ohnehin geringen Einspruchsmöglichkeiten zusehends in der dünnen Luft ferner Kommandohöhen entschwinden sehen, konstatiert Fischer trocken:

"Vertragsänderungen mit allen 27 (oder mit Kroatien 28) Staaten wird es nicht geben können, nicht nur wegen Großbritannien, sondern auch wegen der dann fälligen Referenden in zahlreichen Mitgliedstaaten. Diese würden gewiss zur Abrechnung mit der Krisenpolitik der nationalen Regierungen werden, und dies wird keine Regierung wollen, solange sie noch bei Verstand ist. Für längere Zeit wird es also nur mit der Hilfsbrücke zwischenstaatlicher Verträge gehen - die Euro-Gruppe wird sich in Richtung eines intergouvernementalen Föderalismus entwickeln. Das wird spannend, denn es werden sich dabei völlig ungeahnte Möglichkeiten für die politische Integration bieten." [2]

"Durchregieren" nennt Angela Merkel das autoritäre Übergehen demokratischer Interventionsmöglichkeiten, und auch Fischer läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Stunde der Entscheider und nicht der Bedenkenträger geschlagen hat. Die von ihm angekündigte Ausdifferenzierung der EU-europäischen Integrationspolitik setzt gerade diejenigen Gewalten zwischen Staaten frei, die im Antritt der sogenannten Wertegemeinschaft EU durch egalitäre und demokratische Entscheidungsstrukturen nivelliert werden sollten. Was gerne auch als "Europa der zwei Geschwindigkeiten" oder in anderer Form als entwicklungs- und einflußhierarchische Variante der europäischen Einigung vorgeschlagen wird, reproduziert stets die imperiale Topographie eines hochproduktiven Zentrums privilegierter Metropolengesellschaften, deren Entwicklungsvorsprung durch die Abschöpfung kostengünstiger Arbeit und Ressourcen in den Peripherien eher ausgebaut denn eingeebnet wird. Manifest wird die seit langem bekannte Konsequenz eines marktwirtschaftlichen Wachstumsprimats, das in seinem Anspruch auf weltweite Marktdominanz und globaladministrative Hegemonie niemals das von Linken erträumte Europa sozialer Gerechtigkeit und Solidarität hervorbringen könnte.

Fischers naturwüchsiger Staatendarwinismus hat in einer Eurozone, die unter Kuratel Deutschlands steht, bereits Gestalt angenommen. Die in seinem Beitrag geschilderte krisenbedingte Aussetzung vertraglicher Grundlagen wie das Bail-out- Verbot oder das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB hat für ihn durchaus Vorbildcharakter, wenn sie zugunsten der Konsolidierung exekutiver Macht auf der nächsthöheren Ordnungsebene erfolgt. Die Krise als Chance in seinem staatsautoritären Sinne zu nutzen heißt Sachzwänge stark zu machen, die niemals in der Not verelendeter Bevölkerungen begründet sind, sondern sich ausschließlich der Logik des Kapitals unterwerfen. Angetrieben durch die notwendige Unterwerfung von Menschen, die in ihrer Not immer verzweifelter gegen die ihnen als angeblich alternativlos präsentierten Reproduktionsbedingungen ankämpfen, soll eine institutionelle Entdemokratisierung erfolgen, bei der die Entscheidungsebene der Staats- und Regierungschefs wieder in den Mittelpunkt rückt und die Aufgaben der nationalen Parlamente an "eine Art 'Euro-Kammer'" delegiert werden.

Wichtige Politiker der Gründergeneration der Grünen wie Joseph Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Trittin propagieren den Mythos eines antinationalen Europas, das den Nationalismus der Standortkonkurrenz und imperialistischen Kriegführung auf höherer Ebene neu artikuliert, um den herrschenden Klassenantagonismus noch unüberwindlicher zu machen. Die lodengrüne Bourgeoisie hat lange genug am Tisch der Mächtigen gesessen, als daß sie nicht den dort kreisenden Zynismus als Rauschmittel der Wahl in vollen Zügen genießen wollte. Mit der Verachtung des bloßen Anspruchs auf demokratische Willensbildung wird die Fassade des schönen Scheins einer Wertekonsistenz perforiert, durch die die Konturen einer etatistischen Verwaltung des Mangels zur kannibalistischen Verwertung verbliebener Ressourcen der Kapitalakkumulation ihre Schatten vorauswerfen.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/reden/europapolitik/200106_20000512_fischer/komplettansicht

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/neue-politik-in-der-eu-krise-als-reformbeschleuniger-1.1486319