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HERRSCHAFT/1673: Sicherung der Verwertungsordnung ist erste Parteienpflicht (SB)




Was als Lagerwahlkampf den Eindruck erweckt, hier werde hart um zwei alternative Politikmodelle gerungen, ist Ausdruck einer Klientelpolitik, deren Umverteilungsansprüche gegeneinander austauschbar sind. Ob es etwas wirtschaftsliberaler zugeht oder der Mindestlohn eingeführt wird, ob Studiengebühren abgeschafft werden oder der Ausbau der Massentierhaltung fortgesetzt wird, bleibt Stückwerk in Anbetracht einer Ausbeutung von Mensch und Natur, die die Lebensgrundlagen selbst gefährdet. Auf die Breite und Tiefe der Probleme, die die kapitalistische Eigentums- und Verwertungsordnung tagtäglich verschärft, hat dies kaum Auswirkungen. Aufgabe etablierter Politikerinnen und Politiker ist in erster Linie, die Rentabilitätshorizonte des Kapitals zu sichern, um die Existenz des auf Steuern angewiesenen Staates und damit die eigene Karriere zu sichern. Die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume sind in Anbetracht der historischen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen so schmal, daß sie mit großem medialen Aufwand als wichtig und bedeutsam in Szene gesetzt werden müssen.

Das trifft auf Landtagswahlen in besonderer Weise zu, wird dort doch nicht über weitreichendere Fragen von Krieg und Frieden, der Entdemokratisierung EU-Europas oder dessen räuberisches Verhältnis zum globalen Süden befunden. Dennoch hat die Niedersachsenwahl das politische Deutschland wochenlang in Atem gehalten, ganze Legionen von Wahlforschern und Journalisten arbeiten sich an Prognosen und Analysen zu ihrem Ergebnis ab, und ihr knapper Ausgang vermittelt den Eindruck, der Wähler könne mit seiner Stimme tatsächlich etwas bewegen. Was für einige landes- und kommunalpolitische Fragen zutrifft, gilt in keiner Weise für die Grundkonstante der kapitalistischen Vergesellschaftung. In ihrem Vollzug frönen bürgerliche Regierungen einer angeblichen Sachzwanglogik aus Standortbedingungen und Investitionsschutz, die über alles geht.

So sind sich alle vier weiterhin im niedersächsischen Landtag vertretenen Parteien im Grundsatz einig darin, die Austeritätspolitik der Bundesregierung ebenso mitzutragen wie die Privatisierungsprojekte, mit der sie umgesetzt wird. Der Widerstand der Bürger gegen die Auslieferung ihrer Daseinsvorsorge an Kapitalinteressen muß sich auch gegen Regierungsparteien richten, die auf Landesebene Wirtschaftsverbänden und großen Unternehmen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Modelle der kommunalen Selbstorganisation und der Rückführung privatisierter Stadtwerke in die Hand derer, die von ihren Leistungen abhängig sind, werden zwar von SPD und Grünen gutgeheißen. Doch krankt ihre auch für Erwerbslose erschwingliche Realisierbarkeit daran, daß sie letztendlich gegen politische Interessen erkämpft werden müssen, gegenüber denen Regierungsparteien ohne antikapitalistische Agenda schlechte Karten haben.

So werden unter der rot-grünen Landesregierung NRW weiterhin Kohlekraftwerke gebaut, obwohl der grüne Koalitionspartner deren besonders klimaschädliche Wirkung anprangert. Daß dieser Streitfall in der rot-grünen Regierungskoalition Niedersachsens anders gelöst wird, ist zu bezweifeln. Sich mit den Energiekonzernen anzulegen und auch noch für den Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich gemacht zu werden paßt nicht ins Konzept von Regierungen, in deren Kabinett selbst Vertreter von Konzerninteressen sitzen. Ganz deutlich wird dies bei der dominanten Rolle, die der VW-Konzern für die Politik eines Landes spielt, das 20 Prozent seiner Stammaktien hält. Aus dieser Kooperation ist die Public Private Partnership Wolfsburg AG hervorgegangen, die den neoliberalen Strukturwandel in der Region um die Autostadt vorantreibt, was die dort getroffenen politischen Entscheidungen unmittelbar den Weltmarktbelangen des Autoproduzenten ausliefert.

Mit dem ehemaligen Personalvorstand der Volkswagen AG Peter Hartz hatte der frühere Ministerpräsident Niedersachsens und Bundeskanzler Gerhard Schröder einen Experten für die betriebliche Rationalisierung des Faktors Arbeit aufgeboten, der die soziale Spaltung der Gesellschaft mit der Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes in seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannte Tiefen treiben sollte. Mit der von Hartz aus den Strategien der Kostensenkung und Leistungssteigerung im VW-Betrieb entwickelten, die betriebswirtschaftliche Effizienzlogik zur gesamtgesellschaftlichen Aktivierungsdoktrin verallgemeinernden Agenda 2010 wurde eine neue Form der Inwertsetzung des Menschen erschlossen, die vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit weitgehend abstrahiert. Anstelle dessen soll die ganze Wucht der gegen den einzelnen gerichteten Bezichtigung wirksam werden, nicht genug zu tun, um sich als produktives Mitglied der Arbeitsgesellschaft zu bewähren. Die mit dem Armutsregime Hartz etablierte Entsolidarisierung und Entdemokratisierung kann durchaus als Errungenschaft bezeichnet werden, die in der Wirtschaftsregion Südostniedersachsen ihren Anfang nahm. Daß diese Form des operativen Sozialdarwinismus, der der Transformation des Menschen zum Homo oeconomicus alle Türen öffnet, heute anderen europäischen Bevölkerungen zur Zurichtung der EU auf mehr Leistungsfähigkeit als Weltmarktakteur aufoktroyiert wird, bestätigt die hochgradige Wirksamkeit dieses Ergebnisses sozialinnovativer Modernisierung.

Der voraussichtliche Ministerpräsident Stephan Weil hat mit Peter-Jürgen Schneider, Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied der Salzgitter AG, Vorstandsmitglied in der Wirtschaftsvereinigung Stahl und im Arbeitgeberverband Stahl, einen ausgesprochenen Vertreter von Unternehmensinteressen zum Finanzminister vorgesehen [1]. Als künftiges Mitglied im Aufsichtsrat des zweitgrößten Autoherstellers der Welt wird Weil selbst dafür Sorge tragen, daß die Rentabilität des Konzerns, der wie alle Autoproduzenten durch den globalen Einbruch in den Absatzzahlen für Pkw herausgefordert ist, nicht an den Lohnforderungen seiner Belegschaft scheitert. Daß er damit auch Politik gegen eine Mobilitätswende macht, die den Verkehr aus ökologischen wie sozialen Gründen von der Straße auf die Schiene verlagert, ist Erblast einer Sozialdemokratie, deren Klientel immer weniger aus denjenigen Menschen besteht, die die Arbeitsgesellschaft überflüssig gemacht hat.

Fragen des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit haben im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt. Auch die wesentlich für das erfolgreiche Abschneiden der Grünen verantwortlichen Projekte der Energie- und Agrarwende bleiben strikt auf das pragmatisch Machbare beschränkt - so hat die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg schon vor der Landtagswahl den Kurs der Grünen kritisiert, Gorleben als zu prüfenden Standort aufrechtzuerhalten. Man darf gespannt sein, wie sich die neue Regierungskoalition gegenüber dem Widerstand gegen die Castorentransporte verhalten wird. Angesichts der Entscheidung der Grünen im Ältestenrat des Deutschen Bundestages, nicht die parlamentarische Immunität von vier Bundestagsabgeordneten der Linken, die die Aktion "Castor schottern" gutgeheißen haben, zu schützen und sie damit der strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, braucht man nicht auf entschiedene Parteinahme zugunsten des Anti-AKW-Widerstands hoffen. Nicht einmal die niedersächsischen Grünen hatten sich im September 2012 gegen die Aufhebung der Immunität der fraktionslosen Abgeordneten Christel Wegner gestellt, die ebenfalls wegen der Unterzeichnung des Aufrufs zur Kampagne "Castor? Schottern!" kriminalisiert werden soll.

Daß der radikalökologische Widerstand gegen die Massentierhaltung von der künftigen Landesregierung unterstützt werden wird, ist ebenfalls auszuschließen. Obschon ein ausgesprochen grünes Unterfangen, werden auch hier die Grenzen eng gezogen, sobald der Widerstand etwa gegen den Geflügelschlachthof Wietze und dessen Infrastruktur aus hunderten Mastbetrieben den Rahmen seiner institutionellen Einbindung überschreitet. Fleisch von glücklich geschlachteten Tieren zu verzehren ist das eine, sich im Grundsatz gegen Tierausbeutung zu stellen das ganz andere. Als agroindustrielles Kernland bündeln sich in Niedersachsen Probleme der materiellen Reproduktion des Menschen, denen mit einem Abwägen zwischen den Interessen der Produzenten und sogenannten Verbrauchern nicht beizukommen ist. Regierungsverantwortung bringt mehr mit sich als einen gutbezahlten Platz in einem bequemen Sessel, sie korrumpiert auch letzte verbliebene Ideale ehemaliger Aktivistinnen und Aktivisten selbst auf vermeintlichen Nebenschauplätzen wie dem der Landwirtschaftspolitik.

Fußnote:

[1] http://www.manager-magazin.de/politik/deutschland/0,2828,878162,00.html

21. Januar 2013