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HERRSCHAFT/1682: Bundeskanzlerin gegen Gesinnungsverdacht immun (SB)




"Das erste Leben der Angela M." - der Titel einer soeben veröffentlichten Biographie über die Jugend der Bundeskanzlerin in der DDR verheißt Enthüllungen, die so brisant nicht sein können. Ließe sich wirklich Belastendes aus der Jugend der CDU-Politikerin ans Licht der Öffentlichkeit zerren, dann wäre diese Gelegenheit zweifellos zu einem früheren Zeitpunkt gegen sie verwendet worden. Nach Lage der Vorberichte über das Buch der für den Springer-Verlag tätigen Journalisten Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann ist die von Bild.de aufgeworfene Frage "Wie viel DDR steckt in Angela Merkel?" [1] naheliegenderweise so zu beantworten: Auf jeden Fall nicht soviel, daß ihre Person dadurch kompromittiert werden könnte.

Was bleibt, ist die normale Karriere einer aufstrebenden Wissenschaftlerin, die wie Millionen andere DDR-Bürgerinnen und -Bürger Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) war und nicht als ausgesprochene Dissidentin auffiel. Ihr nachzusagen, sie habe als Nachwuchs-Funktionärin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zur "Elite im SED-Staat" gehört, ja sei gar eine "Reformkommunistin" gewesen, die nicht sofort für den Anschluß der DDR an die BRD eingetreten, sondern zuerst für einen demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR votiert habe [1], kann der Bundeskanzlerin kaum zum Nachteil gereichen. Das beweisen nicht nur die Karrieren westdeutscher Linker, die - um unter den vielen Beispielen nur zwei der bekanntesten, Otto Schily und Joseph Fischer, zu nennen - sich dadurch für höchste Ämter empfahlen, daß sie die Analyse von Ausbeutung und Unterdrückung im Kapitalismus in ihr Gegenteil, die Anwendung überlegenen Herrschaftswissens, verwandelten. Der gegen Merkel in Stellung gebrachte Gesinnungsverdacht verrät vor allem etwas über die niedrige Schwelle der antikommunistischen Inquisition - schon die für die Zeit vor 1989 ganz normale Anpassungsleistung einer jungen Frau, die sich zwischen den Widersprüchen ihrer gesellschaftlichen Situation durchlavieren will, anstatt gleich die Seite zu wechseln, soll den Anfangsverdacht einer SED-Loyalität begründen, die man bei dieser Christdemokratin nun wirklich nicht vermutet hätte.

Unterstellungen dieser Art sind ganz im Gegenteil dazu geeignet, ihrer Adressatin beste Noten für politische Intelligenz und gesellschaftliche Durchsetzungskraft auszustellen. Frühzeitig zu wissen, was die Stunde geschlagen hat, zu der es gilt, die Farben zu wechseln, den Instinkt zu haben, die Gelegenheit für einen Karrieresprung beim Schopf zu packen, ein Vorbild an Anpassungs- und Leistungsbereitschaft zu sein, sind Tugenden, die der Chefin einer marktliberalen Regierung ebensogut zu Gesicht stehen wie die ideologischen Häutungen, die eine unbekannte junge Sozialistin in eine der führenden Politikerinnen Europas verwandelt haben. Mit der Mode zu gehen, sich immer wieder neu zu erfinden, den eigenen Vorteil unter allen Umständen zu sichern, sind keine charakterlichen Mängel, sondern Leistungsmerkmale selbstoptimierter Marktsubjekte. Hätten biographische Episoden ein solches Gewicht, wie es das erste einer unbekannten Zahl von Leben der Angela M. nahelegt, dann wäre Deutschland ein Gottesstaat, weil ein aus der DDR stammender Pfarrer Präsident und eine dort aufgewachsene Pfarrerstochter Bundeskanzlerin ist.

Das Elend derartiger Verdächtigungen besteht nicht darin, daß eine hochrangige Politikerin in ihrer opportunistischen Windschnittigkeit bloßgestellt werden könnte, gehört diese Eigenschaft doch zur Grundausstattung politischen Erfolgs. Es ist vielmehr die Unterstellung, daß die Biographie und Persönlichkeit einer Amtsträgerin Wesentliches über die Art und Weise des von ihr zu verantwortenden Regierungshandelns aussagte. Die Personalisierung politischer Machtverhältnisse suggeriert eine individuelle Handlungsfähigkeit, die maßgebliche Faktoren und Interessen unterschlägt, um das Trugbild im ursprünglichen Sinne demokratisch bestimmter Verhältnisse aufrechterhalten zu können. Und so vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mit dem Finger auf die seit langem untergegangene DDR gezeigt wird, auf daß das Publikum nicht auf den Gedanken kommt, selbst unter der Knute einer Herrschaft zu stehen, deren apersonaler, in gesichtslosen Bürokratien, formalen Rechtsnormen und abstrakten Wertpostulaten aufgelöster Charakter auf ganz gegenständliche Weise als Zwang und Gewalt hervortritt.

Fußnote:

[1] http://www.bild.de/politik/inland/angela-merkel/wie-viel-ddr-steckt-in-angela-merkel-30358590.bild.html

15. Mai 2013