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HERRSCHAFT/1657: Griechische Wähler im Würgegriff kerneuropäischer Schuldherrn (SB)




Die materielle wie ideologische Fessel, Schuld als eine Folge überzogener Ansprüche und nicht hinzunehmenden Fehlverhaltens auszuweisen und einem rigiden Sanktionsregime zu unterwerfen, blendet ihre systemische Funktionalität im Kontext des unausgesetzten gesellschaftlichen Umlastungsprozesses vollständig aus. Vielzitiertes und dennoch in seiner Bedeutung zumeist nicht erfaßtes Beispiel sind die Vereinigten Staaten, die angesichts ihrer immensen Verschuldung vernichtet am Boden liegen müßten, hätte das Prinzip, daß man nicht über seine Verhältnisse wirtschaften dürfe, für sie Gültigkeit. Während das parteipolitische Szenario des hart am Abgrund stehenden Griechenlands nach den wiederholten Parlamentswahlen einmal mehr von den aufmunitionierten Kanonieren in den kerneuropäischen Hauptstädten ins Visier genommen wird und gesamteuropäische Großmachtambitionen ihrerseits unter der Eurokrise ächzen, fahren die USA fort, die aus ihrer ökonomisch-militärischen Übermacht resultierende Umlastung ihrer Schulden auf den Rest der Welt exponentiell voranzutreiben. Da Schuld eines Schuldherrn bedarf und nur in dieser Klammer existiert, repräsentieren die Vereinigten Staaten jene Spitze kapitalistischer Verwertung, die ihre Wirtschaftsweise, nämlich Unwerte in allen erdenklichen Formen zu schaffen, jedem aufbürdet, der sich dieses Übertrags nicht erwehren kann.

Das Herrschaftsinstrument der Schuldknechtschaft erschöpft sich folglich nicht im wucherischen Zinsgewinn der Gläubiger. Vielmehr geht es stets darum, den Schuldner in eine unausweichliche Abhängigkeit zu zwingen, die seine Arbeitskraft, seine materiellen Besitztümer, ja seine gesamte Existenzweise der Willkür seines Schuldherrn unterwirft. So ist das der griechischen Führung aufgezwungene Diktat, Privatisierung, Sozialabbau und Brechung des Aufbegehrens gnadenlos voranzutreiben, kein Kollateralschaden der Eurokrise, sondern zentraler Wirkmechanismus der eingangs skizzierten Gesellschaftsordnung und ihrer imperialistischen Durchdringung aller Sphären im Weltmaßstab. So real die Eurokrise auch ist und das Verwertungsregime an seine Grenzen treibt, kennt Herrschaft doch nur eine Antwort, nämlich die Sicherung ihres Bestands und dessen Fortschreibung in die Zukunft um jeden Preis, den andere zu zahlen haben.

Hätten die Griechen anders gewählt, bildete sich eine breite Linksfront oder rebellierten die ins Elend getriebenen Menschen massenhaft auf den Straßen, stünden die Militärs Gewehr bei Fuß, die in Deutschland gekauften Panzer zur Niederschlagung des Aufstands und Errichtung der nächsten Junta aus den Kasernen rollen zu lassen. Weigerten sich die griechischen Streitkräfte oder favorisierte man auf EU- und NATO-Ebene eine andere Lösung, rückten Interventionsstreitkräfte auf Athen vor, wo man die Mehrheit der Bevölkerung Griechenlands leichterdings einkesseln könnte. Das wäre allerdings aus Sicht der europäischen Führungsmächte und der ihre Interessen verkörpernden und transzendierenden EU-Administration die weitaus riskanteste Option, vitalisierte sie doch ohnehin wiedererwachte Erinnerungen an die Okkupation der deutschen Wehrmacht, deren nahtlose Fortsetzung durch die Siegermächte Britannien und USA wie auch die von Washington lancierte vorerst letzte Militärdiktatur.

Günstiger zu haben war der erwünschte Ausgang der Wahlen mit einer Drohkulisse, die alle vorangegangenen Bezichtigungen der Griechen übertrumpfend in ihrer Offenheit beispiellos war. Rigoros diktierte Bundeskanzlerin Angela Merkel dem griechischen Wahlvolk, daß jede Stimme für eine Partei, die sich dem Schuldenregime nicht bedingungslos unterwirft, ein Schritt in den Abgrund sei. Daß selbst die Strategen Europas zittern, weil der unkontrollierbare Flächenbrand immer weitere Besitzstände in Rauch aufzulösen droht, macht sie nicht weniger gefährlich. Während die Kanzlerin die Griechen mit dem Vorwurf unter Druck setzte, sie seien im Falle einer falschen Wahl für eine gesamteuropäische Katastrophe verantwortlich, forderte sie im selben Atemzug Machtzuwachs für die Brüsseler Administration, der die Nationalstaaten weitere Portionen ihrer Souveränitätsansprüche zu opfern hätten.

Was Griechenland heute an Auflagen insofern anheim gestellt wird, als man die Regularien konformer Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse wie auch pseudodemokratischer Wahlen zwischenschaltet, soll morgen in ein überstaatliches Rechtsgefüge gegossen werden, das eigenständige Handlungsoptionen drastisch einschränkt. Wer die Supermacht USA am Ende sieht und europäische Konsolidierungs- und Expansionsträume für gescheitert hält, sollte nicht vergessen, daß Herrschaft ihrer Natur nach nur eine Richtung kennt, nämlich in den Umwälzungen ihrer tiefsten Erschütterung die nächsthöhere Stufe der Zugriffsgewalt zu erklimmen. Das bedeutet Elend, Hunger und Krieg nach innen wie nach außen, um das Geschirr noch enger und unausweichlicher zu schmieden. Für die Schuldner nicht nur in Griechenland steht daher weit mehr auf der Tagesordnung als die Hoffnung auf Reduzierung einer Last, die doch niemals abzuschütteln ist, solange es Schuldherrn gibt.

18. Juni 2012