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HERRSCHAFT/1764: Der Große Bruder wacht bereits ... (SB)



Helene Fischer und DFB-Pokalfinale - das bringt den Fußballfan in Wallung. Die "riesige gesellschaftliche Bedeutung", die Justizminister Heiko Maas (SPD) dem Sport beimißt, während er und sein Kollege aus dem Innenministerium, Thomas de Maizière (CDU), immer schärfere Straf- und Überwachungsgesetze auf den Weg bringen, hat seinen Grund. Denn über die sozialen Befriedungsfunktionen hinaus dienen sportliche Massenveranstaltungen auch als Entwicklungs- und Erprobungsfeld für innovative Kontrolltechnologien. So nimmt es nicht wunder, daß die "Helenefischerisierung" im Fußball den Hausmannskost verlangenden Normalkonsumenten mehr aufregt als die automatische Gesichtserkennung, wie sie etwa beim Finale der diesjährigen Champions League in Cardiff erprobt wurde. Die Gesichter von mindestens 75.000 Menschen sollen am Bahnhof und im Millennium Stadium mit einer Datenbank von rund 500.000 Gesichtern abgeglichen worden sein, um verdächtige Personen frühzeitig am Stadioneintritt zu hindern. Das Pilotprojekt zur Echtzeitüberwachung reiht sich ein in zahlreiche Big-Brother-Maßnahmen, die Großbritannien auf den Weg gebracht hat. So hat die Regierung im vergangenen Jahr ein neues Überwachungsgesetz ("Investigatory Powers Bill") in Kraft gesetzt, das Bürgerrechtler als das extremste bezeichnen, das jemals in einer Demokratie verabschiedet wurde. Polizei- und Geheimdiensten sowie Behörden ist eine nahezu schrankenlose Telefonie- und Internetüberwachung aller Bürger mittels Providern und Telekommunikationsunternehmen in Echtzeit erlaubt. [1]

Doch wie sieht es in Deutschland aus? Zwar sind kritische oder alternative Medien voll mit Expertenstimmen, die vor den Gefahren für die Bürger- und Freiheitsrechte warnen, doch das hindert CDU/CSU und SPD nicht daran, die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung so auszuweiten, daß von den vielgepriesenen freiheitlichen Werten in einer demokratischen Gesellschaft kaum mehr als ein digitaler Fingerabdruck übrig bleibt.

In den letzten Monaten wurde zum einen die (private) Videoüberwachung in Einrichtungen des öffentlichen Schienen-, Schiffs- und Busverkehrs und öffentlich auf Anlagen wie Sportstätten und Einkaufszentren ausgeweitet ("Videoüberwachungsverbesserungsgesetz"). Den Beschlüssen des Bundestags zufolge sind künftig auch Körperkameras von Polizisten zulässig. Außerdem darf die Bundespolizei seit Mai automatisch mit Kfz-Scannern Autokennzeichen erfassen und auswerten. Im April wurde beschlossen, daß auch in Europa Fluggastdaten genutzt werden dürfen. So können EU-Sicherheitsbehörden von Fluggesellschaften die Daten von rund 170 Millionen Passagieren abrufen, darunter Angaben zu Reiseverlauf, Zahlungsart oder Gepäckstücken (in Belgien wurde die Massenspeicherung von Passagierdaten bereits auf Bahn- und Busreisen ausgedehnt).

Um Videosysteme mit algorithmischer Mustererkennung möglich zu machen, worunter Gesichtserkennungssysteme zu verstehen sind, die "perspektivisch mit einer vergleichbaren Zuverlässigkeit wie der Fingerabdruck zur Identifizierung einer Person beitragen" können sollen, wie es aus dem Bundesinnenministerium heißt [2], müssen von allen Bürgern haarscharfe Bilder in Datenbanken hinterlegt sein, auf die alle Behörden Zugriff haben. Folgerichtig wurde Mitte Mai die Erlaubnis zur Reform des Personalausweisgesetzes erteilt. Demnach soll es Polizeien, Geheimdiensten, Verfassungsschutzämtern oder dem Militärischen Abschirmdienst erlaubt sein, Lichtbilder bei den Meldeämtern automatisch abzurufen - ein weiterer Schritt zur nationalen Biometriedatenbank sowie zu automatisierten Überwachungs- und Fahndungssystemen. Zugriff auf die biometrischen Personalausweisdaten sollen nicht nur die Polizeien, sondern auch Zoll- und Steuerfahndungsdienste sowie Ordnungsämter (ab Mitte 2018) erhalten, etwa um Verkehrsordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Auf europäischer Ebene wurden letztes Jahr Forderungen von de Maizière nach einer biometrischen Superdatenbank ("zentralisiertes Kernsystem") laut, die alle bestehenden Datenbanken zu "Reisen, Migration und Sicherheit" verknüpft. Auf nationaler Ebene haben sich erst jüngst die Innenminister von Bund und Ländern auf ein noch zu erarbeitendes "Musterpolizeigesetz" geeinigt, das für deutschlandweit einheitliche Sicherheitsstandards sorgen soll und zu einer weiteren Zentralisierung digitaler Daten führen wird (einschließlich einer Übertragung der extrem grundrechtseinschränkenden Anti-Terror-Maßnahmen auf gewöhnliches Polizeirecht). Schrittmacherdienste hierfür leistete bereits das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin, wo entgegen dem Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten über 40 deutsche Sicherheitsbehörden unter einem Dach zusammenarbeiten.

Neben der biometrischen steht auch die erbgenetische Vermessung des "gläsernen Bürgers" zu Fahndungszwecken an. Nicht nur der Direktor des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin, Klaus Püschel, der sich jüngst für eine Totalerfassung von DNA-Profilen der gesamten Bevölkerung ausgesprochen hatte, sondern auch einige Law-and-Order-Politiker drängen darauf, die polizeilichen Befugnisse bei der DNA-Analyse zu erweitern. Bislang ist es den Forensikern noch verboten, die DNA auf Marker für Haut-, Haar- oder Augenfarbe zu untersuchen, um dann etwa Massenuntersuchungen durchzuführen oder per Videoüberwachung nach spezifischen Merkmalsträgern Ausschau zu halten. Doch die genetische Vorratsdatenspeicherung ist ebenso auf dem Vormarsch wie die datenkommunikative. So plant der CDU-Innenminister das sogenannte genetische Phantombild als Beweismittel in Strafverfahren zuzulassen. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete, sollen Ermittler künftig DNA-Proben aus Speichel, Blut oder Haaren auch zur Vorhersage des äußeren Erscheinungsbildes, der biogeographischen Herkunft sowie des Alters einer Person heranziehen dürfen, was die Gefahr einer rassistischen Diskriminierung und der Verfolgung von Falschpositiven in sich birgt. [3]

Es scheint kaum noch rechtliche Hürden zu geben, die nicht mit dem Generalargument einer effektiveren Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung ("für mehr Sicherheit") beseitigt oder umgangen werden könnten. Im Mai wurde auch die Neustrukturierung des Bundeskriminalgesetzes (BKA-Gesetz) durch den Bundesrat gewunken. Es ermöglicht den Ermittlern erweiterte Befugnisse bei der Telefon- und Onlineüberwachung, bei der heimlichen Einschleusung von Spähsoftware auf Privatcomputern oder bei der verdeckten Wohnungsüberwachung, die alles in den Schatten stellen, was es bislang an Grundrechtseingriffen gab. Polizeien und Behörden können praktisch alle privaten Speicherinhalte eines Computers oder Handys in Echtzeit ausspionieren. Auch Verschlüsselungen dürfen umgangen werden (Quellen-Telekommunikationsüberwachung/TKÜ). Bürgerrechtsorganisationen kritisieren in einer gemeinsamen Presseerklärung, daß Beamte durch die Möglichkeit, online die Privatcomputer zu durchsuchen, eine umfassende Einsicht in das Leben des Betroffenen bis hinein in dessen Gedanken- und Gefühlswelt erhalten. "Damit geht die Eingriffsintensität dieser Maßnahme noch deutlich über die des großen Lauschangriffs hinaus - der bislang eingriffsintensivsten Ermittlungsmaßnahme." [4]

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, in welche Richtung sich ein Hochtechnologieland wie Deutschland entwickeln wird, wenn die panoptischen Systeme der Geheimdienste, Polizeien und Behörden in Stellung gebracht sind und mit den IT-Technologien zur digitalen Bewirtschaftung des arbeitsplatzüberwachten Beschäftigten, googlegesteuerten Verbrauchers und app-animierten Konsumenten harmonieren, sollte nach China schauen. Dort zeichnet sich ab, worauf auch die Bundesrepublik in Riesenschritten zusteuern könnte, die schon aus Gründen der eigenen "Wettbewerbsfähigkeit" keine Innovation auf dem globalen "Zukunftsmarkt" der Big-Data-Technologien auslassen wird. Immerhin ist China noch vor Frankreich und den USA zum wichtigsten Handelspartner Deutschlands aufgestiegen. So setzt China die digitalen Massenausspähprogramme der USA, die Sanktionsprogramme für "anti-soziales Verhalten" in Großbritannien oder die Kredit-Scoring-Programme für deutsche Banken (SCHUFA), um nur einige Beispiele zu nennen, so konsequent um, daß selbst den hiesigen Schönrednern der marktgerechten Leistungsgesellschaft plötzlich speiübel wird. Aber nur vorübergehend, bis auch hierzulande die staatlichen und privaten Datenaggregatoren den formalrechtlichen Demokratiestempel bekommen haben - was ja faktisch bereits geschieht, denn die neuen behördlichen und polizeilichen Überwachungsbefugnisse wurden oder werden ungeachtet verfassungsrechtlicher Einwände, der fortgesetzten Schwächung des Datenschutzes oder unverhohlener Verfahrenstricks (Stichwort "Formulierungshilfe") durchs Parlament gebracht.

Im Reich der Mitte, das in den letzten Jahren seine Cybersicherheits- und Geheimdienstgesetze unter ähnlichen oder identischen Vorwänden, wie sie auch hierzulande ins Feld geführt werden, extrem verschärft hat, soll bis 2020 ein umfängliches Sozialkreditsystem ("Citizen Score") aufgebaut werden. Sämtliche Bürger sollen eine Bewertung erhalten. In Abstimmung mit der Regierung wird das Scoring-System von den großen Internetunternehmen Alibaba und Tencent betrieben, die im weiteren mit den Behörden vernetzt sind. Die Führung in Peking setzt genau dort an, wo auch hierzulande die Affinitäten und Akzeptanzen Fleisch geworden sind, nämlich bei Werten wie Moral, Erfolg, Leistung oder Pflichtgefühl. Ziel ist es, die Bürger zu ehrlicherem Verhalten zu erziehen. Das System umfaßt "eine integrierte Bestrafung und Blacklist-Mechanismen, so daß unredliches Verhalten ("dishonest behavior" - Anm. d. Red.) zu Einschränkungen auf Schritt und Tritt führen wird", kündigte Premier Li Keqiang schon 2015 an. [5]

Um das soziale (Wohl-)Verhalten auswerten zu können, werden alle digitalen Spuren herangezogen, die der Bürger etwa beim Onlineeinkauf, bei Suchanfragen im Browser, Beiträgen in sozialen Medien, im Freundeskreis, bei politischen Veranstaltungen, am Arbeitsplatz, im Krankenhaus, vor Gericht, bei Reisen, Banken, Sozialkassen, Ordnungsämtern usw. hinterläßt. Das Sozialranking, in dem Scores zwischen 350 and 950 erreicht werden können, entscheidet, wer welche Vorteile und Nachteile in der Gesellschaft genießt.

Menschen, die unternehmerisch aktiv sind, Arbeitsplätze schaffen oder sich um optimale Datentransparenz bemühen, werden positiv bewertet. Das gilt auch für Sportler, die Medaillen für ihr Land holen (siehe Versuche in Deutschland, in der Sportförderung das neue "Potenzialanalysesystem" PotAS einzuführen, das die Mittelvergabe algorithmisch berechnen und Athleten mit geringen Medaillenchancen die Gelder streichen will). In Abhängigkeit zur Höhe des Scores werden Klasse-A-Menschen bei der Kreditvergabe, bei Hotelbuchungen, Visaanträgen oder der Zulassung für Schulen bevorteilt. "Faule" Menschen hingegen, die lange am Computer spielen, bekommen ebenso Minuspunkte wie Regierungskritiker, sozial unangepaßte Menschen oder andere Regelbrecher, die sich irgendeines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, zum Beispiel Verkehrsdelikte, Steuersünden, Sozialleistungsmißbrauch etc. (siehe im deutschen Hartz-IV-System Leistungskürzungen wegen "sozialwidrigem Verhalten").

Wer im ohnehin bereits stark zensierten Internet der Volksrepublik "Gerüchte" verbreitet, die nicht der "Wahrheit" entsprechen (siehe Gesetzesbestrebungen in Deutschland zur Fakenews-Bestrafung, vorauseilende Zensur, Overblocking, Einsatz von Löschrobotern in Sozialen Medien etc.), bekommt ebenso Punkteabzug wie säumige Schuldner. Medienberichten [6] zufolge ist es schon heute Millionen von Chinesen nicht mehr gestattet, via Bahn oder Flugzeug zu reisen, weil sie verschuldet sind. Da alle Personalausweise in China mit Funkchips ausgestattet sind, kann den betroffenen Personen schon frühzeitig der Einlaß zu den Verkehrssystemen verwehrt werden (siehe aktuelle Probeläufe im Berliner Bahnhof Südkreuz, wo die Polizei die biometrische Videoüberwachung und den Funkchipeinsatz an Freiwilligen testet). Es widerspricht jedweder historischen Erfahrung, auch nur anzunehmen, Exportweltmeister Deutschland würde sich nicht am weltweiten Wettrennen um die durchschlagensten und profitabelsten digitalen Überwachungstechnologien beteiligen. Im Gegenteil, Chinas Sozialkreditsystem erscheint als konsequente Fortführung dessen, worauf auch Deutschland und andere europäische Länder unbeirrt zusteuern, wenn sie den maximal transparenten Bürger propagieren. Erst jüngst wurden in Deutschland nahezu geräuschlos die letzten Reste des Bankgeheimnisses beseitigt. Die Sozialbehörden wollen über den Auskunftsweg von Finanzämtern immer öfter wissen, welche Kontostammdaten der Berufstätige, Rentner oder der des Leistungsmißbrauchs verdächtige Hartz-IV-Bezieher hat. So ist die Zahl der Kontenabfragen beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt), dem Datensammler des Finanzministeriums, in den vergangenen Jahren geradezu explodiert.

Man kann es durchdeklinieren: Erst geht es um zur Fahndung ausgeschriebene oder algorithmisch vorhergesagte Kriminelle oder Terroristen, dann um Extremisten, Gefährder oder Störer, dann um G20-Demonstranten, Sozialdelinquenten oder Schuldner, schließlich um Zutrittsunberechtigte, Platzverweissäumige oder Outgescorte - auf jeden Fall immer um politisch, sozial und ökonomisch deklassierte Menschen. Schon heute werden die Berufschancen von Bürgern, die ein digitales Stigma wie schlechte Ebay-Benotungen, Etikettenverstöße in sozialen Medien oder ungünstige Einträge in ihren Timelines haben, von privaten oder staatlichen Arbeitgebern aussortiert.

Die Gefahr der Digitalisierung liegt weniger im Mißbrauch von Daten, wie oft Glauben gemacht wird, als vielmehr in ihrem effektiven Nutzen. Wenn Medienberichte voller Abscheu die "IT-Diktatur" in China anprangern, von einer "totalitären Internet-Gesellschaft" oder von einer unheilvollen Mischung aus "modernster Technik und Stalinismus" [6] reden, dann bedienen sie sich eines politischen Kontrastmittels, das von der smarten Normalität im digitalen Kapitalismus längst überholt ist.

Fußnoten:

[1] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Grossbritannien-Plaene-fuer-massive-Ueberwachung-in-Echtzeit-geleakt-3703737.html. 05.05.2017.

[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Kurzmeldungen/2016/handout-ma%C3%9Fnahmenpaket-erhoehung-sicherheit-deutschland.pdf;jsessionid=7C464BAAAA734D06FFEEE8725EBCF390.1_cid364?__blob=publicationFile

[3] https://www.jungewelt.de/artikel/311895.genetisches-phantombild-kommt.html. 06.06.2017.

[4] https://ilmr.de/2017/bundesregierung-will-schwere-grundrechtseingriffe-im-eilverfahren-durch-die-hintertuer-einfuehren. 09.06.2017.

[5] https://www.bloomberg.com/news/articles/2015-07-02/china-credit-scores-come-to-a-debt-leery-culture. 02.07.2015.

[6] http://www.fr.de/panorama/ueberwachung-china-etabliert-die-perfekte-it-diktatur-a-1249767. 19.02.2017.

5. Juli 2017


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