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HERRSCHAFT/1866: Frankreich - Manöverlage Rentenreform ... (SB)



"Nichts ist verhandelbar in dieser Sache. Glaube doch niemand, bei dieser Konferenz werde für die Finanzierung der zukünftigen Renten eine Lösung gefunden, eine Lösung, die nicht darauf hinausläuft, dass zukünftig alle länger werden arbeiten müssen. Das ist ein Märchen! Die Bilanz wird negativ sein, und immer dann versteht die Regierung nur eine Sprache: Kampf. Zumal es am Ende immer noch auf den Artikel 49/3 hinauslaufen kann, auf die Präsidentenverfügungen!"
Olivier Terriot (Delegierter der Gewerkschaft CGT) [1]

Der erbitterte Kampf gegen die Rentenreform Emmanuel Macrons legt nahe, daß in dieser Auseinandersetzung weit mehr auf dem Spiel steht als ein Einschnitt im Sozialwesen, ja selbst als die Zukunft dieses Präsidenten und seiner Regierung. Was die Gelbwesten begonnen und die Gewerkschaften aufgegriffen haben, zeugt von einer tiefen Unzufriedenheit der Bevölkerung, einer wankenden Legitimation des politischen Systems und einer anwachsenden Entfremdung zwischen dem französischen Staat und den Menschen im Land. Macron ist sich offenbar bewußt, daß er die Schlacht um seine Rentenreform jederzeit per Dekret gewinnen kann, doch dabei um so mehr Gefahr liefe, den Krieg um die Duldung der Klassengesellschaft seitens der Unterworfenen zu verlieren. Deshalb zögert er die Entscheidung in der Hoffnung hinaus, daß sich der Protest unterdessen totlaufen möge, er versucht, die Verantwortung auf das Parlament abzuwälzen, um sich aus der Schußlinie zu bringen, und wickelt die Gewerkschaften in fruchtlose Verhandlungen ein, um eine Kompromißlösung zu simulieren.

Der Kampf um die Rente radikalisiert sich und wird inzwischen mit einer Härte geführt, wie ihn auch das streikerprobte Frankreich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Ein Kampf, den die Franzosen nach wie vor mehrheitlich gutheißen, auch wenn er ihnen sehr viel abverlangt. Die landesweiten Streiks begannen am 5. Dezember mit dem ersten "Nationalen Aktionstag gegen die Rentenreform". Wortführer wurde die aus kommunistischer Tradition hervorgegangene Gewerkschaft CGT. Die heute größte, reformistische Gewerkschaft CFDT rief erst später ebenfalls zu Streiks auf. Von Anfang an wurden die Staatsbahn SNCF und die Pariser Verkehrsbetriebe RATP zu zentralen Akteuren des Streiks. Vertreter vieler Berufsstände schlossen sich den Protesten an: Ärzte und das Pflegepersonal der Krankenhäuser, Lehrer, Polizisten, Müllwerker, Feuerwehrleute, Facharbeiter staatlicher Energie- und Industriebetriebe, Anwälte, auch Schulen und Universitäten wurden bestreikt. [2]

Schon früh wurde vielerorts der Widerstand gegen die Rentenreform als Kampf um den Fortbestand des gesamten Sozialsystems definiert. Geht der Kampf um die Rente verloren, wird in der Folge die gesamte soziale Sicherung verkauft. Längst macht sich die Regierung daran, den Öffentlichen Dienst zu privatisieren, die Arbeitslosenversicherung zu verscherbeln, alle Systeme der Solidarität zu zerstören. Was die Gewerkschaften und die Widerstandsbewegung nach 1945 erkämpft und aufgebaut haben, soll zerschlagen und Fondsgesellschaften wie Blackrock übereignet werden.

Wer streikt, bekommt in Frankreich so gut wie kein Geld. Die wenigen vorhandenen Streikkassen waren nach sieben Wochen leer. Die Streiks ließen nach, inzwischen fahren Busse und Bahnen ungeachtet erneuter Streikaufrufe weitgehend normal. Doch die Ruhe täuscht: "Die Frage stellt sich, wie wir die Wut zusammenführen. Es geht darum, alles zu synchronisieren. Wut gibt es überall im Land, aber eben verstreut. Aber wir werden ein Mittel finden, die Wut zu bündeln, um so die Regierung zum Rückzug zu zwingen", erklärt Olivier Terriot.

Seit Anfang der Woche werden die Rentenpläne der Regierung im Parlament diskutiert, spätestens vor den Sommerferien soll das Gesetzespaket verabschiedet werden. Wenngleich der Ausgang angesichts der klaren Regierungsmehrheit eindeutig zu sein scheint, versucht die Opposition, die Debatte in die Länge zu ziehen. Rund 22.000 Änderungsanträge wurden gestellt, davon allein 19.000 von der Linkspartei La France Insoumise. Parallel zur Parlamentsdebatte tagt eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der Regierung, der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Bis Ende April soll eine Lösung gefunden werden, um die Renten zukünftig auch mit einem Renteneintrittsalter von 62 Jahren finanzieren zu können - eine zentrale Forderung von gewerkschaftlicher Seite.

Das Präsidialsystem räumt Macron weit größere Vollmachten ein, als sie in Deutschland die Bundeskanzlerin ins Feld führen kann. So hat er bereits die Lockerung des Kündigungsschutzes am Parlament vorbei durchgesetzt und könnte auch die Rentenreform per Dekret anordnen. Dies möchte der Präsident jedoch offenbar solange wie möglich vermeiden, da der Eindruck, ein schwaches Parlament werde von seiner Übermacht drangsaliert, in der Bevölkerung inzwischen tief verankert ist. Die "Monarchische Republik", wie sie Macron zu Beginn seiner Präsidentschaft vorschwebte, die er als "jupitergleich" bezeichnete, hat ihm soviel Gegenwind beschert, daß er längst von dieser verbalen Selbstüberhöhung Abstand genommen hat und mit mäßigem Erfolg versucht, Nähe zum Volk vorzutäuschen.

Während in Deutschland die Sozialpartnerschaft den Gewerkschaften den Zahn der Kampfbereitschaft gezogen und die Lohnabhängigen befriedet hat, gehen die Gewerkschaften in Frankreich zuerst auf die Straße, streiken und werden erst dann von den Arbeitgebern und der Regierung zum Gespräch eingeladen. So wurde der Generalstreik ausgerufen, bevor die Rentenreform in ihren Einzelheiten vorgestellt worden war. Diesmal hat die Regierung zwar im Vorfeld versucht, gewisse Anleihen beim deutschen Modell zu nehmen und Gespräche mit Gewerkschaftern zu führen. Nach übereinstimmenden Berichten Beteiligter hielten Regierungsvertreter dabei jedoch lediglich Vorträge über ihr Vorhaben, während ein Austausch von Argumenten oder gar ein Dialog überhaupt nicht vorgesehen war.

Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber verhandelten nahezu ununterbrochen, wobei der Charakter dieser Beratungen und Diskussionen im Grunde stets ungewiß blieb und keine Annäherung stattfand. Während die Regierung nach gewissen Zugeständnissen jetzt genau wie die Arbeitgeber an ihren Kernzielen festhält, ist das Lager der Gewerkschaften gespalten: Die CGT lehnt die gesamte Reform kompromißlos ab, die CFDT findet sie in ihren Grundzügen richtig, besteht aber auf dem Renteneintrittsalter von 62 Jahren, das nicht erhöht werden dürfe. Ungeachtet laufender Verhandlungen wurde weiter gestreikt, was eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützte, da die Menschen erleben, daß sie materiell nicht über die Runden kommen und überdies nicht gehört, ja von den Eliten verachtet werden.

Die Rentenpläne der Regierung sehen im Kern dreierlei vor. Erstens sollen die bestehenden 42 Sondersysteme in ein einheitliches Rentensystem überführt werden. Zweitens sollen zur Berechnung der Rente nicht mehr mehr nur die Berufsjahre mit dem höchsten Einkommen zugrunde gelegt werden, sondern durch ein Punktesystem alle Arbeitsstunden, die im Laufe eines Berufslebens geleistet wurden. Drittens soll das Renteneintrittsalter von derzeit 62 schrittweise auf 64 Jahre erhöht werden. Vor allem dagegen wurde erbittert protestiert. Die Regierung verteidigt die Reform mit den Argumenten, sie führe eine Vereinfachung, Vereinheitlichung und damit ein gerechteres System herbei, das zudem Geringverdienern und Menschen mit unregelmäßigen Berufsverläufen deutlich höhere Renten gewähre. Grundsätzlich sei das bestehende System nicht länger finanzierbar, weshalb eine Reform nicht zu Lasten künftiger Generationen vermieden werden dürfe.

Es geht Macron erklärtermaßen darum, den Sozialstaat nach deutschem Muster zu schleifen, also die Umverteilung von unten nach oben zu forcieren und zugleich potentiellen Widerstand dagegen unter Kontrolle zu bringen. Daß dieses Vorhaben auf einen harten Kampf hinausläuft, schrieb er bereits als Präsidentschaftskandidat in einem Buch mit dem programmatischen Titel "Revolution". Entsprechend vorsichtig ging er zu Werke und machte mit Jean-Paul Delevoye einen ausgewiesenen Rentenexperten zum "Hohen Kommissar für die Rentenreform", deren Umsetzung erst in die zweite Hälfte der Amtsperiode gelegt wurde. Im Wahlkampf hatte Macron noch versprochen, daß es mit ihm keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben werde, und er rückte im Zuge der Kontroverse um die Inhalte seiner Reform erst sehr spät mit diesem Vorhaben heraus. Nicht von ungefähr täuscht der Reformansatz vor, Privilegien abzubauen und sich um die Schwächsten wie die Frauen, die Bauern, kleine Selbständige und Geringverdiener zu kümmern, die durch die Reform am meisten zu gewinnen hätten. Selbst die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre stellte die Regierung vorerst zur Disposition, um dem Widerstand die Spitze zu nehmen.

Die entschiedenen Gegner des Vorhabens machen sich jedoch keine Illusionen über eine mögliche Kompromißbereitschaft Macrons und Entschärfung des Gesetzes. Ihnen ist klar, daß das Projekt darauf hinauslaufen soll, daß alle länger arbeiten müssen. Die Reform ist so angelegt, daß die Renten nach und nach gesenkt werden können, um andere Posten im Staatshaushalt zu finanzieren. Die Vereinheitlichung des Rentensystems, die der Präsident anpreist, führt zu einer Gleichheit auf niedrigerem Niveau: Mit einer wachsenden Zahl von Rentnern sollen alle immer ärmer werden. Bislang hat gerade die Vielfalt der berufsständischen Systeme dafür gesorgt, daß sich jede Berufsgruppe vehement gegen Veränderungen stemmt, die sie schlechter stellen könnte. Diesen Widerstand will der Präsident brechen, indem er Ungleichheit anprangert und eine soziale Absicherung im Munde führt, die für alle gelten, transparent und egalitär sein müsse.

Daß die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wie Emmanuel Macron sie versteht, nicht gerade auf eine Abschaffung der französischen Klassengesellschaft hinausläuft, sondern ein massiv verschärftes Arbeits- und Armutsregime im Schilde führt, scheint im Zuge dieser Kämpfe immer mehr Menschen im Land bewußt zu werden.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/auf-dem-weg-zur-vi-republik-in-frankreich-schwindet-das.724.de.html

[2] www.deutschlandfunk.de/auf-die-barrikaden-der-streit-um-die-rentenreform-in.724.de.html

19. Februar 2020


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