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HERRSCHAFT/1643: Wulffs Niedergang im Widerschein neuer Formen der Ermächtigung (SB)



Den Verdacht der Vorteilsnahme im Amt zu erheben, mit dem die Staatsanwaltschaft Hannover den finalen Anstoß zum Rücktritt Christian Wulffs vom Amt des Bundespräsidenten gegeben hat, setzt in einer von Staat und Kapital beherrschten Klassengesellschaft nicht umsonst erheblichen Ermessensspielraum voraus. Wo Regierungs- und Kapitalmacht den Fadenschein zweier voneinander separierter, autonom agierender Sphären nur notdürftig gegen das alles seinem Interesse unterordnende Verwertungsprimat aufrechterhalten können, weiß der Bürger allemal um die Krise der politischen Repräsentanz, die einen Wulff hochkatapultiert und fallen läßt. Ämterpatronage ist ein so selbstverständliches Schmiermittel der Parteiendemokratie wie der vielzitierte Lobbyismus, dessen Anprangerung als undemokratische Form der Einflußnahme nicht minder am Kern des kapitalistischen Gewaltverhältnisses vorbeigeht. Vorteilsnahme in jeder Lebenslage ist der zentrale Motor der neoliberal organisierten Gesellschaft und nur dann verwerflich, wenn sie die von demokratischen und ethischen Werten beflügelte Administration in ihrem profanen Interesse demaskiert.

Wo die Sphäre der Politik die Möglichkeit bürgerlicher Partizipation suggeriert, während Bestandsgarantien für "systemisch relevante" Banken die soziale Daseinsvorsorge der Gesellschaft zerstören, das europäische Krisenmanagement von Sachwaltern des Finanzkapitals geführte Regierungen per Dekret einsetzt und vertraglich geregelte Verhältnisse der Währungsunion mit leichter Hand ignoriert werden, verkommt Wulff auf der Strecke symbolpolitischer Regulation dieser Zumutungen zum Popanz des kleinbürgerlichen Ressentiments gegen "die da oben". Seine in der Sache zwar formal begründete, in der systematischen Demontage des ersten Bürgers jedoch wie ein archaisches Ritual der kollektiven Entschuldung wirkende Bezichtigung gerät zum Spektakel eines Legalismus, der den partizipatorischen Anspruch letztlich gegen seine Subjekte kehrt. Läßliche Sünden, über die im Tauschverhältnis der Eliten in Staat und Kapital ansonsten vornehm geschwiegen wird, werden als nicht wiedergutzumachende Verfehlungen angeprangert, um vergessen zu machen, daß die Moral des größeren Räubers stets an der Beschuldigung derjenigen gesundet, die sich seiner Ordnung in der Hoffnung auf ein kleines Stück vom Kuchen unterworfen haben.

So bringt das deutsche Staatstheater am 17. Februar ein Drama zur Aufführung, dessen mindere Qualität dem Bedürfnis des Publikums Genüge tut, bloß keinen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wo die Weichen für den Zug in die nächsthöhere Ordnung unumkehrbarer Verfügungsgewalt gestellt werden. Die Bevölkerung der Bundesrepublik folgt den zum Opfer deutscher Suprematie degradierten Menschen in Griechenland, Portugal und Italien wie eine Schar Lemminge, die nicht wahrhaben will, daß der Abgrund, der sich vor ihr auftut, nur deshalb als aussichtsreiche Flucht vor der größeren Gefahr erscheint, weil ihre Subordination unter die herrschenden Interessen ins Fantasma der Nation gekleidet ist.

Wulff hat dieses Truggebilde mit der umstrittensten Stellungnahme seiner Amtszeit, der von ihm erklärten Zugehörigkeit muslimischer Menschen zur Gesellschaft der Bundesrepublik, nicht ausreichend genährt, als daß er nicht verzichtbar wäre. So viel bürgerliche Liberalität scheint zuviel des Guten in einer Zeit, in der "durchregiert" und "durchgegriffen" werden muß, in der "harte Entscheidungen" wie die Beteiligung Deutschlands an den anstehenden Kriegen oder der Ausbau der EU zum supranationalen Austeritätsregime getroffen werden müssen. Ein Politiker, der von einem Bild-Chefredakteur enttäuscht werden kann, weil er an so etwas wie eine verbindliche Zusammenarbeit glaubt, könnte versagen, wenn ihm die Unterzeichnung schwerwiegender Weichenstellungen, die nicht im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung sein können, oder die Verkündigung eines Verteidigungsfalles, der aus einem Angriffskrieg besteht, abverlangt wird.

Noch vor dem Rücktritt Wulffs vermittelte der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart unter Verweis darauf, daß die Kompetenzen des Bundespräsidenten unterschätzt würden, wenn man sie als von lediglich repräsentativer Art bewertete, eine Ahnung davon, welche Interessen Pate bei der Demontage dieses Bundespräsidenten gestanden haben könnten:

"Wir werden in nächster Zeit eine Reihe von hoch umstrittenen, auch in der Bevölkerung sehr kontroversen Gesetzesvorhaben bekommen, im Zusammenhang vor allem mit der Europäischen Union, mit der Euro-Rettung (...). Hier hat der Bundespräsident die Aufgabe, zu prüfen, ob die Gesetze verfassungskonform sind oder ob sie beispielsweise in einem fragwürdigen Eilverfahren durch den Bundestag geschleust wurden." [1]

Nicht nur unbeschadet vom Vorwurf manipulativer Ränkespiele, sondern mit neuem Ruhm als Sachwalterin des demokratischen Journalismus versehen geht die Springer-Presse aus dieser Affäre hervor. So sehr die publizistische Macht dieses Verlagskonzerns für aggressiven Sozial- und Nationalchauvinismus steht, so wenig wird sie zum Problem einer demokratischen Willensbildung erhoben, die sich an einem Wulff abarbeitet, weil auch ein bescheidener Sieg die Ohnmacht wirksamer Einflußnahme von unten vergessen machen kann. Es gibt keinen Grund, den CDU-Politiker als Opfer eines machiavellistischen Revirements an der Spitze des Staats zu bemitleiden, gelangt dort doch niemand hin, der in der dünnen Luft machtpolitischer Kämpfe nicht bereits gelernt hat, auszuteilen und einzustecken. Es zeugt allerdings von einer gefährlich naiven Verkennung der Bedingungen, unter denen politische Entscheidungen getroffen werden, die vorgehaltenen Gründe seines Niedergangs als Beweis dafür zu nehmen, daß Recht und Gesetz am Ende über eine Usurpation staatlicher Verfügungsgewalt siegten, die neue Formen der Ermächtigung über die Interessen der Mehrheit der Menschen möglich macht.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1679843/

SB-Kommentare zur Wulff-Affäre:

FRIEDEN/1104: Christliche Erwerbsmoral schützt Frieden der Paläste (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/frie1104.html

PROPAGANDA/1443: Wer dominiert wen? Springer-Konzern vs. Bundespräsident Wulff
(SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1639.html

HERRSCHAFT/1639: Revanche für 2010 ... die Stunde der Gauckisten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1639.html

KULTUR/0917: Wulff muß fallen, um die Ambivalenz bürgerlicher Moral zu retten
(SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0917.html

17. Februar 2012