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HERRSCHAFT/1557: KettenReAktion Bayern - Okkupation der Anti-Atombewegung durchs Establishment? (SB)



Einer wachsenden gesellschaftlichen Bewegung die Wucht zu nehmen, indem man sich ihr unnachgiebig entgegenstellt, zählt nicht immer zu den wirksamsten Waffen aus dem gut gefüllten Arsenal ordnungspolitischer Maßnahmen. Bessere Erfahrungen hat das Establishment damit gemacht, wenn es ihr gelang, eigene Vertreter an die Spitze der Bewegung zu setzen und diese dann auf vorgefertigte Bahnen zu lenken. So könnte es der Anti-Atombewegung ergehen, wenn sie sich von etablierten Politikerinnen und Politikern oder auch Karrieristen aus Sprungbrett-NGOs sagen läßt, wo es langgeht, das heißt, bis wie weit sie zu gehen hat.

Bis zu 50.000 Menschen haben am Samstag in München eine kilometerlange Kette von der CSU-Zentrale bis zum bayerischen Umweltministerium gebildet, um gegen die Atompolitik der Bundes- und der Landesregierung zu protestieren. 100.000 waren im vergangenen Monat in Berlin zusammengekommen und haben das Regierungsviertel umzingelt; mehrere zehntausend fanden vor kurzem in Stuttgart Zeit, um gegen die Atompolitik zu demonstrieren und den Landtag einzukreisen.

Wie in den neunziger Jahren lassen sich im Zuge dieser Massenbewegung die Grünen und Sozialdemokraten nach oben tragen. Christian Ude zum Beispiel. Neulich erst hat Münchens SPD-Oberbürgermeister das weltberühmte, milliardenschwere Konsumereignis namens Oktoberfest mit dem traditionellen O'zapft is! eröffnet, am Samstag schwang er bei der Abschlußveranstaltung der Anti-Atomdemo Reden. Mit für ihn vermutlich schon sozialrevolutionärem Duktus sagte er Sätze wie: "Wörter wie Nachhaltigkeit darf eine solche Regierung nicht mehr in den Mund nehmen." Und: "Dass man wieder auf die Straße gehen muss, ist dem Wortbruch der Atomindustrie und der schwarz-gelben Regierung zu verdanken." [*] Man MUSS auf die Straße gehen ... wie bedauerlich, da wird die liebe Ruh' aber nachhaltig gestört!

Aber bitte, das soll nicht heißen, daß andere Politiker nicht ähnlich geschmeidig von sich reden machen. SPD-Anführer Sigmar Gabriel kommentierte die Anti-Atomkette in München mit den Worten: "Das zeigt einmal mehr, dass die Bevölkerung die Lobbypolitik der Bundesregierung für die vier Atomkonzerne nicht einfach hinnimmt." [*]

Hatten Teile der Partei Die Linke noch vor einigen Wochen auf der Energiekonferenz in Hamburg die Frage des Atomausstiegs eng mit der sozialen Frage verknüpft, so war von diesem Ansatz im breiten Bündnis von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden, kirchlichen Gruppen und Parteien, die am Samstag zur KettenReAktion Bayern aufgerufen hatten und zu denen auch Die Linke gehörte, kaum etwas zu bemerken.

Nicht zu vergessen: SPD und Grüne sind die Parteien, die das Verarmungsprogramm Hartz-IV auf den Weg gebracht und den Spitzensteuersatz gesenkt haben. Es sind Parteien, welche die Ideologie der Krümelpolitik gutheißen: Gebt denen da oben so viel, daß sie sich die Mäuler kaum mehr stopfen können und zwangsläufig ein paar Brotkrümel heraus und vom Tisch fallen. Darum dürfen sich dann die unteren gesellschaftlichen Schichten bekämpfen. Man kann diesen herrschaftsförmigen Mechanismus selbstverständlich auch fachsprachlicher formulieren: Der Wirtschaft müssen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, damit sie mehr in den Standort Deutschland investiert und dadurch Arbeitsplätze schafft. Daß die Unternehmen ihren Fortschritt darin sehen, Arbeitsplätze abzubauen, wird dabei geflissentlich unterschlagen.

Wenn in der Bundesrepublik große Menschenmassen gegen die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken protestieren, ist das sicherlich zu begrüßen. Wenn sie sich aber auf dieses Thema beschränken und sich der nächsten konzerngetriebenen, profitsichernden Energiegewinnungsform unterwerfen, dann ... ja, dann besäße die Bewegung mit Gabriel, Ude, Roth, Özdemir und wie sie alle heißen, genau die richtigen Wortführer für ihr Anliegen. Emanzipatorische Bemühungen, die sich grundsätzlich gegen die vorherrschenden Produktionsverhältnisse und nicht gegen bestimmte Auswüchse wie die Atomkraft richteten, sind von ihnen nicht zu erwarten.


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Anmerkungen:

[*] "Zehntausende protestieren gegen Atompolitik, Focus online, 9. Oktober 2010

10. Oktober 2010