Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1858: Thüringen - nach der Wahl ist vor der Wahl ... (SB)



Moderator: Sie verlangen eine völlig neue Wirtschaftsordnung, in der kein Wachstum mehr erlaubt ist, in der es Mindest- und Höchstgehälter gibt, eine 20-Stunden-Arbeitswoche, ein Verbot von Werbung und vieles mehr. Das klingt nach einer Art ökologisch motivierter Planwirtschaft. Halten sie das tatsächlich für demokratisch durchsetzbar?
Carola Rackete: Ich denke, wir sind an einem Punkt angekommen, wo viele BürgerInnen verstehen, daß es mit dem aktuellen Wirtschaftswachstum eigentlich nicht weitergehen kann, weil wir immer mehr Ressourcen nutzen, viel viel mehr als auf diesem Planeten überhaupt vorhanden sind. (...) Wir betreiben Raubbau an zukünftigen Generationen, wir müssen unseren Ressourcenkonsum einfach einschränken.

Carola Rackete im Gespräch mit Armin Wolf (ZIB2) am 30. Oktober 2019 [1]

Die nach der Landtagswahl in Thüringen aufgestellte These, die Ränder des politischen Spektrums überholten die Mitte, befrachtet die formale Parteiengeometrie mit einer inhaltlichen Deutung, die nicht einmal annähernd das politische Geschehen wiedergibt. So ist die Gleichsetzung der Linken, die nur aufgrund von Faktoren in Thüringen erfolgreich war, die für die Linkspartei nicht repräsentativ und regional eng umgrenzt sind, mit einer AfD, die erfolgreich damit ist, nichts als Regression und Reaktion anzubieten, schon deshalb falsch, weil Ramelow sich als Sozialdemokrat und nicht als demokratischer Sozialist, geschweige denn Verwerflicheres versteht.

Die Verteidigung der ehemaligen Volksparteien durch eine Extremismusdoktrin, die die Definitionsmacht über die politische Mitte mit dem irreführenden Argument beansprucht, sie gebiete über die einzige nicht ideologische Position und damit die Wahrheit, ist konventioneller Staatsschutz in parlamentarischer Verkleidung. Verteidigt werden bürgerliche Gewißheiten, die sich aufgrund objektiver Entwicklungen nicht mehr halten lassen, durch den Versuch, den sich für künftige Macht- und Verteilungskämpfe positionierenden Kräften die Relevanz abzusprechen. Die Konjunktur demagogischer und rassistischer Feindseligkeit wird damit kaum aufgehalten. Ein Außenseitertum, das nichts lieber will als das Kommando über den Staat zu erlangen, ohne dessen konstitutiven Verwertungsbedingungen in Frage zu stellen, ist für viele attraktiv, weil es die etablierten Herrschaftsprinzipien gerade nicht in Frage stellt.

Der Einfluß rechtsradikaler Apologie herrschender Konsum- und Produktionsweisen auf breite Teile der Bevölkerung wird unterschätzt, weil die sich anbahnende Klimakatastrophe selbst unter denjenigen, die Klimaschutz nicht, wie die AfD, für ein "Luxusproblem" halten, nur selten als umfassende Erschütterung aller vertrauten Lebensverhältnisse begriffen wird. Die von der realen Entwicklung immer wieder überholten Prognosen der Klimawissenschaften lassen den Schluß zu, daß schon innerhalb weniger Jahre vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie das tägliche Sattwerden nicht mehr garantiert werden können, um nur eine Auswirkung der rasanten Aufheizung der Atmosphäre zu nennen.

Das immer aggressiver vertretene Bestehen auf vertraute Mobilitäts- und Konsumpraktiken soll zunichte machen, was allgemein bekannt ist und gerade deshalb nicht sein darf. Wider besseren Wissens zu handeln birgt erhebliches Gewaltpotential in sich, weil die wissentliche Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen destruktiv in zwei Richtungen ist. Der exzessive Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen könnte dies nicht besser belegen, handelt es sich doch nur im ersten Schritt um die Durchsetzung eigener Vorteile zu Lasten von Menschen, Lebewesen und Natursystemen. Ob als Individuum auf Bleifuß und Hüftsteak insistierend oder als Staat eine extraktivistische Wachstumslogik durchsetzend, das mit dem ökonomischen Begrifflichkeiten unzureichend beschriebene Gewaltverhältnis sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion weist längst die Attribute eines sozialen Krieges auf, dessen Front mitten durch den eigenen Haushalt verläuft.

Menschen zu Tausenden an den Grenzen der EU sterben zu lassen ist ebenfalls Ausdruck dessen. Wer absichtsvoll wegsieht, der kann nicht ausschließen, selbst einmal auf der Seite der Alleingelassenen zu stehen. So ist die offene Verweigerung jeglicher Hilfe für notleidende Menschen kein Sonderfall faschistischer Barbarei, sondern exponierter Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Festungsmentalität. Die bürgerliche Mitte steht nur bedingt antagonistisch zum rechten Rand. Erst der Härtetest akuten Mangels wird zeigen, ob materiell privilegierte Menschen in der Lage sind, das eigene Überleben auch dann nicht mit sozialdarwinistischer Grausamkeit durchzusetzen, wenn der Vorteil einer solchen Strategie mit den Händen zu greifen ist oder gar über Leben und Tod entscheidet.

Die Gemengelage des bereitwilligen Akzeptierens globaler Ausbeutungsverhältnisse im Wissen darum, daß die höchst unterschiedlichen Lebensqualitäten durch den kapitalistischen Weltmarkt eng miteinander verkoppelt sind, sich also niemand freisprechen kann von der Verantwortung für die Vernichtung der Lebenschancen anderer, macht den inhaltlichen Kern des vermeintlichen neutralen Begriffes der Mitte aus. Im Blick auf die Klimakatastrophe nimmt diese Auseinandersetzung existentielle Formen an. Wer heute schon mit dem Bürgerkrieg droht, um den faschistischen Staat zu etablieren, der schreckt vor gewaltsam ausgetragenen Verteilungskämpfen ganz sicher nicht zurück. AfD wählen ist mithin kein bloßer Protestakt, sondern signalisiert auch die Bereitschaft, materielle Engpässe zur Machtfrage in Staat und Gesellschaft zu entwickeln.

Um so deutlicher zeigt sich, daß der Aufstieg der extremen parlamentarischen Rechten eher die Konsequenz einer evolutionären Radikalisierung nämlicher Mitte und weniger das Ergebnis genuin faschistischer Positionen ist, die von rechtsaußen über ein nichts ahnendes Bürgertum kamen. Die soziale Barbarei hat im konservativen und neoliberalen Milieu längst Wurzeln geschlagen und verschiebt das politische Spektrum kontinuierlich nach rechts. Wenn in nicht allzugroßer zeitlicher Ferne Unionsparteien mit der AfD koalieren, dann ist kein Qualitätssprung ideologischer Art erfolgt, sondern ein Abnutzungs- und Gewöhnungsprozeß an sein absehbares Ende gelangt.


Fußnote:

[1] https://www.youtube.com/watch?v=RPPjS9GG134

31. Oktober 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang