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HEGEMONIE/1777: Soziale Not im Schatten der Herausforderung Rußlands (SB)




Die Behauptungen westlicher Regierungen und Medien, die Auseinandersetzungen in der Ostukraine seien auf die Unterwanderung der Region durch russische Soldaten zurückzuführen, liegen auf der Linie des ungebrochenen Versuchs, den eigenen hegemonialen Einfluß in der Region, und sei es zum Preis eines Bürgerkrieges, durchzusetzen. Dabei wird immer deutlicher, daß das finale Ziel der Ostexpansion der NATO-Staaten in der Ausschaltung der Russischen Föderation als eurasische Hegemonialmacht besteht. Diese Absicht wird seit dem Ende der Sowjetunion auf sicherheits- wie handelspolitischen Wegen verfolgt, wobei die Methoden zwischen vereinnahmender Annäherung und provokativer Herausforderung oszillieren. Als der Veteran der US-amerikanischen Ostpolitik und Vater der Containment-Politik Washingtons, der damals 93 Jahre alte George F. Kennan, 1997 in der New York Times seiner Besorgnis über diesen konfrontativen Kurs Ausdruck verlieh, unterschätzte der vom Architekten des Kalten Krieges zu dessen Kritiker gewandelte Diplomat die Kontinuität des aggressiven Expansionismus der NATO-Staaten.

Die NATO-Osterweiterung bezeichnete er als verhängnisvollste Entscheidung Washingtons in der gesamten Ära nach Ende des Kalten Krieges, sei es doch "besonders unglücklich, Rußland mit einer solchen Herausforderung just zu einem Zeitpunkt zu belasten, an dem sich seine Staatsmacht in einem höchst unsicheren, fast gelähmten Zustand befindet. Die Entscheidung ist doppelt unglücklich, da für sie überhaupt keine Notwendigkeit besteht." Andersherum wird ein Schuh daraus. Die Schwäche des Gegners lädt zu seiner unumkehrbaren Unterwerfung ein. Das Ende des Kalten Krieges hat zwar den ideologischen Primat der Blockkonfrontation obsolet gemacht, aber der Staatenkonkurrenz des zu dieser Zeit weltweit hegemonial werdenden Neoliberalismus erst recht die Sporen gegeben.

Warum war mit dem Ende der Sowjetunion und dem damit siegreich beendeten Kampf gegen die realsozialistische Staatenwelt keine friedliche Koexistenz zwischen der NATO und dem Nachfolgestaat der Sowjetunion möglich, hatte dieser doch alle Ambitionen aufgegeben, ein anderes Gesellschaftsmodell als das der kapitalistischen Marktwirtschaft zu etablieren? Weil dessen Streben nach umfassender Verfügungsgewalt über Arbeit und Ressourcen keine andere Konsequenz als die der imperialistischen Unterwerfung der noch nicht dem Kommando der technologisch, militärisch und administrativ am höchsten entwickelten Staaten zuließ. Wäre es anders, dann hätte die 1991 in Aussicht gestellte "Friedensdividende" jene multipolare, nach den Regeln der UN-Charta befriedete Welt hervorgebracht, von der nur träumen konnte, wer die Tatsache unterschlug, daß der Frieden der Paläste den Krieg gegen die Hütten voraussetzt.

Der mit dem Ende eines Staatenblocks, in dem die soziale Frage nicht radikal genug gestellt wurde, um das planwirtschaftliche Surrogat kapitalistischer Marktwirtschaft in eine nicht mehr durch Arbeitszwang und Tauschwert entfremdete Gesellschaft münden zu lassen, freigesetzte Expansionsraum hätte den von Gesellschafts- und Wirtschaftskrisen bedrängten NATO-Staaten nicht gelegener kommen können. Indem fast mit einem Schlag ein Drittel der globalen Arbeitskraft in die Mehrwertproduktion einbezogen werden konnte, große Mengen Investivkapitals absorbiert und ein Nachfrageschub für die hochproduktive Güterproduktion des Westens ausgelöst wurden, nahm die kapitalistische Globalisierung auf den Trümmern der sozialistischen Gesellschaften erst richtig Fahrt auf. Die dort unter Regie westlicher Finanzberater durchgeführten Radikalreformen setzten die Privatisierung des vormaligen Volkseigentums so zügig durch, daß Überlegungen zu einem alternativen Gesellschaftsmodell gar nicht erst Fuß fassen konnten, und brachten jene Oligarchie hervor, die als Signatur der neuen Klassengesellschaften Osteuropas zugleich neofeudale Unterwerfung und staatlichen Zerfall repräsentieren.

Gelang es in der Russischen Föderation unter deren zweitem Präsidenten Vladimir Putin, den Griff der Oligarchen nach politischen Schlüsselfunktionen durch ihre Einbindung in die "Vertikale der Macht" weitgehend zu neutralisieren, was auch den über sie vermittelten Einfluß westlicher Investoren bis hinein in den Kreml zurückdrängte, so ist die Ukraine über die strategischen Netzwerke der Oligarchie bis heute politisch manipulierbar. Richteten sich die Proteste auf dem Maidan anfangs gegen die von diesen Akteuren ausgehende soziale Unterdrückung, so wurde diese Stoßrichtung durch den nationalistischen Charakter des Aufstands und die führende Rolle neofaschistischer Milizen bei seiner Durchsetzung quasi in ihr Gegenteil verkehrt. Die in Händen der Oligarchen liegende Verfügungsgewalt über große Teile der Lohnarbeit des Landes ist im Bündnis mit der Übergangsregierung zu einem politischen Faktor bei der Auseinandersetzung um den künftigen Kurs der Ukraine geworden, der den EU-europäischen Unterstützern der Maidan-Bewegung direkt in die Hände spielt.

Um das Assoziierungsabkommen gegen die begründeten Einwände der Regierung Janukowitsch doch noch durchzusetzen, war ihre Ablösung durch eine neue Regierung unumgänglich geworden. Indem die US-Regierung die Militanz des Aufstandes anheizte und dazu die reaktionärsten Kräfte auf dem Maidan einspannte, verwies sie die Bundesregierung auf den Platz eines Akteurs von beschränkter Handlungsfähigkeit. In Berlin ist man nun um so mehr bemüßigt, gegen den russischen Einfluß auf die Ostukraine zu polemisieren, obwohl eine Konfrontation mit Rußland nicht im Interesse wichtiger Fraktionen des deutschen Kapitals ist.

Hätte eine soziale Revolution und kein bunter Regimewechsel stattgefunden, dann stände die Macht der Oligarchen und nicht der Anschluß des Ostens an Rußland im Mittelpunkt des Aktivismus. Daß sich diejenigen Gruppen der ukrainischen Bevölkerung, die von der Unterwerfung der Ukraine unter die Sparpolitik der EU und des IWF nichts als Nachteile zu erwarten haben, Rückendeckung bei der russischen Regierung verschaffen, ist das Ergebnis der machtpolitischen Instrumentalisierung eines Sozialkampfes, für den es auch im wohlhabenderen Osten des Landes Gründe gibt. Die soziale Frage wird durch das Bündnis der eigenen Bourgeoisie mit den Gläubigern, die die Finanzierung der Ukraine zum Hebel des neoliberalen Strukturwandels machen, und dem Machtanspruch der militanten Rechten neu gestellt. Beantwortet wird sie von den Machthabern in Kiew im Jargon des Terrorkriegs, was als repressive Konsequenz sozialer Unterdrückung lange Tradition hat. So folgt der nun aufkommende russische Nationalismus seinem auf dem Maidan zelebrierten ukrainischen Pendant auf dem Fuß, ohne allerdings in die Suprematie eines Neofaschismus zu verfallen, der keine andere Wahrheit als den eigenen Rassismus neben sich gelten läßt.

Was die Regierungen der NATO-Staaten heute als illegitime russische Einflußnahme auf die Ukraine beklagen, ist das Passepartout des eigenen Schritts, die Aufkündigung der geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch Präsident Janukowitsch zum Anlaß seines Sturzes zu nehmen. Die Auftritte westlicher Politiker auf dem Maidan, die fast ungeteilte Unterstützung des Aufstands in den Leitmedien der NATO-Staaten und die Nötigung der Übergangsregierung, zwecks Gewähr eines umfangreichen IWF-Kredits umfassende Strukturreformen vorzunehmen [1], weisen die Handschrift einer Hegemonialpolitik auf, deren imperialistischer Charakter seit zwei Jahrzehnten gut dokumentiert ist. Obwohl die schlimmste aller möglichen Folgen, ein Krieg zwischen Rußland und der NATO, am Horizont aufscheint, insistieren die westlichen Regierungen auf einem Rechtsstandpunkt, den die eigenen Eroberungszüge von Jugoslawien über den Irak bis nach Libyen Lügen strafen.

Hierzulande regt sich derweil kaum Protest gegen diese Politik, läuft jeder Versuch, die Eskalationslogik der NATO anzuprangern, doch Gefahr, als Parteinahme für "Putin" gebrandmarkt zu werden. Die systematische Dämonisierung seiner Person und deren Überfrachtung als monokausaler Anlaß für die Brisanz der Lage belegt den irrationalen Charakter seiner Bezichtigung. Die darüber verfolgte Politik ist eindeutig an Interessen orientiert, und das sind kaum die der EU-europäischen Bevölkerungen. Sie laufen Gefahr, zum Spielball der gewaltsamen Erzwingung eines Schulterschlusses zwischen EU und USA zu werden, der in Gestalt des geplanten Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) alle noch nicht verwertbar gemachten sozialen und kulturellen Ressourcen marktradikal transformieren soll.

So erschließt sich die Eskalationslogik der NATO-Staaten nicht nur im Griff nach einem ökonomischen Expansionsraum, der mit vergleichslos billiger Arbeitskraft, einem Absatzmarkt von über 40 Millionen Menschen und einer nach Maßgabe EU-europäischer Standards unproduktiven Landwirtschaft unter den Bedingungen des EU-Assoziierungsabkommens hervorragende Investitionschancen böte. Der Konflikt mit Rußland verbessert auch die Voraussetzungen einer engeren, das gegebene Konkurrenzverhältnis zurückstellenden Zusammenarbeit zwischen EU und USA. Da das TTIP als Instrument der Staatenkonkurrenz konzipiert ist und damit stets zu Lasten Dritter gehen wird, können sich die Umstände seiner Durchsetzung mit der Errichtung einer neuen Front gegen die Russische Föderation und im zweiten Zug gegen China nur verbessern. Der dadurch ausgelöste Liberalisierungsschub zeichnet sich in der Energiepolitik bereits ab und könnte den Widerstand gegen Fracking, Genfood, Hormonfleisch, die Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge und individueller Sozialleistungen als auch eine ausschließlich am Gewinn orientierte Kulturindustrie wirksam einebnen.

In der Krise des Kapitals ein nicht auf massiver Ausweitung der Schulden basierendes Wachstum zu ermöglichen und produktive Investitionen zu tätigen, anstatt fiktives Kapital zu akkumulieren, setzte dessen Entwertung im Sinne eines umfassenden Schuldenschnitts voraus. Da dies unter allen Umständen vermieden werden soll, wirkt sich die politische Macht der Gläubiger, die durch die staatliche Übernahme privatwirtschaftlich aufgelaufener Schulden konstituiert wurde, als massive Entwertung der Arbeit und fortgesetzte Kapitalisierung der Kosten gesellschaftlicher Reproduktion in den Händen der Aktionäre, Immobilienbesitzer und Grundeigentümer aus. Eine Gesellschaft wie die der Ukraine, in der die Entwicklung der Produktivität noch viel Raum nach oben hat, wird nicht, wie versprochen, insgesamt reicher, sondern als Exerzierfeld hocheffizienter Verwertungsstrategien einer sozialen Zertrümmerung ausgesetzt, die im Aufkommen neofaschistischer Ideologie den Schatten der Atomisierung in frei verfügbare Partikel des Arbeitsregimes vorauswirft. So wurde schon bei den Verhandlungen zum EU-Assoziierungsabkommen eingestanden, daß der Bevölkerung des Landes eine Durststrecke bevorsteht [2], deren perspektivische Beendigung durch eine Steigerung des Lebensstandards auf westliches Niveau durch den forcierten Staatszerfall nicht eben wahrscheinlicher geworden ist.

Eher geschwiegen wird hierzulande darüber, daß die Einspeisung billigster Arbeitskraft in die EU-europäische Wertschöpfung auch die Ansprüche der Lohnarbeiterklasse in den westeuropäischen Metropolen beschneiden und auf ein nur geringfügig oberhalb der Armutsschwelle gelegenes Niveau zurückführen soll. An die Stelle der Entwertung des im Verhältnis zu seiner Fundierung in produktiver Arbeit überakkumulierten Kapitals, die schon aufgrund der strategischen Bedeutung der Reservewährungen Dollar und Euro für die USA und EU entfallen muß, tritt die Verarmung der Menschen. Die systematische Produktion sozialen Elends verschärft die Konkurrenz der Marktsubjekte, um ihnen das Leben so teuer zu machen, daß sie es auf billigste Weise veräußern. Mit seiner geldförmigen Erwirtschaftung ohnehin auf ihnen fremde, die eigenen Wünsche und Hoffnungen widerlegende Zwecke festgelegt, werden sie einer Not ausgesetzt, die den Zwang zur Arbeit unter welchen Bedingungen auch immer im Wortsinne verkörpert.

Mit der symbolpolitischen Reduktion des Kampfes um die Ukraine auf seine führenden Akteure und dem nationalistischen Surrogat seiner politökonomischen Beweggründe soll den Bevölkerungen der NATO-Staaten nicht minder als denen Rußlands und der Ukraine die Möglichkeit genommen werden, sich der Unterwerfung unter die Herrschaft neofeudaler Eliten entgegenzustellen. Daß sich dieser Widerstand an erster Stelle gegen die aggressivsten Akteure - die Funktions- und Machteliten der NATO-Staaten - richtet, ist nicht mit der unbedingten Parteinahme für Rußland gleichzusetzen. Da dessen Schwierigkeiten, diese Auseinandersetzung durchzustehen, weit größer sind, als der offensive Umgang des Kreml mit dieser strategischen Herausforderung erscheinen läßt, richtet sich der Imperialismus der NATO-Staaten nicht nur gegen die ukrainische, sondern auch die russische Bevölkerung. Ad hoc zu meinen, weder mit der einen noch der anderen zu tun zu haben, ist nur möglich, wenn die Abhängigkeit des eigenen Lebens durch die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Reproduktion wider besseren Wissens ignoriert wird.


Fußnoten:

[1] HEGEMONIE/1776: Vergiftete Beute Ukraine - Zwangsvollstreckung durch EU und IWF (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1776.html

[2] HEGEMONIE/1773: Beute Ukraine - Die Saat der Eskalation geht auf (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1773.html

15. April 2014