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HEGEMONIE/1831: Griechenland, Türkei - der alte Streit ... (SB)



In Ankara stellte der türkische Staatspräsident den Vertrag von Lausanne aus dem Jahre 1923 erneut in Frage. Er sprach von "unfairen Bestimmungen" und einer "Niederlage der Türkei". Als Beispiel nannte er die griechischen Ägäis-Inseln, die in "Rufweite" der Türkei liegen. Es gebe noch immer einen "Kampf darum, was ein Festlandsockel" sei, "und welche Grenzen wir auf dem Land und in der Luft haben", so der türkische Staatschef. Diejenigen, die sich damals an den Verhandlungstisch gesetzt hätten, so monierte er, seien den realen Umständen nicht gerecht geworden.
Recep Tayyip Erdogan bei einem Treffen mit Gemeindevorstehern 2016

Der Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei reicht weit in die Vergangenheit zurück. Das macht ihn weder zu einem schicksalsgleichen Verlauf noch zu einer in der beiderseitigen Mentalität tief verankerten Unverträglichkeit zweier Völkerschaften. Hervorzuheben ist vielmehr die offene oder verdeckte Einflußnahme äußerer Mächte wie auch der den kapitalistischen Produktionsverhältnissen innewohnende expansionistische Drang, welcher insbesondere in den Phasen der Militärdiktatur eine nationalistische Begründung und Überhöhung fand. Der Sieg im Griechisch-Türkischen Krieg von 1922 ermöglichte es der jungen Türkei, die Bestimmungen des nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Vertrags von Sèvres teilweise nach ihren Vorstellungen zu revidieren. Die Friedensgespräche wurden am 30. November 1922 vom Völkerbund initiiert, ein bedeutender Zwischenschritt war die am 30. Januar 1923 vereinbarte Konvention zum Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Ländern. Der am 24. Juli 1923 geschlossene Vertrag von Lausanne legte die Grenzen fest und legalisierte die bereits vollzogene Vertreibung von Griechen bzw. Türken nachträglich.

Der Vertrag war ein Gewaltakt zu Lasten der in den betreffenden Regionen lebenden Menschen. Sie wurden durch die Grenzziehung voneinander getrennt, und der Bevölkerungsaustausch rechtfertigte und verschärfte Vertreibung und Verfolgung. Die Türkei erhielt Ost- und Südostanatolien (Ostanatolien war im Vertrag von Sèvres für Armenien vorgesehen gewesen), Ostthrakien (seither der europäische Teil der Türkei) sowie Izmir (griechisch Smyrna). Griechenland behielt Westthrakien. Zudem stimmte die Türkei der von Großbritannien am 5. November 1914 proklamierten Annexion Zyperns zu, das bis zu dieser Zustimmung formal zur Türkei gehört hatte, und gab ihre Ansprüche gegenüber Ägypten und dem Sudan auf. Des weiteren wurde die italienische Besetzung rund um Antalya revidiert. Im Gegenzug erkannte der türkische Staat die italienische Souveränität über den Dodekanes und Libyen an, die als Ergebnis des Osmanisch-Italienischen Krieges von 1912 an Italien gefallen waren.

Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn sah die Neuordnung seitens der Siegermächte eine Friedenssicherung auf Grundlage klar definierter Nationalitätengrenzen vor. Durch den Bevölkerungsaustausch sollten die durch nationale Minderheiten ausgelösten Spannungen vermindert werden. Nicht nur für einflußreiche Politiker jener Zeit wie Winston Churchill oder Edvard Benes, sondern auch für den Völkerbund galt Bevölkerungsaustausch als Paradigma für die friedliche Lösung ethnischer Konflikte.

Der Vertrag nutzte die Religionszugehörigkeit als Kriterium für die nationale Zugehörigkeit und damit für die Umsiedlung. Aus Kleinasien wurden 1,5 Millionen türkische Staatsangehörige griechisch-orthodoxen Glaubens (zumeist gebürtige Griechen), aber auch Türken christlichen Glaubens nach Griechenland ausgewiesen, während im Gegenzug rund 500.000 griechische Staatsangehörige muslimischen Glaubens (zumeist gebürtige Türken und alle konvertierten Griechen) in die Türkei auswandern mußten.

Die Zwangsumsiedlung brachte großes Leid über die Betroffenen, da sie ihre Heimat verloren und nur ihr bewegliches Eigentum mitnehmen durften. Viele Menschen starben im Zuge der häufig brutal durchgesetzten Umsiedlungsmaßnahmen. Der größte Teil der zur Umsiedlung vorgesehenen Bevölkerungsgruppen war jedoch schon vor 1923 vertrieben worden, wobei viele Angehörige der Minderheiten ermordet wurden. Der britische Außenminister George N. Curzon, obgleich selbst ein führender Vertreter des Imperialismus, bezeichnete den Vertrag von Lausanne als "eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahre noch eine schwere Buße" werde entrichten müssen. Er sollte Recht behalten.

Zwischen Griechenland und der Türkei kam es seither immer wieder zu Konflikten insbesondere in bezug auf die Souveränität über die Ägäis. Streitpunkte sind die Abgrenzung der Hoheitsgewässer und des nationalen Luftraums, die ausschließlichen Wirtschaftszonen und die Nutzung des Kontinentalschelfs sowie der demilitarisierte Status einiger Inseln in der östlichen Ägäis, nicht zuletzt natürlich die Zypernfrage. Die Nachbarländer und NATO-Partner sind seit Jahrzehnten in einen kostspieligen Rüstungswettlauf verwickelt, 1996 wäre es fast zu einem bewaffneten Konflikt gekommen. Angeheizt wurde dieser Prozeß auch von deutschen Waffenproduzenten, die Athen und Ankara wechselweise unter der Hand wissen ließen, daß die Gegenseite gerade ein großes Kontingent Panzer bestellt habe. Bezeichnenderweise wurden später die teuren griechischen Rüstungsaufträge an deutsche Hersteller von den ansonsten scharfen Sparauflagen ausgenommen, welche die Troika im Zuge der Schuldenkrise über Griechenland verhängte. Zu nennen ist auch eine massive Einflußnahme von britischer und insbesondere US-amerikanischer Seite, die für eine gewünschte innen- und außenpolitische Ausrichtung der Regierungen sorgte, im Zweifelsfall auch mittels einer Militärjunta.

Wenngleich die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei also nie einfach waren, gab es zwischenzeitlich doch Phasen der Entspannung und Annäherung. Das hat sich unter dem Regime Recep Tayyip Erdogans in jüngerer Zeit dramatisch geändert, da der türkische Präsident den Nachbarn in den vergangenen Monaten immer wieder provoziert hat. Kampfjets der beiden Länder lieferten einander Scharmützel über der Ägäis und Ende November 2019 sicherte Erdogan dem libyschen Premier Fayez Sarraj zu, ihn im Bürgerkrieg gegen den Warlord Khalifa Haftar militärisch zu unterstützen. Parallel dazu unterzeichneten die beiden Politiker ein Abkommen über die Ausbeutung von Gasvorkommen im Mittelmeer. Dabei teilten sie dieses kurzerhand untereinander auf und ignorierten dabei, daß in der beanspruchten Zone griechische Inseln wie insbesondere Kreta liegen. Vor wenigen Tagen kündigte Erdogan an, er wolle noch in diesem Jahr im östlichen Mittelmeer nach Gas bohren lassen.

Auf griechischer Seite steht zu befürchten, daß Erdogan damit seinen Einflußbereich endgültig auf griechisches Territorium ausdehnen will. Werden Bohrschiffe von der türkischen Marine begleitet, wie das bereits vor Nordzypern der Fall ist, will Athen seinerseits Militär in Stellung bringen, um die eigene "Souveränität um jeden Preis zu verteidigen", so Premier Kyriakos Mitsotakis. Diese Auseinandersetzung ist jedoch für Griechenland höchst riskant, da Erdogan verschiedene Zwangsmittel zu Gebote stehen, vor allem aber die Flüchtlingspolitik. Eigenen Angaben zufolge hat die Türkei dreieinhalb Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, die in Erdogans strategischen Plänen eine maßgebliche Rolle spielen. Zum einen will er die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei wie auch im Norden Syriens vertreiben und im Zuge einer ethnischen Säuberung durch syrische Flüchtlinge ersetzen. Zum anderen instrumentalisiert er die Flüchtlinge als Waffe gegen Griechenland und die EU, indem er immer wieder droht, die Grenze zu öffnen.

In Griechenland halten sich derzeit etwa 100.000 Flüchtlinge auf. Sowohl Mitsotakis als auch sein Vorgänger Alexis Tsipras haben es versäumt, eine auch nur halbwegs verläßliche Infrastruktur für geflohene Menschen aufzubauen. Indessen vermißt Athen auch in der Flüchtlingskrise die Unterstützung der EU. Diese hat Griechenland im Kontext des Abkommens mit der Türkei eine Pufferfunktion zugewiesen und mahnt nun allenthalben an, die katastrophalen Lebensbedingungen für Flüchtlinge insbesondere auf den Inseln zu verbessern. Dort hausen Tausende Menschen zum Teil seit Jahren unter den erbärmlichsten Bedingungen. Wirklich etwas dagegen unternommen haben aber auch die Europäer nicht. Das spielt Erdogan in die Karten, der mit einer Grenzöffnung größeren Umfangs diese Krise unmittelbar verschärfen könnte.

In ihrer Not wendet sich die griechische Regierung nun an die USA, die bereits 1987 und 1996 Konflikte zwischen Ankara und Athen geschlichtet haben. Mitsotakis hielt sich jüngst zu einem Staatsbesuch in Washington auf, weiß aber auch, wie unberechenbar die US-Außenpolitik unter Donald Trump geworden ist. Dieser schätzt durchaus, daß Griechenland zu den wenigen NATO-Mitgliedern gehört, die das Zweiprozentziel erfüllen. Das zählt im Washington dieser Tage ebenso viel wie das bekundete Interesse des griechischen Regierungschefs, weitere Waffengeschäfte in den USA zu tätigen. Andererseits rühmt sich Trump seines guten Verhältnisses zu Erdogan, als dessen großer Fan er sich bezeichnet. [1]

Nun hofft die griechische Regierung auf Unterstützung der USA im Gasstreit, zumal Washington das Gasabkommen zwischen der Türkei und Libyen als "nicht hilfreich und provokativ" kritisiert hat. Da die Türkei über eine vor wenigen Tagen eröffnete Pipeline mit russischem Erdgas beliefert wird, setzt die US-Regierung auf das alternative Projekt, das Griechenland, Zypern und Israel vereinbart haben. Diese drei Länder wollen die Erdgasvorkommen im Mittelmeer anteilig ausbeuten und mittelfristig eine unterseeische Pipeline von Israel über Kreta nach Italien bauen, um darüber Europa mit Gas zu versorgen. Wenngleich Washington die Europäer mehr oder minder zwingt, teures Frackinggas aus den USA zu kaufen, ist der Trump-Regierung im Zweifelsfall eine Lieferung über die geplante Mittelmeerpipeline immer noch lieber aus als eine Versorgung aus Rußland.

Mitsotakis äußerte sich enttäuscht darüber, daß Griechenland nicht zu dem für Sonntag geplanten internationalen Gipfel zu Libyen in Berlin eingeladen wurde. Das sei falsch, da Griechenland Seegrenzen mit Libyen habe. An dem Gipfel, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeladen hatte, werden unter anderem die USA, Rußland, China, Großbritannien, Frankreich, Italien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Algerien und die Republik Kongo teilnehmen. Auch General Haftar hat seine Teilnahme signalisiert. Die USA werden von Außenminister Mike Pompeo auf der Konferenz vertreten. Mitsotakis hat in Athen Gespräche mit Khalifa Haftar geführt und ranghohe EU-Funktionäre über seine Absicht informiert, eine mögliche Friedensvereinbarung zu blockieren. "Griechenland wird auf der Ebene eines (EU-)Gipfeltreffens nie eine politische Lösung zu Libyen akzeptieren, die nicht als Vorbedingung die Annullierung dieser Vereinbarung enthält", unterstrich der griechische Premier. [2]

Die von Erdogan angekündigte Suche nach Erdgas betrifft potentiell auch ergiebige Regionen südlich von Kreta, die nach Auffassung Griechenlands zur Ausschließlichen Wirtschaftszone des Landes gehören. Wie das griechische Außenministerium dazu erklärt, sei der rechtliche Status der Ägäis und der Inseln durch internationale Verträge definiert und unumstritten. Die Ansprüche der Türkei änderten daran nichts. Demgegenüber hat Kreta nach türkischer Lesart zwar Hoheitsgewässer, aber keinen Festlandsockel, mithin auch keine Ausschließliche Wirtschaftszone. Zudem bekräftigte Erdogan wiederholt, daß es ohne die Zustimmung Libyens und der Türkei nicht mehr möglich sei, in den betreffenden Gewässern Such- und Bohrarbeiten durchzuführen oder eine Pipeline zu bauen. Ein ähnlicher Konflikt besteht bereits mit Zypern. Dort nehmen türkische Schiffe seit 2019 Probebohrungen vor. Die EU-Staaten haben deshalb einen rechtlichen Rahmen für Sanktionen gegen die Türkei geschaffen. Ankara weist den Vorwurf, die Bohrungen seien illegal, zurück und erklärt, der betroffene Meeresboden vor Nordzypern gehöre zum Festlandsockel der Türkei. [3]

Da die Türkei einen hohen Energiebedarf hat, jedoch bei Öl und Gas zu fast 100 Prozent von Importen abhängig ist, sucht sie mit allen Mitteln nach eigenen Quellen und geht dafür auch militärische Abenteuer ein. Diese sind zugleich ein Befreiungsschlag für Präsident Erdogan, der auf diese Weise die diversen innenpolitischen Krisenszenarien entschärft. Türkische Soldaten stehen im Nordirak, auf syrischem Boden und nun auch in Libyen, um beim "Brudervolk" Geschichte zu schreiben, wie Erdogan verkündet. Die Mehrheit im türkischen Parlament folgt dem Präsidenten auch ohne UN-Mandat oder NATO-Order bislang in jeden Kriegseinsatz. Der widerspenstigen Opposition hält der Oberbefehlshaber entgegen, sie habe die osmanische Geschichte vergessen und auch die der Republik, schließlich habe deren Gründer, Kemal Atatürk, auf libyschem Boden gekämpft. Das liegt allerdings mehr als hundert Jahre und noch vor Gründung der modernen Türkei zurück und endete im Krieg gegen Italien bekanntlich mit einer Niederlage des Osmanischen Reichs. [4]

Griechenland sitzt im eskalierenden Konflikt mit der Türkei am kürzeren Hebel, zumal das Land vom Austeritätsregime der EU unter deutscher Führung massiv geschädigt worden ist. Substantielle Unterstützung hat Athen weder aus Brüssel noch Washington zu erwarten, auch wenn sich die konservative Regierung den USA andient. Daß Griechenland nicht einmal zum Krisengipfel nach Berlin eingeladen wurde, obgleich seine Interessen unmittelbar betroffen sind, spricht Bände.


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/konflikt-zwischen-griechenland-und-der-tuerkei-der-schreckliche-nachbar-a-497be64b-97ba-492e-bccf-546afae9f5ab

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/libyen-gipfel-griechenland-gasfelder-tuerkei-friedensabkommen

[3] www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/tuerkei-erdogan-ankuendigung-gasbohrungen-ostmittelmeer

[4] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-erdogan-libyen-1.4742476

18. Januar 2020


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