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HERRSCHAFT/1877: Frauenlöhne - gespaltene Wirklichkeit ... (SB)



Care-Tätigkeiten sind ökonomisch gesehen 'nicht fortschrittlich'. Sie sind personenbezogen, ortsgebunden und zeitintensiv, sie lassen sich nicht beschleunigen. Der Unterschied zwischen den Kosten für personenbezogene Dienstleistungen und für die Produktion von Gütern vergrössert sich zunehmend, da eine Effizienzsteigerung im Care-Bereich nur um den Preis eines Qualitätsverlustes möglich ist.
Das Theorem der Neuen Landnahme: Eine feministische Rückeroberung [1]

Anstatt warmer Worte für die Frauen, die in den Krankenhäusern, Pflegebetrieben, Supermärkten und Familienhaushalten für die Betreuung und Versorgung der Bevölkerung sorgen, oder das Inszenieren von Heldinnenmythen wäre überzeugender, wenn ihre im direkten Vergleich 20 Prozent und auf die Lebensarbeitszeit bezogen rund die Hälfte [2] gegenüber Männern betragende Einkommensbenachteiligung aufgehoben würde. In der Krise wird es besonders deutlich - die für die soziale Reproduktion der Gesellschaft erbrachte Sorgearbeit wird vor allem von Frauen verrichtet und ist zugleich weit schlechter entlohnt als die Erwerbsarbeit in anderen Wirtschaftsbereichen.

Im Einzelhandel mit Nahrungsmitteln, wo die ArbeiterInnen eines besonders hohen Risikos der Ansteckung mit COVID-19 ausgesetzt sind, tragen Frauen mit 72,9 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten die Hauptlast der Versorgung der Bevölkerung. In Krankenhäusern sind es 76 Prozent Frauen, die sich den überaus harten Bedingungen der medizinischen Notfallhilfe stellen, und in Kindergärten und Vorschulen sorgen 92,2 Prozent Frauen für die Aufrechterhaltung der außerfamiliären Erziehungsarbeit [3]. Was in dieser Aufstellung unsichtbar bleibt, ist die nach wie vor mehrheitlich von Frauen bestrittene kostenlose Hausarbeit, ohne die kapitalistische Gesellschaften eine weit höhere Kostenlast in der industriellen Produktion und in der Finanzwirtschaft hätten.

Auch aus diesem Grund wird das traditionelle Modell der von einem männlichen Ernährer abhängigen Kleinfamilie von wertkonservativen bis neofaschistischen Kräften so massiv gegen die Aufhebung der binären Geschlechterordnung durch queere AktivistInnen und die Gender-Wissenschaften verteidigt. Der unter Rechten grassierende Antifeminismus ist nicht nur kulturalistisch bedingt, er ist zu einem Gutteil einem Patriarchat geschuldet, das schon vor dem Beginn der modernen Zeitrechnung die Ordnung männlicher Vorherrschaft naturalistisch und religiös zu begründen suchte, um den materialistischen Kern seiner Herrschaft zu verbergen.

Eine plausible Erklärung dafür, warum Frauen in der EU die Hälfte ihrer Lebensarbeitszeit im Care-Sektor verbringen und dabei auch noch dürftig bis gar nicht entlohnt werden, kann ein bürgerlicher Gerechtigkeitsbegriff nicht leisten, wurzelt er doch selbst in klassengesellschaftlich, rassistisch, sexistisch und patriarchal begründeten Widersprüchen. Die eigentlich selbstverständliche Forderung, den Gender Pay Gap zu schließen, stellt die mehrwertproduzierende Gesellschaft vor das Problem, bei einer industrieller Arbeit gleichstellten Entlohnung im Care-Sektor bislang erfolgreich externalisierte Kosten einpreisen zu müssen und damit in einer massiv auf der Ausbeutung von Frauen basierenden Weltwirtschaft weniger wettbewerbsfähig zu sein.

Ohnehin ist die Zahl der in Familie, Krankenhaus, Pflege, Erziehung und anderen Sozialberufen arbeitenden Erwerbsabhängigen immer mehr gewachsen, während die Tätigkeiten in Fabrik und Verwaltung, in Forschung und Wissenschaft unter hohem Rationalisierungsdruck stehen. Industrien und Betriebe mit hoher Kapitalproduktivität können dem Effizienzprimat mit einer Konsequenz unterworfen werden, was bei Sorgearbeit aufgrund sofort manifest werdender Qualitätsverluste nur bedingt möglich ist. Wo jeder Handgriff am Krankenbett vermessen und verkürzt wird, ist ohne weiteres einsichtig, daß dies zu Lasten von PatientInnen geht, die ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben können. Wo der betriebswirtschaftliche Rechenschieber verlangt, daß die Zahl der Krankenhäuser verringert wird und die aus ihrer Belegung resultierenden Profite zu Lasten der Verfügbarkeit von Betten und Personal gesteigert werden, da sind die Lücken im Fall einer medizinischen Katastrophe wie der Coronapandemie nicht mehr zu schließen.

Aufgrund des krassen Mißverhältnisses zwischen dem keinen oder wenig Mehrwert erbringenden Erhalt menschlichen Lebens und den als relevant und unverzichtbar geltenden Sektoren und Unternehmen, die allein dem Primat der Kapitalverwertung verpflichtet sind, ist die Krise der sozialen Reproduktion nun besonders tief. Das gilt für die gesamte Lohnabhängigenklasse, denn die ArbeiterInnen in nicht lebensnotwendigen Bereichen der Produktion werden zu deren Aufrechterhaltung unverantwortlichen Ansteckungsrisiken ausgesetzt. Das Herunterfahren ganzer Produktionszweige zeigt mit nie dagewesener Deutlichkeit, auf welch tönernen Füßen die industrielle und finanzkapitalistische Akkumulation beim Versagen elementarer Lebenserfordernisse steht.

Solange der Eindruck vorherrscht, Rohstoffe und Nahrungsmittel ohne Ende kostengünstig importieren und die sogenannte Wertschöpfung durch Auslagerung der Fertigung von Vorprodukten in Billiglohnländer auf Kosten der dort ausgebeuteten Arbeit und Natur immer weiter steigern zu können, bleibt der Druck auf das Investieren in bislang kostenlose Sorgearbeit und den unterfinanzierten Dienstleistungssektor gering. Wo Mangel an billigen Arbeitskräften herrscht, werden kostengünstige ArbeitsmigrantInnen eingesetzt, die ihrerseits in ihren Herkunftsländern Lücken reißen, die von noch schlechter gestellten MigrantInnen wieder geschlossen werden.

Da die Coronapandemie zeigt, wie groß die strukturellen Defizite in den durch Privatisierung und Prekarisierung ausgezehrten Institutionen der Sorgearbeit sind, eröffnet sich nun die Möglichkeit, daß die dort arbeitenden Menschen ihre politischen Forderungen mit größerem Druck stellen. Natürlich werden sie nicht den Dienst im Notfall verweigern oder die Androhung dessen in die Waagschale werfen. Forderungen nach weit besserer Ausstattung existenziell unverzichtbarer Versorgungs- und Pflegestrukturen und vor allem der prinzipiellen Beendigung ihrer Privatisierung können jedoch in Zukunft auf eine noch breitere Basis als die bisherigen Streikbewegungen im Care-Sektor gestellt und so stark gemacht werden, daß politische Entscheidungen zugunsten der ArbeiterInnen und vom Funktionieren dieser Strukturen abhängiger Menschen wirksamer durchgesetzt werden können.

Das gilt auch für die sozialen Kämpfe Geflüchteter, migrantischer Minderheiten, obdachlos und erwerbslos lebender Menschen oder Strafgefangener. Der Frauenstreik nimmt konkrete Züge an, denn gegen Kapital und Patriarchat werden Frauen und LGBTIQ-Menschen nur erfolgreich sein, wenn die Verweigerung ihrer Arbeit konkrete Konsequenzen hat. Ihre gesellschaftlich unterlegene, von männlicher Dominanz und maskuliner Gewalt bedrohte Situation grenzt im Krisenfall an Entscheidungen über Leben und Tod. Die akute Not von öffentlichen Versorgungsstrukturen abhängiger Menschen droht vernichtende Züge anzunehmen, wenn ältere, verarmte, vorerkrankte, wohnungslose, undokumentierte oder in ihrer Wohnung isolierte und pflegebedürftige Menschen bei der weiteren Zunahme von COVID-19-Erkrankungen nicht über die medizinischen und ökonomischen Ressourcen verfügen, die ihr Überleben sichern.

Was als soziale Reproduktion so selbstverständlich erschien, daß nicht eigens darüber geredet wurde, sondern man Frauen mit einem Blumenstrauß zum 8. Mai abspeisen konnte, rückt damit in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Streites. Aufgrund des weit überproportionalen Engagements von Frauen in Fällen alltäglichen sozialen Notstandes ist das Wissen um die dort herrschenden Mängel und die Mittel, die es zu ihrer Beseitigung bedarf, unter ihnen besonders präsent. Dies geht mit einer Klassenperspektive einher, die eher nicht Sache der Karrierefeministinnen in den Vorstandsetagen großer Unternehmen ist, aber viele andere sich nicht als männlich und heterosexuell identifizierende Menschen betrifft. Wird beim feministischen Kampf für eine postkapitalistische und postpatriarchale Gesellschaft nicht vergessen, daß sich Solidarität vor allem dort als halt- und belastbar erweist, wo alle opportunistische Rhetorik und der symbolpolitische Reigen um Repräsentation und Anerkennung zurückbleiben, kann der Aufbruch gelingen.


Fußnoten:

[1] http://www.denknetz.ch/wp-content/uploads/2017/07/Das_Theorem_der_neuen_Landnahme._Beitrag_in_Jahrbuch_2013.pdf

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/374888.frauen-verdienen-im-leben-nur-halb-so-viel.html

[3]https://de.statista.com/infografik/21148/anteil-der-sozialversicherungspflichtig-beschaeftigten-nach-wirtschaftszweigen/

26. März 2020


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