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HERRSCHAFT/1745: Vorwandsstrategien ... (SB)



Bodycams - Waffe im Arsenal polizeilicher Totalüberwachung

Die behördliche, polizeiliche und geheimdienstliche Ausspähung nahezu sämtlicher Kommunikations- und Lebenssphären des Menschen sowie die Ausweitung gesetzlicher und rechtlicher Ermächtigungen gehören mittlerweile zur Standardprozedur sich in technisch-technologischen Machbarkeitsräuschen befindlicher Sicherheitsgesellschaften. Jeder Anlaß, der sich als Gefährdung oder Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit interpretieren läßt, wird von politisch interessierter Seite genutzt, um innovative Methoden, Verfahren und Instrumente verschärfter Sozialkontrolle einzuführen. So hat auch die Regierungskoalition den Lkw-Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche zum Anlaß genommen, neue Sicherheitsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Die von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) bereits im Sommer vorgestellten Gesetzentwürfe sehen eine Ausweitung der Videoüberwachung an öffentlichen Orten, sogenannte Bodycams für Bundespolizisten und automatische Lesesysteme für Fahrzeugkennzeichen vor. [1] Darüber hinaus möchten KoalitionspolitikerInnen das heimliche Mitlesen von Messengerdiensten wie WhatsApp oder Skype ermöglichen. Per Gesetz soll erlaubt werden, daß Handys in Zukunft mit einer richterlichen Genehmigung vollständig überwacht werden können ("Bild"-Zeitung, 23.12.16). Eine Videoüberwachung, die Gesichtserkennung erlaubt und biometrische Daten direkt mit Fahndungsdatenbanken abgleicht, dürfte ebenfalls Bestandteil der "Technologieoffensive" sein, wie sie Thomas de Maizière mit aller Macht anstrebt. "Mein Ziel ist es, Lichtbilder und moderne Gesichtserkennungssyteme auch für die Arbeit der Sicherheitsbehörden zu nutzen", erklärte de Maizière bereits im August. "Perspektivisch sollen sie mit vergleichbarer Zuverlässigkeit wie bei einem Fingerabdruck zur Identifizierung von Personen eingesetzt werden können." [2]

Was die Bodycams betrifft, so sollen sie eine bessere Verfolgung von Straftaten ermöglichen und die Anzahl von Gewaltdelikten gegen Polizisten verringern, heißt es aus dem Ministerium. Obwohl es große Zweifel an der Eignung und Wirksamkeit der Maßnahmen gibt, verspricht sich die Polizei eine beweissichere Dokumentation von Übergriffen auf Beamte sowie eine abschreckende Wirkung auf potentielle Angreifer.

Diverse Studien zeigen allerdings unterschiedliche und widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Effekte von Körperkameras. Untersuchungen in den USA, wo Bodycams seit 2008 im Einsatz sind, kommen sogar zum gegenteiligen Ergebnis: Weder werden die Beamtinnen und Beamten geschützt noch wird ein Beitrag zur Gewaltdeeskalation geleistet. Das Gegenteil kann sogar der Fall sein: Trotz der an Brust oder auf der Schulter angebrachten Digitalkamera steigen die Gewaltakte. [3] Ebenso fraglich ist, ob Videokameras - um die Blickrichtung einmal umzudrehen - einen relevanten Beitrag dazu leisten können, rechtswidrige Polizeigewalt präventiv einzudämmen oder zwecks verbesserter Strafverfolgung zu dokumentieren. So liegt es in Deutschland in der Entscheidungsgewalt der Beamten, welche Bilder von einem Einsatz aufgenommen werden und wann die Kamera ein- oder abgeschaltet wird. Dadurch können "Manipulationen nicht ausgeschlossen werden", wie Amnesty International Anfang November in einer Stellungsnahme an den Innenausschuß des Niedersächsischen Landtags konstatierte. "Obwohl sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern von Body Cams oftmals angenommen wird, dass diese Kameras die Wirklichkeit abbilden, können die am Körper getragenen Kameras nie ein objektives Bild des gesamten Geschehens liefern und zeigen jeweils nur einen Teilbereich von Ereignissen. Das Umfeld, kausale Zusammenhänge und situative Verläufe können nicht erfasst werden." [4]

Mit anderen Worten: Die Interpretation der selektiven Wackelbilder kann sich auch zu Lasten von Unschuldigen auswirken. Kameraobjektive sind keinesfalls "neutrale Instrumente", sondern spiegeln immer die Interessen der sie einsetzenden Menschen wider. Das von Polizeivertretern nicht selten angeführte Argument von der "Waffengleichheit", die auf seiten der Polizei mit Hilfe von Bodycams herzustellen sei, um den nicht selten kompromittierenden Handy-Bildern der Bürger (oder Privatdrohnen) eine die Polizei entlastende Darstellung des Tatverlaufs zu ermöglichen, läßt erahnen, daß es sich beim Gegenüber von Polizei und Bürgern um ein hochumkämpftes Konfliktfeld handelt, auf dem sich die Staatsgewalt weder ihre Kampfmittel noch Sicht der Dinge madig machen lassen möchte. Zumal nicht nur in den USA der Vorwurf im Raume steht, die Polizei würde ihr Gewaltmonopol zur Verdeckung eigener Übergriffe oder Straftaten ausnutzen.

So berichtete das Rechercheportal correctiv.org, daß in Deutschland Polizisten, wenn sie über die Stränge schlagen, fast nie bestraft würden, und präsentierte erstaunliche Zahlen: Demnach wurden im Jahr 2014 2.138 Polizisten wegen Körperverletzung von Bürgern angezeigt. Nur gegen 33 Polizisten hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben (1,5 Prozent). Wie viele Polizisten tatsächlich verurteilt wurden, werde nicht statistisch erhoben. Es dürften, wenn überhaupt, eine Handvoll sein, so correctiv. Auf der Gegenseite erhalte meist jeder, der einen Polizisten anklagt, eine Gegenanzeige wegen "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte". 2014 sollen fast alle Fälle von einer Staatsanwaltschaft zur Anklage gebracht worden sein, rund ein Viertel der Beschuldigten wurde am Ende auch verurteilt. [5] Auf entsprechende "Diskrepanzen" zwischen Polizeibeamten und Normalbürgern bei der Anklageerhebung, Verurteilungs- und Freispruchquote hatte Jahre zuvor schon der Rechtswissenschaftler und Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein (FU Berlin) hingewiesen. [6]

Der Einsatz von Bodycams dürfte eher nicht zu einer Entspannung des problematischen Verhältnisses von Polizei- und Bürgergewalt beitragen, zumal er im Polizeivollzug neue Mißtrauenssignale, Schuldvorhalte und Drohpotentiale freisetzt. Ein Polizist, der eine Kamera mit der Absicht einschaltet, potentielle Gewalttäter abzuschrecken, könnte auch eine gezogene Waffe vor sich hertragen und würde einen ähnlichen Abschreckungseffekt erzielen. Zwar mögen die Folgen von Bodycams für die Betroffenen nicht tödlich sein, sie können aber gleichwohl gravierende Langzeitwirkungen entfalten, etwa wenn sie als Beweismittel bei Gerichtsverhandlungen zu Lasten der Angeklagten verwandt werden. Der naive Glaube, Unschuld schütze vor Strafe, stößt spätestens dort an seine Grenze, wo die Streitparteien nicht über die gleichen Mittel der Beweisdokumentation verfügen und der Polizei aufgrund eigener scheinobjektiver Videobilder oder Tonaufnahmen eine erhöhte Glaubwürdigkeit bescheinigt würde, die den "Hütern von Recht und Ordnung" - stellvertretend für die gesamte Institution - ohnehin bereits attestiert wird.

Schon jetzt ist absehbar, daß der großflächigen Erweiterung der Videoüberwachung unter anderem in Einkaufszentren, Sport- und Vergnügungsstätten, auf Parkplätzen sowie in Bussen und Bahnen, wie in der Gesetzesnovelle vorgesehen, sowie der Aufrüstung der Polizei mit mobiler Videotechnik weitere Technologieschritte bis hin zur totalen Überwachung des Bürgers folgen werden. So ist es längst kein Geheimnis mehr, daß die Erfassungssysteme später mit polizeilichen und/oder geheimdienstlichen Datenbanken vernetzt und/oder Gesichtserkennungsservern verbunden werden sollen.

Gegenüber der sich immer lauter formierenden Front aus Politikern und Lobbyisten der Sicherheitsindustrie, die Datenschutz als "Täterschutz" oder "Forschungshemmnis" brandmarken, geraten strenge Datenschutzregelungen oder grundgesetzlich verbürgte Rechte wie das der informationellen Selbstbestimmung oder des Schutzes der Privatsphäre immer mehr in den Ruch sicherheitstechnologischer Fortschrittsverweigerung und werden dementsprechend marginalisiert. "Dem Schutz der Allgemeinheit ist Vorrang vor dem Schutz der informationellen Selbstbestimmungsfreiheit einzuräumen", erklärte vor wenigen Tagen der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Weil das Sicherheitsbedürfnis wegen der erhöhten Terrorgefahr und der steigenden Alltags- und Haßkriminalität deutlich zunehme, gewinne die Videoüberwachung im Nahverkehr und an anderen zentralen Orten an Bedeutung. [7]

Gegenwärtiges Entwicklungshemmnis für eine "intelligente Videoüberwachung", worunter "Videosysteme mit algorithmischer Mustererkennung" zu verstehen sind, die nicht nur auf automatische Gesichtserkennung zielen, sondern auch auf das "Preditive" oder "Protest Policing" (Versuche, Ort und Zeit künftiger Taten/Proteste rechnerisch vorherzusagen und vor ihrer Entstehung zu unterbinden), stellt allein die technische Machbarkeit dar, wie aus einer Grünen-Anfrage an die Bundesregierung hervorgeht, die die Einführung von Gesichtsdatenbanken, die zu Abgleichen mit Echtzeitbildern geeignet wären, keineswegs ausschließt, zumal Bundesbehörden auf der Grundlage der geltenden gesetzlichen Bestimmungen bereits Bilddatensammlungen führen. Seit das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2006 begonnen hat, biometrische Gesichtserkennungssoftware zu erproben, sind immerhin schon zehn Jahre vergangen. "In der Zwischenzeit haben sowohl die Industrie als auch die Forschung signifikante Verbesserungen auf diesem Gebiet erzielt", heißt es in der Antwort der Bundesregierung vom 25. Oktober vergangenen Jahres (Drucksache 18/10137).

Als Steigbügelhalter für die Erforschung, Erprobung und Weiterentwicklung der biometrischen Videovollüberwachung, sowohl stationär als auch mobil, könnte sich die Deutsche Bahn erweisen. So teilte das Innenministerium mit, daß die Bundespolizei derzeit Zugriff auf rund 6.400 Videokameras der Deutschen Bahn hat. Insgesamt soll die Bahn nach Angaben des Unternehmens vom August etwa 5.000 Kameras an 700 Bahnhöfen im Einsatz haben. Mehr als die Hälfte aller Nahverkehrszüge ist mit insgesamt 27.000 Kameras ausgestattet. Das BMI, die Bundespolizei und das BKA befänden sich derzeit mit der Deutschen Bahn AG "in Abstimmung, um den Nutzen intelligenter Videoanalysetechnik an einem Pilotbahnhof zu testen".

Wie die Faust aufs Auge paßt dazu die vorweihnachtliche Botschaft, daß die Deutsche Bahn - immerhin ein privatrechtlich organisiertes Staatsunternehmen - ihre Sicherheitskräfte in Zügen testweise mit Körperkameras ausrüsten will. Als hätte Thomas de Maizière persönlich die Regieanweisung gegeben, wurden Bodycams als "großer Erfolg im Kampf gegen Kriminalität" in den Medien gefeiert: In 3.500 Einsatzstunden habe es keine Angriffe auf die Sicherheitsmitarbeiter gegeben. Jetzt sollen die Körperkameras bundesweit eingesetzt werden, heißt es. [8]

Welches Unternehmen wird als nächstes melden, seine gefährdeten Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter per mobiler Videoüberwachung (im Rahmen des Hausrechts) besser schützen zu wollen? Warum nicht auch MitarbeiterInnen von Arbeitsagenturen mit Bodycams ausrüsten, wenn sie Leistungskürzungen bei Hartz-IV-Beziehern durchsetzen müssen, die sich vermeintlich "sozialwidrigen Verhaltens" schuldig gemacht haben, aber schulduneinsichtig sind? Um "Waffengleichheit" bei der repressiven Behandlung von als potentiell "betrügerisch" oder "schmarotzend" verunglimpften Fürsorgeberechtigten zu erzielen, wäre dies aus Sicht des Staates, der nicht nur sein Gewalt- und Maßnahmemonopol zu verteidigen hat, sondern auch seinen Technologiestandort, allemal angebracht.

Fußnoten:

[1] http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/12/gesetzesentwuerfe.html. 21.12.2016.

[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2016/08/pressekonferenz-zu-massnahmen-zur-erhoehung-der-sicherheit-in-deutschland.html. 11.08.2016.

[3] https://www.jungewelt.de/2016/11-10/054.php. 10.11.2016.

[4] http://amnesty-polizei.de/wp-content/uploads/2016/11/Stellungnahme_BodyCams.pdf. 03.11.2016.

[5] https://correctiv.org/blog/2016/02/12/polizeigewalt-zahlen-faelle/. 12.02.2016.

[6] http://www.nk.nomos.de/fileadmin/nk/doc/Aufsatz_NK_14_01.pdf.

[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/article160643348/Datenschutz-darf-nicht-zum-Taeterschutz-werden.html. 28.12.2016.

[8] http://www.heute.de/deutsche-bahn-testet-bodycams-jetzt-auch-in-zuegen-46132950.html. 18.12.2016.

3. Januar 2017


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