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HERRSCHAFT/1704: Wie weit reicht der Schrei nach Gerechtigkeit? (SB)




Der Schrei nach Gerechtigkeit, der inzwischen in den ganzen USA laut wird, ist zutiefst begründet. Er geht jedoch nicht in erster Linie, wie auch in der deutschen Berichterstattung glauben gemacht wird, aus dem rassistischen Charakter der nichtweiße Menschen benachteiligenden Strafjustiz des Landes hervor. Was die landesweiten Proteste im Kern befeuert, ist die soziale Repression einer Klassengesellschaft, deren liberales Credo, in ihr sei jeder seines Glückes Schmied, noch nie gestimmt hat und heute weniger denn je zutrifft. Die Fokussierung der Analyse der Proteste auf den rassistischen Charakter des gesellschaftlichen Konflikts ist denn auch, so sehr sie der drastischen Benachteiligung afroamerikanischer und hispanischer Minderheiten in fast allen Bereichen des Lebens entspricht, zugleich ein wirksames Mittel, um die sozialen Wurzeln des Konflikts zu ignorieren und zu übergehen.

Sich an der vereitelten Anklageerhebung des weißen Darren Wilson und der fortgesetzten Dämonisierung seines schwarzen Opfers Michael Brown als eines gefährlichen gewalttätigen Jugendlichen abzuarbeiten, beschränkt die Proteste auf die Forderung, die rechtsstaatlichen Grundlagen der US-Gesellschaft zu respektieren und ihren Mißbrauch zu beenden. Erst die Erkenntnis, daß es sich um eine Form der Klassenjustiz handelt, die ethnische Minderheiten vor allem deshalb überproportional benachteiligt, weil diese auch in weit höherem Ausmaß als die weiße Mehrheit sozial unterprivilegiert und politisch unterrepräsentiert sind, eröffnet den Zugang zu einem sozialen Widerstand, der sich nicht mit symbolpolitischen Trostpflastern abspeisen läßt.

Wäre die drastische Ungleichheit in der US-Gesellschaft allein auf unterschiedliche Ethnien zurückzuführen, dann wäre sie durch die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und die daraus hervorgegangenen Gleichstellungsgesetze und Quotierungsprogramme weitgehend aufgehoben worden. Statt dessen wurde die Benachteiligung nichtweißer Minderheiten strukturell vertieft und ökonomisch verschärft. Alle Lippenbekenntnisse führender Politiker haben nichts daran geändert, daß die Knäste weit überproportional von jungen schwarzen Männern bevölkert werden, daß sie besonders lange Zeitstrafen verbüßen müssen und besonders häufig in menschenfeindliche Isolationshaft gesteckt werden. Schon das alltägliche Straßenbild läßt erkennen, daß der Anteil nichtweißer Menschen an den Hungernden und Obdachlosen des Landes übergroß ist. Fast jeden Tag wird ein schwarzer Mann von einem weißen Polizisten erschossen, Schwarze geraten weit häufiger in Polizeikontrollen als ihre weißen Mitbürger, und ihre Stigmatisierung als potentiell gefährlich und kriminell findet weit im Vorfeld ihrer offenen rassistischen Herabsetzung statt.

All das ist wohlbekannt und hat sich auch unter dem ersten schwarzen US-Präsidenten um keinen Deut zum Positiven verändert. Ganz im Gegenteil, die Jubelarien nach dem ersten Wahlsieg Barack Obamas, die USA würden nun in ein postrassistisches Zeitalter eintreten, hätten nicht brutaler widerlegt werden können. Obwohl direkter Nachfolger eines Präsidenten, der vor allem als gescheiterter Feldherr abgewählt wurde, hat der ehemalige Sozialarbeiter aus Chicago weder weniger Krieg in aller Welt geführt noch mehr für die sozial Benachteiligten im eigenen Land getan. Er gelangte vielmehr zu seinem Amt, weil er als personifizierter Klassenkompromiß nicht besser dazu geeignet sein könnte, soziale Konflikte in die vergleichsweise harmlose Bahn eines Versagens der Strafjustiz oder anderer gesellschaftlicher Regulative zu lenken. Gerade als nichtweißer Präsident ist Obama in der Lage, die Menschen in Ferguson illegitimer Gewaltakte zu bezichtigen, obwohl die Polizei dort auf friedliche Demonstranten mit Gummigeschossen losging.

Ohne ihre primäre Verankerung in der sozialen Frage bleibt die Debatte um den Rassismus der US-Gesellschaft ein zahnloser Tiger, der Befriedungsstrategien Vorschub leistet, die die Unterdrückung der Menschen durch die herrschende Eigentumsordnung, den freien Markt und die Klientelwirtschaft in der Politik nur noch wirksamer zementieren. Der Ruf "No Justice, No Peace" beschwört den Frieden der Paläste, der des Krieges der Hütten so sehr bedarf, daß der alltägliche Rassenhaß seinen Nutznießern nicht gelegener kommen könnte. Von daher kratzt die einvernehmliche Meinung großer Teile der deutschen Bevölkerung, der Rassismus sei das Hauptproblem der US-Gesellschaft, nicht an den eigenen Klassenwidersprüchen. Deren sozialrassistischer Charakter, exemplarisch vorgeführt an der Bezichtigung überflüssig gemachter Menschen, an ihrer desolaten Lage selbst schuld zu sein, unterscheidet sich nicht so sehr von der offenen Diffamierung nichtweißer Menschen in den USA.

Die Aufteilung der Welt und ihrer Ressourcen erfolgt zwar vornehmlich zu Lasten der Bevölkerungen des Südens und ihrer nichtweißen Repräsentanten in den Ländern des Nordens. Dies jedoch in der Hauptsache als Folge rassistischer Ideologie zu kritisieren, ignoriert die Praxis eines Imperialismus, der sich nicht umsonst das Mäntelchen liberaler Freiheiten und humanitärer Werte umhängt. Indem die prinzipielle Gleichheit von Hautfarbe und Geschlecht im Rahmen unveräußerlicher Menschenrechte postuliert und ihre Mißachtung als zu behebender Mißstand ausgewiesen wird, machen sich seine Sachwalter unangreifbar gegen den Vorwurf, zu ihrem Vorteil über Leben und Tod von Millionen zu entscheiden.

Wer der globalen Elite angehört, bewegt sich ohne größere Probleme quer über die Kontinente, um an jedem Ort Privilegien in Anspruch zu nehmen, auf die der an immer kürzerer Leine gehaltene übergroße Rest der Menschheit keinen Zugriff hat. Begehren Menschen, wie in Ferguson geschehen, doch einmal auf, dann laufen sie Gefahr, sich von den Technokraten der politischen und massenmedialen Deutungsmacht erklären zu lassen, wieso sie dies tun und wie Abhilfe für ihre Empörung geschaffen werden kann. Um nicht einmal mehr ins Bockshorn der Hoffnung auf eine Gerechtigkeit gejagt zu werden, die im Rechtsanspruch auf Privateigentum gründet, anstatt den Kodex dieses Rechts als Instrument bürgerlicher Herrschaft zu verwerfen, bedarf es mehr als identitätspolitischer Regulative, der Beteiligung an herrschenden Wahrheitsdiskursen und eines Interessenausgleichs, der sich gegen Dritte richtet. Wenn die Proteste in den USA zur Folge hätten, daß ein nennenswerter Teil der Bevölkerung nicht mehr auf das patriotische Glaubensbekenntnis von der führenden Nation, die für alle Angelegenheiten von globaler Bedeutung zuständig sei, eingeschworen werden kann, dann wäre viel von dem erreicht, was den Menschen an sozialem Widerstand mit Gewalt ausgetrieben werden soll.

26. November 2014