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HERRSCHAFT/1512: Ägypten riegelt Gaza mit unterirdischer Mauer ab (SB)



Daß das ägyptische Regime mit gespaltener Zunge spricht, ist kein Geheimnis. Als repressives System im Übergang zur Diktatur drangsaliert es die Bevölkerung. Von den Vereinigten Staaten mit deren weltweit zweithöchster Militärhilfe ausgestattet, fungiert es als Vasall Washingtons. Mit der israelischen Führung verbindet es eine Kumpanei, die den beiderseitigen Interessen dient, insbesondere ihre inneren Konflikte unter Kontrolle zu halten. Andererseits präsentiert sich die ägyptische Regierung als ein führender Vertreter der arabischen Staaten und islamischen Welt, der fundamentale Werte und Positionen gegenüber Israel hochhält und die Palästinenser verteidigt. Dieses ambivalente Erscheinungsbild erlaubt es der ägyptischen Regierung, eine Vermittlerrolle im Nahostkonflikt einzunehmen, wie sie derzeit bei den Verhandlungen um den Austausch des im Gazastreifen gefangengehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit gegen palästinensische Häftlinge in Anspruch genommen wird.

Wenngleich Ambivalenz gern als Ausgewogenheit, Bedachtsamkeit und Weisheit apostrophiert wird, erweist sie sich auf dem Prüfstein des Zweifelsfalls als verschleierte Statthalterschaft im Dienst der Übermacht und somit als Verhängnis für die schwächere Streitpartei, die Unterstützung sucht, aber Verrat erntet. Diese bittere Erfahrung machen die Palästinenser im Gazastreifen, deren Überleben im wahrsten Sinne des Wortes von der Versorgung durch die zahllosen Tunnel abhängt, die sie unterirdisch mit ägyptischem Territorium und damit den dringend benötigten Versorgungsgütern verbinden.

In der Berichterstattung über diese letzten verbliebenen Lebensadern des ansonsten unter dem israelischen Blockaderegime abgeriegelten Küstenstreifens mit seinen eineinhalb Millionen Bewohnern ist in der Regel von "Schmuggel" die Rede, als existiere demgegenüber ein nennenswerter regulärer Handel oder Austausch. Häufig übernimmt man sogar kurzerhand die offizielle Lesart Israels und spricht von "Waffenschmuggel", als machten die Lebensmittel und anderen dringend benötigten Erzeugnisse, die durch die Tunnel befördert werden, nicht den weitaus größten Teil dieses Transfers aus. Als zum Jahreswechsel das große Massaker im Gazastreifen begann, wunderten sich die israelischen Soldaten darüber, daß die palästinensischen Verteidiger über keinerlei wirksame Abwehrwaffen gegen eine hochgerüstete Armee verfügten. Dies dürfte ein weiterer Beleg dafür gewesen sein, daß das Argument, man müsse den Waffenschmuggel nach Gaza unterbinden, im wesentlichen die Lesart der Propaganda ist, welche die gezielt herbeigeführte extreme Notlage der palästinensischen Bevölkerung rechtfertigt.

Nachdem die Aggressoren drei Wochen lang gewütet und dabei mehr als 1.400 Palästinenser getötet und über 5.000 weitere verletzt hatten, blieb der Gazastreifen weiterhin nahezu vollständig abgeriegelt. Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel gingen unter anderem deutsche und US-amerikanische Experten daran, gemeinsam mit den Ägyptern einen Plan auszuarbeiten, der den "Waffenschmuggel" beenden soll. Nun ist in Medienberichten davon die Rede, daß ägyptische Sicherheitskräfte an der Grenze Metallteile für eine unterirdische Mauer in den Boden rammen. Wie Augenzeugen in der ägyptischen Grenzstadt Rafah bestätigt haben, begannen die ersten Bauarbeiten bereits vor sechs Monaten. Die Arbeiter und Ingenieure seien dabei, einen 10 bis 15 Kilometer langen und offenbar 25 bis 28 Meter in die Tiefe reichenden unterirdischen Wall zu verlegen, der aus fünf Zentimeter dicken Stahlplatten besteht. (www.tagesschau.de 11.12.09)

Nach Angaben des britischen Senders BBC bezahlen die USA die Stahlmauer, die derzeit im Grenzstreifen vergraben wird. Wie die israelische Zeitung Ha'aretz meldet, werde die Mauer selbst Sprengstoff standhalten. Offizielle Angaben gibt es darüber freilich nicht, da die ägyptische Regierung behauptet, sie habe den Schmuggel unter Kontrolle und benötige folglich keine solche Mauer. Die nicht abzustreitenden Bauarbeiten werden mit der Installation unterirdischer Beobachtungsgeräte begründet, die jeden Versuch eines Tunnelbaus registrieren sollen.

Mit Unterstützung der USA und der EU leitet Ägypten eigenen Angaben zufolge die zweite Phase der Überwachung ein. Dazu gehört eine deutlich verschärfte oberirdische Kontrolle, unter der auch die grenznahen Bewohner auf ägyptischer Seite zu leiden haben. Ständige Polizeikontrollen und Verbote, Möbel oder andere Haushaltsgegenstände in die Nähe der Grenze zu befördern, da es sich um Schmuggelware handeln könnte, schafft ein Klima ständiger Beobachtung und gravierender Einschränkung. Da Ägypten den Grenzübergang Rafah lediglich sporadisch öffnet, ist die Versorgung des Gazastreifens praktisch nur noch durch die Tunnel möglich, die zudem von den israelischen Streitkräften des öfteren bombardiert werden.

Es steht demnach außer Frage, daß sich die ägyptische Führung dem Druck von israelischer, US-amerikanischer und europäischer Seite beugt, auch das südliche Ende des Gazastreifens hermetisch abzuriegeln. Mit Rücksicht auf oppositionelle Kräfte im eigenen Land versucht die Regierung in Kairo, diesen kompletten Schulterschluß gegen die Palästinenser zu verschleiern und insbesondere den Mauerbau zu leugnen, der zwangsläufig sofort an den Sperrwall um das Westjordanland erinnert und damit die enge Verwandtschaft israelischer und ägyptischer Herrschaftsinteressen überdeutlich ins Bild setzt.

Die bislang vorgehaltene Doppelgleisigkeit, sich offiziell gegen den unkontrollierten Transfer auszusprechen, jedoch den Tunnelverkehr unter der Hand zu dulden, war offenbar nur eine Übergangsfrist, die nun unwiderruflich zu Ende geht. Das ägyptische Regime erweist sich einmal mehr als Lehen aus der Hand mächtigerer Interessen und zeigt sein wahres Gesicht inzwischen auch an dieser Front: Eineinhalb Millionen Menschen in einem Freiluftgefängnis einzuschließen und von den letzten verbliebenen Versorgungslinien abzuschneiden, nimmt unter israelischer, US-amerikanischer, europäischer und eben auch ägyptischer Beteiligung den Charakter eines schleichenden Genozids an.

11. Dezember 2009