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HERRSCHAFT/1843: Parteien - das grüntaktive Spektrum ... (SB)



Robert Habeck ist heute die grüne politische Persönlichkeit, die zum Kanzleramt führen kann.
Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit der Zeit [1]

Während die AfD vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ihre Muskeln spielen läßt, die SPD einen weiteren Absturz befürchten muß und die Union um ihre Zukunft als Volkspartei bangt, schwimmen die Grünen auf der Woge des Erfolgs. Da ein vorzeitiges Ende der Großen Koalition nicht auszuschließen ist, sind Szenarien denkbar, in denen eine grüne Regierungsbeteiligung auf Bundesebene vor der Tür stehen könnte. In bundesweiten Umfragen liegen die Grünen bei 25 Prozent, nur noch knapp hinter der führenden CDU/CSU und etwa doppelt so hoch wie die SPD. Galten sie in der Vergangenheit als Westpartei, die in den ostdeutschen Bundesländern kein Bein auf den Boden bekommt und um ihren Einzug in die Parlamente zittern muß, zeichnet sich inzwischen auch im Osten eine steil ansteigende Kurve ab. In Brandenburg stehen sie bei 16 Prozent, dreimal soviel wie bei der letzten Landtagswahl. In Sachsen sind es aktuell 12 Prozent, so daß man auch dort von einem Paradigmenwechsel sprechen kann, da die Grünen künftig in diesen Ländern wohl mitregieren werden. [2]

Während die nach rechts driftenden Konservativen und Sozialdemokraten von der AfD regelrecht vor sich her getrieben werden, die ihnen Wählerstimmen abnimmt und ihre Zerlegung beschleunigt, gelten die Grünen längst als einzig relevanter und zukunftsfähiger parteipolitischer Gegenpol zum reaktionären Aufmarsch. Das mutet insofern erstaunlich an, als vierzehn Jahre nach dem Scheitern der ersten rot-grünen Bundesregierung deren tiefgreifende Demontage des Sozialstaats und Durchbruch an der Kriegsfront offenbar der Geschichtsvergessenheit anheimgefallen ist. Nach 16 Jahren konservativer Kanzlerschaft Helmut Kohls nährte Rot-Grün die Illusion eines Aufbruchs nach links, zumal sich die Grünen in ihrem damaligen Wahlprogramm noch zu sozialen Verbesserungen und zum Pazifismus bekannt hatten. Statt dessen setzte das Kabinett Schröder/Fischer den massivsten Konter durch, der die Bundesrepublik Zeit ihres Bestehens heimgesucht hatte. Diese Kumpanei sorgte für eine Einbindung und Befriedung potentiellen Widerstands, wie es der Union damals nicht möglich gewesen wäre.

Die rot-grüne Koalition beschloß massive Steuersenkungen für die Reichen und setzte die Agenda 2010 durch, die ein verschärftes Arbeitsregime etablierte, die Ausgrenzung für überflüssig erklärter Bevölkerungsteile forcierte und damit Millionen von Menschen in prekäre Verhältnisse und Armut trieb. Außenpolitisch brach sie das seit Jahrzehnten geltende Tabu deutscher Angriffskriege und schickte die Bundeswehr zum Einsatz im Kosovo und in Afghanistan. Während der daraus resultierende größte Niedriglohnsektor Europas die ökonomische Vorherrschaft des Exportweltmeisters auf dem Kontinent beflügelte und deutsche Militarisierung dies mit Waffengewalt weit darüber hinaus unterfütterte, zahlten nicht nur die Peripheriestaaten der Europäischen Union, sondern auch wachsende Segmente der einheimischen Bevölkerung dafür einen hohen Preis.

Seit ihrer Gründung vor knapp vierzig Jahren haben es die Grünen immer wieder verstanden, als Sammelbecken verschiedene Bewegungen zu integrieren und darüber linke Positionen zu eliminieren. Sämtliche Flügelkämpfe endeten mit dem Sieg der Realos, welche die Partei auf bürgerlich konsensfähige Positionen einschworen und um des Wahlerfolgs willen radikalere Ansätze entsorgten. Waren die Grünen ursprünglich in der Friedensbewegung verankert, so verwandelten sie sich in einen Wegbereiter deutscher Kriegsführung, zu der sie maßgebliche ideologische Begründungen beisteuerten. Während der Verrat an der Arbeiterbewegung lange schon zu einem geflügelten Wort bei der kritischen Einschätzung der Sozialdemokratie geworden war, erfüllten die Grünen eine durchaus vergleichbare Funktion in jenen Kreisen, die sich nach dem Niedergang des antikapitalistischen Kampfes verstärkt Umweltschutz, Pazifismus und soziale Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben hatten.

Das zeichnet sich nicht auf sämtlichen Feldern in aller Deutlichkeit ab, da dieser integrative und herrschaftskonforme Prozeß noch längst nicht abgeschlossen ist. So gelten die Grünen als genuine Umweltpartei, obgleich sie einem grünen Kapitalismus den Weg bereiten, der die ökologische Katastrophe nicht nur nicht abwenden kann, sondern im Gegenteil alle Maßnahmen ausblendet und verhindert, die unverzögert ergriffen werden müßten, wollte man den Klimawandel zumindest noch bremsen. Ein ökosozialistischer Entwurf, der geeignet sein könnte, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen mit wirksamen umweltpolitischen Steuerungsprozessen zu verbinden, rückt damit in um so weitere Ferne, als die Grünen mit wachsendem Erfolg für sich reklamieren, über ein Zukunftsmodell zu verfügen, das inmitten multipler Krisen ohne gravierende gesellschaftliche Umbrüche wachstumsgestützte Lösungswege in Aussicht stellt.

Bezeichnenderweise sind nicht mehr die ausgedienten Sozialdemokraten, sondern die Konservativen der Wunschpartner der Grünen. Was auf Landesebene insbesondere in Baden-Württemberg als Blaupause vorexerziert wurde, könnte schon bald auf Bundesebene Realität werden: Eine grün-schwarze Regierung, in der die Union nur den Juniorpartner abgibt. Mit den Grünen lassen sich Kriege führen, repressive Polizeigesetze durchsetzen und soziale Einschnitte verordnen, wobei das Führungsgespann aus dem 49jährigen Schriftsteller Robert Habeck und der 38jährigen Juristin Annalena Baerbock für das Ende der innerparteilichen Flügelkämpfe steht und Sympathieträgerschaft für einen beträchtlichen Anhängerkreis samt möglichen Wechselwählern verkörpert. Beide sind darin geübt, Grausamkeiten in verharmlosende Worte zu kleiden und Akzeptanz zu erwirtschaften, ohne Angriffsflächen für Skandalisierungen zu bieten oder gar Widerstand der Betroffenen wachzurufen.

In seinem 2010 erschienenen Buch "Patriotismus - ein linkes Plädoyer" sprach sich Habeck für "eine sinnstiftende, politische Erzählung", für einen "linken Patriotismus" aus, der den Rückzug in die "patriotische Gleichgültigkeit" der rot-grünen Jahre überwindet. Als sein Vorbild nennt er Barack Obama, dessen Wahlsieg als eine Neugründung Amerikas gefeiert worden sei und der einen Nationalstolz beschwören konnte, "der sich nicht auf etwas bezieht, was ist, sondern auf etwas, das erst werden soll und an dem alle teilhaben sollten". Obgleich unter Obama die Kluft zwischen Arm und Reich stärker als je zuvor wuchs, neue Kriege in Libyen und Syrien begonnen wurden, das systematische Töten durch Drohnen ausgeweitet und mehr Migranten als von seinem Nachfolger Donald Trump deportiert wurden, träumt Habeck offenbar davon, in seine Fußstapfen zu treten.

In Interviews während der Sommerpause erklärte Robert Habeck, er könne sich eine deutsche Beteiligung an einer europäischen Marinemission in der Straße von Hormus vorstellen. Es gebe "beim Iran-Konflikt ein eigenständiges europäisches Interesse" und Europa könne "sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere seine Interessen vertreten". Auch Baerbock wäre dazu bereit, sofern sich die USA nicht daran beteiligen. Sie ist sogar offen dafür, die Bundeswehr ohne UN-Mandat in den Golf zu schicken, obwohl das Wahlprogramm der Grünen vor zwei Jahren solche Einsätze ohne Mandat noch ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Wie sie beklagt, sei die EU außenpolitisch schwach, auch weil Deutschland in den vergangenen Jahren keine Führungsverantwortung wahrgenommen habe. Europa müsse wieder "weltpolitikfähig" werden. Baerbock fordert eine effektivere "europäische Rüstungszusammenarbeit" wie auch eine konsequentere Abschiebung "straffälliger Asylbewerber", da der Rechtsstaat bei ausreisepflichtigen Mehrfachtätern "konsequent durchgreifen" müsse. Folgten auf eine Straftat nicht zügig Urteil und Strafvollzug, entstehe der Eindruck, Gewalt habe in Deutschland keine Konsequenzen. Sie forderte strafrechtliche Sammelverfahren und jährlich 400 Millionen Euro mehr Mittel für die Justiz.

Während die Grünen mithin ihre innen- und außenpolitische Regierungsfähigkeit längst unter Beweis gestellt haben, touren ihre Parteispitzen wie insbesondere Robert Habeck durch die östlichen Bundesländer, um über ihre eigene Klientel hinaus Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Als erklärtes Feindbild der Rechten wildern sie in der Anhängerschaft von Union und SPD, die ihrer bislang bevorzugten Partei nicht mehr zutraut, die Talfahrt zu bremsen. Ob am Karl-Marx-Monument in Chemnitz [2], im alten Gasometer von Zwickau [3] oder auf dem Kornmarkt in Bautzen [4] und damit mitten im Feindesland bringt Habeck seine Charmeoffensive in Stellung, um die Wählerwanderung umzupolen: "Es ist nicht schön, daß die AfD stärkste Kraft wird. Aber die stärkste Kraft sind sie nur, weil die anderen Parteien so nachgelassen haben."

Als Partei des wohlhabenden, gebildeten, städtischen Kleinbürgertums repräsentieren die Grünen zwar eine Gesellschaftsschicht, die für die akut vom Abstieg bedrohten oder bereits abgehängten Bevölkerungskreise unerreichbar geworden ist. Da an der Wahlurne aber insbesondere mit Hoffnungen, Versprechen und anderen Luftschlössern gehandelt wird, stehen ihre Chancen nicht schlecht, auch einen Gutteil der Opfer ihrer langjährigen Politik als Stimmvolk auf ihre Seite zu ziehen.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2019/08/15/grue-a15.html

[2] taz.de/Gruene-in-Ostdeutschland/!5615981/

[3] www.deutschlandfunk.de/robert-habeck-in-zwickau-hoffen-auf-die-wechselwaehler.1773.de.html

[4] www.saechsische.de/gruene-antworten-auf-dem-kornmarkt-5108390.html

21. August 2019


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