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HERRSCHAFT/1637: Boko Haram-Anschläge - Nigerias Sozialkonflikt in religiöser Ausprägung (SB)



Der blutige Konflikt in Nigeria, so scheint es, begründet sich religiös. Die muslimische Gemeinschaft Boko Haram, die die Scharia in ganz Nigeria verbreiten möchte, hat am ersten Weihnachtstag an verschiedenen Orten Sprengstoffanschläge auf christliche Kirchenbesucher verübt und mehrere Dutzend von ihnen in den Tod gerissen. Das hat nicht nur im vorwiegend christlichen Süden, sondern auch im muslimischen Norden des Landes Entsetzen ausgelöst und für Empörung gesorgt.

Boko Haram - der Name ist Programm - bedeutet: Westliche Bildung ist Sünde. Das ist sowohl politisch als auch religiös gemeint. Die 2002 im Bundesstaat Borno gegründete Organisation galt zunächst als friedlich. Sie wandte sich gegen die in Nigeria verbreitete Korruption und Bestechung und wünschte sich eine strengere Auslegung der Scharia. Im Jahr 2009 eskalierte die Lage, nachdem die Regierung Boko Haram-Anführer Mohammed Yusuf verhaftet hatte. Er wurde in Polizeigewahrsam getötet. Seine Anhänger protestierten, die Polizei ging gewaltsam gegen sie vor, 800 bis 1000 Personen wurden von den Sicherheitskräften umgebracht. Polizisten waren wahllos gegen alle jungen Männer, die wie die Boko Haram-Mitglieder Bärte trugen, vorgegangen, hatten sie vor den Augen ihrer Familien liquidiert und die Häuser in Brand gesetzt. Das hat erheblich zur Radikalisierung der Boko Haram beigetragen und ihr zu einem breiteren Rückhalt in der Bevölkerung verholfen.

Der Gewalt der seit 2009 anhaltenden Anschlagsserie geht eine andere, viel umfassendere Gewalt voraus. Deren Ergebnis drückt sich darin aus, daß heute 70 Prozent der Nigerianer arm sind, die durchschnittliche Lebenserwartung nur 45 Jahre beträgt und die Arbeitslosigkeit bei über 50 Prozent liegt. Das sind Daten, die begreiflich machen, warum Organisationen wie Boko Haram, die einen sozialen Zusammenhalt und eine religiöse Werteorientierung verheißen, besonders unter Jugendlichen Zuspruch finden.

Das soll die Anschläge nicht legitimieren, aber es rückt sie in einen gesellschaftlichen Kontext. Von daher kann es keine müßige Frage sein, ob es ohne die krassen Einkommensunterschiede in Nigeria, von dessen Erdölreichtum vor allem ausländische Konzerne sowie eine kleine Oberschicht profitieren, zu solchen vordergründig religiös motivierten Attacken gekommen wäre. In ihrer Ausrichtung gegen das herrschende Establishment weist Boko Haram Gemeinsamkeiten mit vielen anderen sozialen Erscheinungsformen, von den größtenteils friedlichen Demonstranten der Occupy-Bewegung bis zu bewaffneten islamistischen Gruppen in Somalia und Afghanistan, auf.

Mit der Abschaffung des westlichen Bildungsprogramms verfolgt die nigerianische Gruppe im Prinzip antikoloniale Ziele. Die Bevorzugung des islamischen Glaubens zeigt indessen, daß sich Boko Haram nicht prinzipiell gegen eine religiöse Okkupation ausspricht, denn selbstverständlich ist auch der monotheistische Islam keine Ursprungsreligion dieser Region. Als "natürlicher" Bündnispartner für die weltweit auftretenden Befreiungsbewegungen kommt die nigerianische Glaubensgemeinschaft nicht in Frage, kann doch der Preis für die Befreiung von säkularen Herrschaftsformen nicht die Einführung eines klerikalen Regimes sein.

28. Dezember 2011