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HEGEMONIE/1804: Gordischer Knoten Syrien - Deutsche Phantasien vom Schwertstreich? (SB)



Hat die internationale Gemeinschaft im Falle des Syrienkonflikts versagt, wie allenthalben beklagt wird? Auf dem syrischen Schlachtfeld haben sich Groß- und Regionalmächte samt einer Heerschar von ihnen alimentierter Milizen ineinander verbissen, massakrieren die Bevölkerung und verwüsten das Land, ohne daß ein Ende der Greuel in Sicht wäre. So naheliegend der beschwörende Ruf nach einer übergeordneten Ratio und Handlungsgewalt anmuten mag, die den lösenden Schwertstreich durch den gordischen Knoten führen könnte, unterschlägt er doch die grundsätzliche Klärung der Frage, was es mit der vielzitierten Staatengemeinschaft auf sich hat. Wer von einer Weltregierung fabuliert, darf von deren Gewaltmonopol nicht schweigen, ohne das sie ein Papiertiger bliebe. Die Warnung vor einem unipolaren globalen Regime kommt daher nicht von ungefähr, wäre dies doch die Ausgeburt finsterster Alpträume in Gestalt einer zur Unumkehrbarkeit geronnenen Herrschaftsform.

Mit dem UN-Sicherheitsrat als einzig relevantem Zirkel überstaatlicher Regulation haben die dominierenden Atommächte im Kalten Krieg eine Konstruktion zur tendentiellen Austarierung ihrer Widersprüche installiert, die der übergreifenden Zerstörungsgewalt ihrer Kernwaffen Rechnung trägt. Seit dem proklamierten Sieg der westlichen Mächte im Kampf der Systeme findet jedoch eine unablässige Verschiebung der Einflußsphären zu Lasten Rußlands und Chinas statt, die immer enger eingekreist werden. Dieser Vormarsch ist in der Ukraine und in Syrien ins Stocken geraten, weil Moskau die vollständige Einkesselung nicht länger hinnimmt und ihr einen Riegel vorzuschieben versucht. Die drohende unmittelbare Konfrontation der Großmächte hat zugleich einen Hexenkessel von Stellvertreterkriegen entfacht, in dem Regionalmächte mitmischen, um im Zuge der Zerschlagung und möglichen Neuordnung dieser Sphäre ihre Interessen durchzusetzen.

Aus der Perspektive deutschen Führungsanspruchs in Europa ließ sich die ökonomische, politische und militärische Vormarsch auf dem Balkan und in Osteuropa ausgezeichnet an, solange das Wirtschaftssystem und die Expansion noch nicht an ihre Grenzen gestoßen waren. Heute spricht man von einer multiplen Krise, und in dieser Gemengelage wachsender Angst, Unsicherheit und Verwirrung lautet die Ultima ratio deutscher Regierungspolitik und ihrer wissentlichen oder vermeintlich opponierenden Zuträger in allen Bereichen der Gesellschaft, daß man aufrüsten und innen wie außen Stärke zeigen müsse, um jegliche fremden Interessen aus dem Feld zu schlagen und auch aus den diversen Krisen wiederum als Gewinner hervorzugehen.

Dafür macht sich der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [1] stark, wenn er beklagt, in Syrien scheitere "die Wahrnehmung der Idee einer Weltgemeinschaft". Die Vereinten Nationen könnten nur handeln, wenn sich die Großmächte einig seien, die jedoch in diesem Fall keine gemeinsamen Positionen fänden. Selbst die Idee der Schutzverantwortung, also der Einmischung in innere Angelegenheiten eines Staates im Namen der Menschenrechte, die ohnehin nur gegen Verlierer angewendet worden sei, finde keine Unterstützung mehr. Die Europäer seien in Syrien, in der Ukraine, in Libyen nicht handlungsfähig, weil ihnen erstens die Fähigkeiten dazu fehlten und sie sich zweitens nicht einigen könnten. Sie arbeiteten mit "einem sukzessiven Mikromanagement der internationalen Politik", das längst nicht mehr angemessen sei und von der Öffentlichkeit nur noch als Hilflosigkeit wahrgenommen werde.

Es gibt zwei Dinge, die man Jäger zufolge tun muß: Erstens die beteiligten Interessen nach Maßgabe der eigenen Einflußmöglichkeiten analysieren, zweitens eigenständige ökonomische, diplomatische und militärische Fähigkeiten entwickeln. Benötigt würden "harte Fähigkeiten", die auch tatsächlich in der Lage seien, "Ergebnisse zu erzielen". Im Kosovo habe man auch ohne die Vereinten Nationen militärisch eingegriffen, weil keine Gegenwehr Rußlands zu erwarten war, das sich dann ja auch auf symbolische Akte beschränkt habe, die nicht ausreichten, um den Westen davon abzuhalten. "Es ist niemand momentan in der Lage, das in Syrien umzusetzen", schließt der Politikprofessor an der Universität Köln seinen Gesprächsbeitrag mit einer vorgeblichen Offenlassung, wohl wissend, daß er damit bei der Bundesregierung offene Türen einrennt.

Auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs munitionierte sich die deutsche Kanzlerin denn auch mit ihrer Betroffenheit angesichts der Katastrophe in der syrischen Stadt Aleppo zu einer dezidiert selektiven Breitseite gegen die Kriegsparteien Rußland und Iran auf, denen sie mit Konsequenzen drohte:

Dieser Teil der Diskussion, das will ich nicht verschweigen, war sehr deprimierend, weil wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert, was zum Schämen ist, was das Herz bricht, was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten, wie wir gerne handeln würden.

Wie würde Angela Merkel gerne handeln? Das führte sie zwar in letzter Konsequenz nicht aus, doch unterfütterte ihre Bezichtigung die leichtgängige Einigung auf eine Verlängerung der Sanktionen gegen Rußland wegen des Ukraine-Konflikts:

Leider ist der Fortschritt nicht so gewesen, dass man die Sanktionen hätte lockern können, so dass wir - so haben wir es jedenfalls politisch festgestellt - diese Sanktionen um sechs Monate weiter verlängern werden und das wird in diesem technischen Prozess dann stattfinden.

Sollte sich die Regierung in Kiew Hoffnungen gemacht haben, die EU werde sie mit offenen Armen empfangen, machte ihr der Gipfel einen dicken Strich durch die Rechnung. Alle 28 Staaten einigten sich auf eine Zusatzerklärung zum EU-Ukraine-Abkommen, in der unter anderem klargestellt wird, daß die Ukraine noch keine Perspektive auf einen EU-Beitritt bekommt und auch keine Garantie für die Sicherheit des Landes übernommen wird. Damit soll den Niederlanden ermöglicht werden, das Abkommen doch noch zu ratifizieren, das dort vor einigen Monaten bei einem Referendum abgelehnt worden war.

Was die vorgelagerte Flüchtlingsabwehr betrifft, unterstrich die Bundeskanzlerin den unter deutscher Federführung vorangetriebenen Ausbau der sogenannten Migrationspartnerschaften mit Staaten wie Niger oder Mali. Geld soll fließen, damit diese Länder dafür sorgen, daß die Flüchtlinge gar nicht erst die nordafrikanische Küste erreichen und nach Europa übersetzen. Frei nach dem Motto, es gehe um die "Herstellung von Sicherheit in diesen Ländern und um Hilfe bei der Bekämpfung des Schleppertums", ließ Merkel keine Querschüsse zu: "Aber alles muss Hand in Hand gehen, das war vollkommen klar heute - bei allem was wir diskutiert haben." [2]

Daß es nicht um das Wohlergehen der Syrer, Ukrainer und Flüchtlinge, sondern in erster Linie gegen Rußland geht, unterstreicht die harsche bis hohntriefende Reaktion auf die jüngste russische Kommunikationsoffensive unmittelbar vor dem EU-Gipfel. Bereits Ende November hatte das EU-Parlament eine Resolution verabschiedet, in der es vor Propaganda der russischen Regierung warnt, die "eine große Bandbreite an Werkzeugen" einsetze, um "Europa zu spalten". Maria Zacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, wies diesen Vorwurf mit den Worten zurück, ihr Land mache keine Propaganda gegen die EU. Rußland sei ganz im Gegenteil "an der EU als einem geeinten, stabilen und vorhersagbaren Partner interessiert, mit dem wir eine gleichberechtigte Zusammenarbeit entwickeln können".

Eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe ist jedoch ein Ansinnen, das sowohl die NATO als auch die EU stets aufs neue zurückgewiesen und als Heimtücke Moskaus diskreditiert hat. Als Rußlands Botschafter bei der EU, Wladimir Tschischow, nun unmittelbar vor dem Gipfel eine engere Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen anbot und erklärte, die Armee seines Landes könne sich sogar an EU-Auslandseinsätzen beteiligen, wies dies der Militärexperte Alexander Golz als völlig realitätsfern zurück:

Das ist Demagogie. Im September erst sind Versuche Russlands und der USA gescheitert, in Syrien militärisch zu kooperieren. In nächster Zeit wird es gewiss keine militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und Staaten der EU geben. [3]

Seit dem überraschenden Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA ist es in Rußland vergleichsweise still um die verhängten Strafmaßnahmen geworden. Der Radiokommentator Dimitri Drise führt dies auf eine gewisse Hoffnung zurück, die derzeit im Land spürbar sei: "Der Rubel steigt. An die Sanktionen denkt niemand mehr. Und mit Amerika haben wir fast schon so etwas wie Freundschaft." Sollten die USA unter dem neuen Präsidenten Donald Trump die Sanktionen gegen Rußland fallen lassen, fügte EU-Botschafter Tschischow hinzu, dann erwarte er, daß die Europäer diesem Beispiel folgen.

Diesem Vorstoß, die Beziehungen zu normalisieren, gleichberechtigt über eine Lösung des Konflikts in Syrien zu beraten und in der Konsequenz eine nicht auszuschließende Eskalation bis hin zum Dritten Weltkrieg auf europäischem Boden zu verhindern, hat der EU-Gipfel eine entschiedene Absage erteilt. Sollte die künftige US-Regierung tatsächlich ihren konfrontativen Kurs gegenüber Moskau zurückfahren, was keineswegs sicher ist, will die Europäische Union offenbar eigenständig und um so unversöhnlicher die Konfrontation mit Rußland suchen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/lage-in-aleppo-staaten-unterstuetzen-nicht-mehr-idee-der.694.de.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-merkel-erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-russland.1773.de.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-eu-gipfel-russische-kommunikations-offensive.795.de.html?d

16. Dezember 2016


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