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HERRSCHAFT/1800: Italien - rechts räumt auf ... (SB)



Unsere Ideen können an die Macht kommen, und wenn wir einmal an der Macht sind, dann können wir die Dinge wirklich verändern. Matteo Salvini hat es mit Entschlossenheit geschafft, die Einwanderung zu reduzieren und die EU aufzuwecken.
Marine Le Pen über den italienischen Innenminister [1]

Die italienische Politik wird gegenwärtig von dem rechtsgerichteten Innenminister Matteo Salvini geprägt, dessen Handlungsweise in zunehmendem Maße an die totalitärer Regime erinnert. "Ich nehme mir das Land", verkündet er und beschwört mit der Formel "Prima gli Italiani" (zuerst die Italiener), als gebe es nur ihn und das Volk im Kampf gegen das Establishment und feindliche Mächte, den finsteren Geist einer reaktionären Revanche. Der 45jährige Mailänder monopolisiert die Aufmerksamkeit, füttert mit unablässigen Kontroversen und Provokationen seine Propagandalinie, sammelt Kritiken und Klagen als "Verdienstmedaillen". Er treibt den Koalitionspartner der Fünf-Sterne-Bewegung vor sich her und degradiert ihn zum Steigbügelhalter seines Aufstiegs an die Macht. Bei den Parlamentswahlen vom 4. März kam die Lega auf 17 Prozent, nach jüngsten Umfragen würden 33,5 Prozent diese Partei wählen. Cinque Stelle, im Frühjahr noch stärkste politische Kraft, ist auf 28,5 Prozent zurückgefallen. [2]

Mit der opportunistischen Behauptung, "weder rechts noch links" zu sein, konnte die Partei Beppe Grillos zeitweise als Sammelbecken verunsicherter und politikverdrossener Bevölkerungsteile mit vagen Versprechen die inhaltsleere Hoffnung auf einen Neuanfang durch bloßen Austausch des politischen Personals in Wählerstimmen ummünzen. Diese Entsorgung jeglicher Ansätze, im Kontext gesellschaftlicher Widersprüche Partei gegen Ausbeutung und Verfügung zu ergreifen, machte die Fünf-Sterne-Bewegung anschlußfähig an eine Rechte, die diesen Türöffner zum Durchmarsch nutzte und brachial das Feld mit nationalistischen und rassistischen Positionen besetzte.

Während sich Cinque Stelle außerstande sieht, ihre Wahlversprechen wie Rentenreform oder Grundeinkommen umzusetzen, macht Salvini die flüchtlingsfeindlichen Drohungen aus dem Wahlkampf der Lega zur einzig relevanten Größe seiner Agenda, die er unablässig mit repressiven Maßnahmen und einem Dauerfeuer in den sozialen Medien vorantreibt. Er nennt Hilfsorganisationen "Vizeschlepper" und läßt ihre Schiffe nicht mehr in italienische Häfen, will Roma und Sinti zählen lassen und unterstellt Flüchtlingen, auf "Kreuzfahrt" zu einem "schönen Leben" zu sein. Salvini lobte die Entscheidung von Sarah Casanova (Lega), der Bürgermeisterin von Lodi, Flüchtlingskinder ihrer Stadt vom Schulessen auszuschließen, wenn sie nicht den Höchstbeitrag dafür bezahlen.

Als ein Fanal seiner Abschottungspolitik ließ der Innenminister 117 geflohene Menschen an Bord der Diciotti, eines Schiffs der italienischen Küstenwache, tagelang im Hafen von Catania wie Geiseln festhalten. Damit brach er nationale Gesetze und internationale Konventionen, worauf die Staatsanwaltschaft von Agrigent Ermittlungen wegen "schwerwiegender Freiheitsberaubung" gegen ihn aufnahm. Als der Ermittlungsbescheid in sein Ministerbüro in Rom zugestellt wurde, meldete er sich mit einer Liveschaltung bei seinen 3,1 Millionen Anhängern auf Facebook, öffnete demonstrativ den Umschlag und sagte: "Sie wollen mich stoppen." Er aber lasse sich nicht bremsen, denn im Gegensatz zu den Richtern sei er vom Volk gewählt.

Staatspräsident Sergio Mattarella erklärte daraufhin in einer öffentlichen Rede: "Niemand steht über dem Gesetz, auch die Politiker nicht." Er nannte Salvini nicht namentlich, doch dessen Reaktion erfolgte sofort, wie immer mit einem Tweet: "Mattarella hat daran erinnert, dass niemand über dem Gesetz steht. Er hat recht. Und da ich die Gesetze, die Verfassung und das abgegebene Versprechen gegenüber den Italienern hoch achte, habe ich die Häfen für Menschenhändler geschlossen und werde es auch künftig tun. Ermittelt ruhig gegen mich, ich mache weiter!" Salvini bricht nach Belieben Gesetze und gibt dies als besondere Form der Gesetzestreue und Verpflichtung gegenüber "den Italienern" aus, um die faschistoide Klaviatur völkischer Gewaltphantasien einer Opferrolle samt Abrechnung zu bedienen.

Jüngste Aggression des Innenministers ist ein Beschluß, 200 Migranten aus dem süditalienischen Dorf Riace zu deportieren und in Flüchtlingsunterkünften übers Land verteilt unterzubringen. Bereits am 2. Oktober war Domenico "Mimmo" Lucano, der Bürgermeister des Ortes, unter Hausarrest gestellt worden. Da der Umgang mit Flüchtlingen in Riace weithin als Vorbild für Integration und Toleranz gilt, will Salvini verhindern, daß sich andere Gemeinden daran ein Beispiel nehmen. Nach Lucanos Festnahme hatte er getwittert: "Donnerwetter, was sagen jetzt wohl Saviano und all die Gutmenschen, die Italien gerne mit Immigranten vollstopfen würden?" Er bezog sich dabei auf den prominenten Anti-Mafia-Autor Roberto Saviano, welcher der Regierung politische Motive vorgeworfen hatte. Die Festnahme zeige, daß sich Italien in ein "autoritäres Regime" verwandle. Lucano selbst erklärte, die Regierung wolle sein migrantenfreundliches Projekt zerstören. [3]

Als Domenico Lucano nach langer Abwesenheit in sein Heimatdorf in Kalabrien zurückkehrte, fand er es nahezu verwaist. Wie viele Orte der Region litt Riace unter starker Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit, die Einwohnerzahl war von 3000 auf 800 zurückgegangen. Seit 1998 ein Boot mit 218 kurdischen Flüchtlingen in Riace landete, hat es sich der von Lucano, seit 2004 Bürgermeister von Riace, mitbegründete Verein "Stadt der Zukunft" zur Aufgabe gemacht, Flüchtlinge anzusiedeln, um diesen eine Perspektive zu bieten und das Dorf wiederzubeleben. Im Gegenzug für Wohnungen und 250 Euro pro Monat bearbeiteten sie die verlassenen Olivenhaine und Weinberge. Die Finanzierung gewährleistete Rom, das für jeden Flüchtling pro Tag 35 Euro zahlte. Der Ort erwachte zu neuem Leben, viele weggezogene Menschen kehrten zurück und Ende 2016 betrug die Einwohnerzahl 2345, darunter etwa 800 Immigranten.

Die Geschichte Riaces fand so viel Beachtung, daß Lucano 2016 von der Zeitschrift "Fortune" in die Liste der 50 einflußreichsten Persönlichkeiten aufgenommen wurde, der deutsche Regisseur Wim Wenders den Kurzdokumentarfilm "Il Volo" (Der Flug) über ihn drehte und der Bürgermeister am 12. Februar 2017 mit dem Dresdner Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Der Papst sagte einmal, er bewundere ihn für sein Werk. Die Festnahme Lucanos und die angekündigte Deportation der 200 Migranten unter fadenscheinigen Vorwürfen rief Widerspruch von Oppositionspolitikern und Menschenrechtsorganisationen auf den Plan. Der Bürgermeister von Neapel, Luigi De Magistris, beklagte eine "gewaltsame und unmenschliche Geste". Statt Mafiosi zu bekämpfen, deportiere das Innenministerium Opfer von Menschenhändlern. Das sei eine Schande. Mario Oliverio, Präsident der Region Kampanien, appellierte an Salvini, seinen Beschluß rückgängig zu machen. Man dürfe Riaces positive Erfahrung mit der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen nicht einfach ausradieren. In den sozialen Medien formt sich eine Solidaritätswelle mit dem Hashtag "Ich stehe hinter Mimmo". Mehrere tausend Menschen haben in Riace wie auch in Rom und Mailand gegen den Angriff des Innenministeriums demonstriert. [4]

Nicht außer acht lassen sollte man in diesem Zusammenhang, daß Matteo Salvini und der Aufstieg der Rechten in Italien kein isoliertes Phänomen darstellen. Der Innenminister kann sich in der Flüchtlingspolitik auf seinen Vorgänger Marco Minniti von der Demokratischen Partei (PD) und die Beschlüsse der EU stützen, die dazu führen, daß Menschen zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, in der Wüste verdursten oder in den Folterlagern Libyens gequält und umgebracht werden. Was Riace betrifft, hatte schon die Vorgängerregierung der sozialdemokratischen PD unter Matteo Renzi dem Dorf die besonderen Steuermittel gestrichen. Cinque Stelle müßte gemäß ihrem eigenen Anspruch und zumindest Teilen ihrer Wählerschaft dem Koalitionspartner entschieden in die Parade fahren, setzt sich jedoch in der Öffentlichkeit allenfalls vorsichtig von Salvini ab. Mit Blick auf Riace hatte Cinque Stelle noch am 7. Oktober "das Ende eines Modells" offen begrüßt. [5]

Salvini rechtfertigt sein gnadenloses Vorgehen in Riace mit dem zynischen Satz: "Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung öffentlicher Gelder können nicht toleriert werden." Das ist grotesk aus dem Munde eines Politikers, dessen Partei in nur drei Jahren (2008-2010) Steuergelder in Höhe von 49 Millionen Euro veruntreut hat und jetzt in jährlichen Raten zurückzahlen muß, wie das höchste Gericht Italiens, der Kassationshof, im September bestätigt hat. Um solch krasse Widersprüche schert sich die Rechte bei ihrem Aufstieg nicht, zumal sie ihr Arsenal an Einschüchterung, Bedrohung und Gewalttaten immer offener zur Schau stellt und zur Anwendung bringt. Sie zehrt von substantiellen Schnittmengen mit den bürgerlichen Parteien und einem Sumpf aus Opportunismus und Kollaboration, insbesondere aber ihrem Ruf nach dem starken Nationalstaat und dem Ausbau der Repression, womit sie sich in einem Szenario multipler Krisen als Garant wankender Herrschaftverhältnisse andient. Noch ist aber nicht gänzlich auszuschließen, daß Matteo Salvino, der noch soviel mehr verschlingen will, ausgerechnet dieser kleine Happen Riace im Halse steckenbleibt.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2018/10/16/ital-o16.html

[2] www.sueddeutsche.de/politik/italien-salvini-ist-rechts-der-ordnung-1.4128914

[3] www.sueddeutsche.de/politik/migranten-in-riace-italien-setzt-dem-integrations-symbol-ein-ende-1.4169129

[4] www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/5513348/Proteste-in-Riace_Salvini-will-VorzeigeIntegrationsmodell-zerstoeren

[5] www.wsws.org/de/articles/2018/10/16/riac-o16.html

16. Oktober 2018


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