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HEGEMONIE/1758: Erfolgsmodell Hartz IV - Autoritäres Krisenmanagement für Europa (SB)




Am deutschen Unwesen soll Europa genesen, ist die Ansicht des bayrischen Finanzministers Markus Söder. Im Deutschlandfunk [1] traf er die Feststellung, um in der EU Wachstum zu erzeugen und gleichzeitig die krisenhaft entgleisten Staatshaushalte zu konsolidieren, reiche es nicht aus, "Konjunkturprogramme auf Pump" aufzulegen. Diese würden letztendlich verpuffen und zu einer höheren Belastung der Wirtschaft führen, wenn Länder wie Frankreich nicht endlich Sozialreformen nach Vorbild der Agenda 2010 durchführten. Für den westlichen Nachbarn wie für alle anderen EU-Staaten gelte, daß die "mangelnde Flexibilität am Arbeitsmarkt", zum Teil auch "die schlechte Entwicklung der Bürokratie" wie die Reform der sozialen Sicherungssysteme schuld daran wären, daß die Staaten kein wettbewerbswirksames Wirtschaftswachstum erzeugten.

Bekam die griechische Bevölkerung die unverblümte Verachtung der angeblich so viel fleißigeren Deutschen zu spüren, so ereilt nun auch Frankreich der Vorwurf, dem Schlendrian eines ganz und gar nicht marktkompatiblen Laissez-faire zu huldigen. Wo die Lohnforderungen der Arbeiter zu hoch sind und die Disziplinierung der Erwerbslosen zu lax gehandhabt wird, soll mit harter Hand durchregiert werden. Das leuchtende Vorbild einer Bundesrepublik, in der das ärmste Zehntel der Bevölkerung in den Jahren von 2000 bis 2008 eine Einkommenssenkung von 9 Prozent in Kauf nehmen mußte, während das reichste Zehntel einen Einkommenszuwachs von 15 Prozent verbuchen konnte, in der die Bruttoeinkommen aller abhängig Beschäftigten zwischen 2000 und 2010 real um 4 Prozent gesunken sind, soll auch dort, wo die Armutsentwicklung noch nicht so drastisch verläuft wie in den krisengeschüttelten Mittelmeeranrainern, Schule machen.

Dabei ist die angebliche Schokoladenseite der neoliberalen Gesellschaftsdoktrin längst in der Hitze einer Kapitalakkumulation geschmolzen, die immer mehr in die Beutel derjenigen schneidet, die nicht anders können, als sich den Bedingungen der zusehends staatsautoritär verfügten Arbeitsgesellschaft zu beugen. Es bedarf der hohlen Phrase von der sich angeblich lohnenden Leistung und der Verheißung des durch Fleiß und Wissen ermöglichten sozialen Aufstiegs nicht mehr, wenn die Furcht vor einer harten Landung auf dem Felsboden materieller Entbehrungen wie ein Damoklesschwert über der noch in Lohnarbeit stehenden Bevölkerung schwebt. Wo das Geschäftsrisiko der Kapitaleigner auf die große Mehrheit der Menschen, die sich sorgen muß, Arbeitseinkommen und Sozialtransfers über den ganzen Monat zu strecken, umgeschlagen wird, da verlegen sich die Betroffenen darauf, das Schlimmste abzuwettern, anstatt das Haupt zu erheben und dafür mit dem Entzug letzter Lebensmöglichkeiten gestraft zu werden.

Söder empfiehlt den Export der Agenda 2010 nicht nur, weil die Senkung von Löhnen und Sozialleistungen die Verwertungsbedingungen des Kapitals verbessert. Der Verweis auf angeblich kontraproduktive Konjunkturprogramme und die Ratschläge in Richtung einer französischen Gesellschaft, die traditionell über eine kampfstarke Arbeiterklasse verfügt, belegt, daß die zentrale Stoßrichtung der Maßnahme auf die Überwindung jedes Widerstands zielt, der sich der kapitalkonformen Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft entgegenstellt. Was den duldsamen bis unterwürfigen Bundesbürgern gerade auch von einer Sozialdemokratie, die den Wert der Arbeit weit über ihre ökonomische Rechenbarkeit hinaus in zivilreligiöse Sphären treibt, indem sie die Unterwerfung unter die Mehrwertproduktion zum sinnstiftenden und existenzberechtigenden Kernstück gesellschaftlichen Daseins erhebt, mit doktrinärer Gewalt und schuldgetriebener Moral in die Köpfe und Herzen getrieben wird, soll anderen Europäern endlich eine Lehre sein, die sie nie wieder vergessen.

Um ihnen die letzten sozialistischen und sozialrevolutionären Flausen auszutreiben, bedarf es einer Schocktherapie, deren unumkehrbare Resultate den Menschen erst klar werden, wenn es zu spät ist. Die Atomisierung des Menschen zum nach oben ohnmächtigen, von Angst ums tägliche Überleben getriebenen und dem anderen den Rest verbliebener Lebenschancen um so heftiger abjagenden Subjekt der Konkurrenzgesellschaft ist das innere Ziel dieses Betriebssystems für einen Kapitalismus, der die Totalisierung staatlicher Verfügungsgewalt um so wirksamer betreibt, als er Staatsferne vorschützt.

Die mit der Agenda 2010 in Gang gesetzte Subjektivierung gesellschaftlicher Widersprüche, die Rückbindung aller sozialen und demokratischen Ansprüche auf die angebliche Schuld, die der einzelne in eigenverantwortlich zu vollziehender Unterwerfung unter die an ihn gestellten Forderungen gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen abzutragen hat, ist nicht nur ein probates Mittel der sozialen Unterdrückung. Sie soll vergessen machen, daß menschliche Erkenntnis und historischer Fortschritt stets ein Ergebnis widerständigen Handelns und sozialer Kämpfe waren. Sie soll die Erinnerung daran löschen, daß die Abstraktion materieller Gewaltverhältnisse im zur Regel gewordenen Ausnahmezustand krisenlegitimierter Staatsintervention schlimmste Folgen der Versklavung und Vernichtung zeitigen kann. Wenn durch teutonischen Furor leidgeprüfte Franzosen aufgefordert werden, endlich letzte Bastionen des Eigensinns und der Autonomie zu schleifen, um dem imperialen Entwurf einer weltweit aggressiv auftretenden EU den Weg zu ebnen, dann bleibt zu hoffen, daß ihr Widerspruch nicht ausbleibt. Auf jeden Fall ist die drohende Ausweitung des Hartz-IV-Regimes auf EU-europäische Verhältnisse dazu angetan, den Glauben daran, daß die Europäische Union auf humanistische und sozialistische Weise reformiert werden könnte, nachhaltig zu erschüttern.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2041783/



15. März 2013