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HERRSCHAFT/1666: Wertkonservative grüne Hegemonie erobert bürgerliches Lager (SB)




Hatten sich die Grünen in den späten siebziger Jahren als Partei konstituiert, um die Gesellschaft nach ökologischen Maßgaben zu verändern, so zeichnet sich ihre Geschichte seither durch den umgekehrten Prozeß aus. Um der Regierungsfähigkeit willen paßten sie sich in anfangs erbitterten, heute jedoch kaum noch erkennbaren Flügelkämpfen an die herrschenden Verhältnisse an. Im Windschatten eines Joseph Fischer, der den Aufstieg von der Frankfurter Putzkolonne ins Außenministeramt so erfolgreich vorexerziert hat, lernten die Grünen schnell, wie man Angriffskriege ideologisch zu legitimieren und die soziale Verelendung im Innern elegant zu administrieren hat. Untergehakt bei den Sozialdemokraten und liebäugelnd mit den Schwarzen, bei Bedarf auch der Ampel nicht abgeneigt, emanzipierte sich die Partei des modernen saturierten Bürgertums von der Handlangerschaft für alteingesessene Platzhirsche. Selbstbewußt pocht sie heute darauf, das Kerngeschäft der parteipolitischen Konkurrenz längst effektiver zu betreiben als diese selbst.

Der künftige Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn ist so ein Fall. Vor mehr als 32 Jahren gehörte der studierte Philosoph und Germanist zu den Gründungsmitgliedern der Grünen in Baden-Württemberg und machte sich rasch einen Namen als Vordenker des Realo-Flügels seiner Partei. Sein Spitzname "Fischers Fritz" verdankt sich der Nähe zum früheren Außenminister und heutigen Konzernlobbyisten, Geldredner und Interpreten des Weltgeschehens. In den achtziger und neunziger Jahren saß Kuhn als Chef der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag. Von dort aus bereitete er seine Berliner Karriere vor und wurde Bundesvorsitzender der Partei, dann Bundestagsabgeordneter, später Fraktionschef im Bundestag. Nach zwölf Jahren in Berlin gibt er mit Amtsübernahme am 7. Januar 2013 sein Bundestagsmandat ab und kehrt nach Stuttgart zurück.

Ein politischer Abstieg des 57jährigen ist das keineswegs, hat er doch den Siegeszug der Grünen im bürgerlichen Lager einen vielbeachteten Schritt vorangetrieben. Im strukturkonservativen Baden-Württemberg, dem einstigen Stammland der Christdemokraten, stellen die Grünen bereits seit Jahren in den großen Universitätsstädten Tübingen und Freiburg die Oberbürgermeister. Vor 16 Jahren trat Rezzo Schlauch als grüner Oberbürgermeisterkandidat in Stuttgart an und verlor nur knapp gegen den CDU-Politiker Wolfgang Schuster. Vor drei Jahren eroberten die Grünen das Stuttgarter Stadtparlament und lösten die CDU dort als stärkste Kraft ab. 2011 wurde Kuhns Parteifreund Winfried Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident in Deutschland vereidigt, der seitdem die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg führt.

Wenn Kuhn im Januar die Amtsgeschäfte Schusters übernimmt, der nicht mehr zur Wahl angetreten war, wird er der erste Stuttgarter Rathausschef seit 38 Jahren, der nicht aus der CDU kommt, vor allem aber der erste grüne Oberbürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt sein. Ins Amt gebracht hat ihn ein Wahlkampf, der vor allem in der Vermeidung von Fehlern bestand und dessen Subtext "Keine Experimente" so fatal an frühere Kampagnen der CDU erinnerte, daß er einer konservativen Wählerschaft als das geringere Wagnis erschien. "Es war ein langer, langer Weg, es war ein langer Kampf", stellte Rezzo Schlauch sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel. Der Partei sei zugute gekommen, daß sie "realpolitisch und pragmatisch" argumentiert habe.

Im Hochgefühl seines Sieges nahm Fritz Kuhn kein Blatt vor den Mund und erklärte die Vorherrschaft von Christdemokraten und Liberalen im bürgerlichen Lager für verloren. Dort gebe es "keine Dominanz mehr von CDU und FDP. Das ist längst gebrochen". Die Grünen seien "breit ins Bürgertum eingedrungen". Seine Partei beherrsche "sehr viele Diskurse", die in der Stadt wichtig seien. "Die Grünen sind in Baden-Württemberg und Stuttgart hegemonial geworden." Die CDU sei in den Hauptstädten der Bundesrepublik nicht mehr mehrheitsfähig, da sie als letzte die modernen Großstadtthemen verstehe: "Erstmal müssen wir und die SPD etwas durchsetzen und dann kommt lange nichts, und dann kommt wieder lange nichts und dann findet es die CDU auch gut, aber wenn es schon durch ist", triumphierte der Grünen-Politiker. [1]

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth feierte den Sieg ihres Parteifreundes Kuhn als "riesengroßes Signal weit über Stuttgart und Baden-Württemberg hinaus". Mit Blick auf das Wahljahr 2013 sei dies "ein Trend, der sich fortsetzt". Nun gehe ihre Partei mit Rückenwind in das Bundestagswahljahr und die Landtagswahlen von Niedersachsen und Bayern. Die Union werde sich "Gedanken darüber machen müssen, ob sie die Großstädte für verloren erklärt", schwelgte Parteichef Cem Özdemir nicht minder im spektakulären Erfolg. Eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene schloß er aus: "Wir reichen den Unionswählern die Hand. Ich sehe aber nicht, wie wir im Bund zusammenkommen sollten. Dafür sind die Unterschiede dann doch zu groß." Unterdessen rief Jürgen Trittin seine Partei zu noch mehr Selbstbewußtsein auf: Die Grünen könnten aus dem Sieg lernen, daß sie niemandes Anhängsel mehr seien.

Die "politische Zeitenwende", wie sie Rezzo Schlauch heraufziehen sieht, dürfte von radikalökologischen Flausen kaum beeinträchtigt werden. Das zeigten schon die Erfahrungen in Tübingen und Freiburg, wo sich die grünen Bürgermeister als kompatibel mit einem konservativen Umfeld erwiesen. Auch Fritz Kuhn kündigte am Wahlabend nichts Weltbewegenderes als den raschen Ausbau der Kinderkrippen, die Feinstaubbegrenzung und mehr Transparenz bei "Stuttgart 21" an. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk befand denn auch der Politikwissenschaftler Prof. Hans-Georg Wehling von der Universität Tübingen, daß die wertkonservativen Grünen Fleisch vom Fleische der ehemaligen CDU-Anhänger seien. [2] Sie hätten sich besser an die urbanen Mittelschichten in den Großstädten angepaßt und seien überdies wählbar für die Bevölkerung in ländlichen Gebieten geworden, die ja längst nicht mehr nur aus Landwirten bestehe, sondern im Südwesten Deutschlands von Hochtechnologie durchsetzt sei. Wenn in Baden-Württemberg, das nur vier Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern aufweise, mit Stuttgart und Freiburg die Hälfte einen grünen Oberbürgermeister habe, unterstreiche das die Probleme der CDU im Großstadtmilieu.

Den grünen Durchmarsch nach dem Motto "je bürgerlicher desto wählbarer" als baden-württembergisches Erfolgsrezept schlicht zu verallgemeinern, hieße nach Ansicht Wehlings, die Flexibilität der Grünen zu unterschätzen. Während für Trittin in Berlin gelte, nur mit der SPD und sonst niemandem zu koalieren, sehe das in den Bundesländern nicht selten ganz anders aus. In Baden-Württemberg verstünden sich CDU und Grüne recht gut, und einer ausschließlichen Fixierung auf die Sozialdemokraten enthalte man sich auch anderswo. Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zieht nach der Stuttgarter Wahl die Bilanz: "Die Grünen sind hier schon lange kein Bürgerschreck mehr und gewinnen nicht nur Stimmen aus dem bürgerlichen Lager, sondern sind selbst Bestandteil des bürgerlichen Lagers." [3] Dem wäre also noch hinzuzufügen, daß die von Kuhn proklamierte grüne Hegemonie im Bürgertum notwendigerweise ein regierungsfixiertes Taktieren einschließt, dessen inhaltliche Beliebigkeit der Klientelorientierung der Traditionsparteien den Rang abläuft.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/oberbuergermeisterwahl-in-stuttgart-kuhn-cdu-in-hauptstaedten-nicht-laenger-mehrheitsfaehig-11934123.html

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1899734/

[3] http://www.bild.de/politik/inland/fritz-kuhn/oberbuergermeister-wahl-stuttgart-gruene-triumphieren-26811242.bild.html

22. Oktober 2012