Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1878: USA - COVID-19 deckt auf ... (SB)



Ein Mann ohne Prinzipien, ein Mann ohne Gewissen, ein Mann ohne jede Empathie. Ein Mann, dem es immer nur um 'ich, ich, ich' geht. Das extremste Beispiel für einen bösartigen Narzissten, das wir jemals gesehen haben.
Michael Moore über Donald Trump am 13. März 2020 [1]

Nicht an allem, was schlecht in den USA läuft, ist Donald Trump schuld. Auch als Präsident des militärisch stärksten, ökonomisch reichsten und im Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch mit Abstand führenden Land der Welt ist Trump in erster Linie Repräsentant seiner Klasse. Als solcher gelangte er an das höchste Amt im Staate und trifft dort politische Entscheidungen, die zuallererst KapitaleignerInnen, InvestorInnen, und GroßeigentümerInnen nützen. Der in Michigan lebende Regisseur Michael Moore, der eigens in New York City geblieben ist, um die Coronakrise in seinem Emergency Podcast System zu kommentieren, attackiert ihn ganz persönlich, macht er den Präsidenten doch für die vielen willkürlichen Versäumnisse, mit der seine Regierung im Vorlauf der absehbaren Coronapandemie alle Warnungen in den Wind schlug, verantwortlich.

Dennoch ist der desolate Zustand der USA nicht erst in Trumps Amtszeit entstanden, sondern der spätkapitalistischen Verfaßtheit der Gesellschaft geschuldet. Der soziale Niedergang hat nicht im Januar 2017 mit der Inauguration Trumps begonnen, sondern ist spätestens seit dem Aufstieg des Neoliberalismus zur Leitideologie der USA unter Ronald Reagan im Gange. Heute weisen die USA im Vergleich seiner Landkreise sozial bedingte Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung von bis zu 20 Jahren auf. 27,5 Millionen Menschen waren 2018 in den USA nicht krankenversichert, und bei der Inanspruchnahme einer privaten Krankenkasse können Kosten entstehen, die ganze Familien in die Armut treiben. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leben von einem Gehaltsscheck zum nächsten und können sich keinerlei Zusatzausgaben medizinischer oder anderer Art leisten. 38 Millionen Menschen leben in Armut, sind mangelernährt und müssen immer wieder Phasen des Hunger erleiden.

All das ist nicht Trump geschuldet, auch wenn er nach Kräften dafür sorgt, daß das soziale Elend weiter anwächst. Kosten zu sozialisieren und Gewinne zu privatisieren ist das innere Leitmotiv seines Regierungshandelns, wodurch Systeme öffentlicher Daseinsvorsorge wie Medicaid, Medicare oder das Nahrungsmittelhilfsprogramm SNAP systematisch ausgezehrt werden. Der Politiker und Unternehmer in Personalunion, der seine Entscheidungen häufig damit begründet, daß er ein Geschäftsmann ist, ist Exponent einer Oligarchie, die die Vereinigten Staaten wie ein neofeudales Lehnswesen beherrscht.

Darin unterscheidet er sich kaum von den 100 SenatorInnen in der Ersten Kammer des US-Kongresses, unter denen sich fast ausschließlich Millionäre befinden. Die große Einhelligkeit, mit der dort Entscheidungen zugunsten des Monopolkapitals getroffen werden, zeichnet PolitikerInnen der Demokraten wie Republikaner aus. Mehrere SenatorInnen haben im Januar und Februar aufgrund von Insiderinformationen zur kommenden Krise und den darauf erfolgenden Crash an der Börse aus dem Regierungsapparat millionenschwere Aktienpakete abgestoßen [2]. Das Land wird von einem faktischen Duopol regiert, dessen Mitglieder vor allem darauf bedacht sind, ihren Einfluß nicht mit einer der stets vergeblich antretenden dritten Parteien teilen zu müssen.

Was Trump nachweislich anzulasten ist und Michael Moore so zornig macht, ist die offenkundige Ignoranz im Umgang mit der Coronapandemie noch zu einer Zeit, in der China schon mehrere Wochen mit tiefgreifenden Maßnahmen für deren Eindämmung gesorgt hat. Seine Antwort darauf bestand darin, noch am 26. Februar vom Staat angestellte GesundheitsexpertInnen zu entlassen und zu versuchen, Gelder für die World Health Organization und das Center for Disease Control and Prevention (CDC), die zentrale Seuchenbekämpfungsagentur der US-Regierung, zu kürzen. Am gleichen Tag gab er in einer Pressekonferenz Entwarnung und behauptete, die Situation ganz und gar unter Kontrolle zu haben.

Am 28. Februar stufte die WHO das vom Coronavirus ausgehende Risiko als "sehr hoch" ein. Vollkommen unbeeindruckt davon war die Kommunikationsstrategie des Weißen Hauses in den nächsten Wochen davon bestimmt, alle Warnungen vor einer kommenden Pandemie den Demokraten als künstlich aufgebauschte Fake News anzulasten, um seine Wiederwahl im November zu verhindern. Bis in die erste Märzwoche hinein verbreitete Trumps Haussender Fox News die Propaganda einer von der politischen Konkurrenz systematisch inszenierten Seuchenhysterie, und führende Republikaner forderten die Bevölkerung auf, es sich auch weiterhin in Restaurants, auf Sportveranstaltungen und bei Parties gutgehen zu lassen. Vergleiche von der Art, daß das Coronavirus nicht gefährlicher als Autofahren oder eine ganz normale Grippe sei, waren an der Tagesordnung, was zugleich bedeutete, daß alle Vorkehrungen, die in Hinsicht auf eine Pandemie hätten getroffen werden müssen, zu unterbleiben hatten, wären sie doch die faktische Widerlegung der eigenen Unbedenklichkeitserklärungen gewesen.

Schon 2018 hatte Trump den gesamten für Pandemieabwehr aufgestellten Stab im Weißen Haus entlassen und den Kongreß dazu gedrängt, umfassende Kürzungen in dem von Präsident Barack Obama eingerichten Fonds zur Seuchenbekämpfung in Afrika vorzunehmen. Die in diesem Jahr erfolgende finanzielle Ausdünnung und institutionelle Schwächung aller mit der Abwehr von Epidemien befaßten Regierungsagenturen [3] war auch deshalb so frappant, weil die USA seit der Influenza-Pandemie von 1918, die ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten nahm, wenn der Virus auch nicht dort entstanden sein muß, immer wieder akute Notstände epidemischer Art erleiden mußten.

Die Unterstellung, die USA seien quasi immun gegen COVID-19, fiel auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil die Staatsräson des American Exceptionalism mit dem Glauben an eine Form von Unangreifbarkeit einhergeht, wie sie nur allen anderen Menschen überlegenen Ausnahmeexistenzen gegeben ist. Es ist Trump allemal anzulasten, diese Doktrin weißer Suprematie nicht nur gegen Flüchtende aus Lateinamerika aggressiv eingesetzt zu haben, in dem er das klassisch antisemitische Ressentiment mobilisierte, die Südgrenze der USA werde von ihnen in ein Einfallstor gefährlicher Seuchen verwandelt. Er arbeitete sich auch auf rassistische Weise an China ab, in dem er den neuen Coronavirus notorisch als "Chinavirus" bezeichnete.

Indem Trump die Verharmlosung der Situation bis zum 14. März betrieb, als er erstmals andeutete, sich in der Einschätzung der Coronakrise womöglich geirrt zu haben, sind wertvolle Wochen verstrichen, in denen die weitgehende Eindämmung der Pandemie in den USA noch möglich gewesen wäre. Die Liste der von Trump bis dahin abgegebenen Beschwichtigungen, der Bekräftigungen nationaler Stärke und Beschwörungen des boomenden Aktienmarktes [4] könnte in einem psychatrischen Kontext als Exempel für das massive Leugnen einer Wirklichkeit verwendet werden, die offenen Auges gesehen und doch nicht erkannt wird.

Der sich bis in den März hinein erstreckende Versuch, durch das aktive Vermeiden des Testens auf COVID-19 die Zahlen niedrig zu halten und damit die Wiederwahl zu sichern, hat zum Ergebnis, daß Epidemiologen die tatsächliche Zahl der in den USA als infiziert angegebenen Menschen von 143.000 am 30. März um ein mehrfaches höher halten. Mit einer aktuellen Verdopplungszeit der Infektionen wie Verstorbenen von vier Tagen ragt die Kurve der epidemischen Verbreitung von COVID-19 steil nach oben und wird aller Voraussicht nach das ganze Land betreffen. Da es aufgrund der ungenügenden Vorbereitung viel zu wenige Beatmungsgeräte und Schutzkleidung gibt, ist in den nächsten Wochen mit einer drastischen Zunahme an Erkrankten und Toten zu rechnen.

Die Unsichtbarkeit der epidemischen Verbreitung von COVID-19 ist auch sozial bedingt. Zum einen übersteigen die Kosten für einen Coronatest, die nicht, wie in anderen Ländern, gratis angeboten werden, das Budget vieler Menschen so sehr, daß sie einer solchen Überprüfung ihres Gesundheitszustandes aus dem Wege gehen. Zum andern erhalten viele ArbeiterInnen in den USA keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, so daß sie aufgrund ihrer prekären Einkommenssituation so lange arbeiten gehen wie möglich. Zum dritten gibt es Millionen Menschen, die obdachlos sind, in prekären, nicht zu erfassenden Verhältnissen leben oder als Strafgefangene der Enge eines Knastsystems ausgeliefert sind, wo die Verbreitung des Virus besonders schnell vonstatten gehen kann. Da ohnehin viel zu wenige Test Kits und Betten in intensivmedizinischen Abteilungen vorhanden sind, ist kaum mit einer behördlichen Initiative zu rechnen, auch diese Gruppen der Bevölkerung medizinisch zu betreuen.

Diese Entwicklung wird sich nicht auf die 8,5 Millionen EinwohnerInnen New York Citys beschränken. Dort sind die Krankenhäuser nicht mehr in der Lage, den Ansturm der COVID-19-PatientInnen zu bewältigen, geschweige denn die ganz normale medizinische Versorgung vorzunehmen, bei der es ebenfalls um Leben und Tod gehen kann. Fast 34.000 Infizierte und fast 800 Verstorbene allein in dieser Stadt sorgen für chaotische Verhältnisse und setzen das medizinische Personal dem sehr hohen Risiko aus, selbst infiziert zu werden. Da es neben den besonders stark betroffenen Staaten im Nordosten der USA mehrere Metropolregionen mit hoher Rate an Neuinfektionen gibt, scheint eine regionale Quarantäne nach dem Beispiel der Provinz Hubei und seiner Hauptstadt Wuhan keinen Sinn mehr zu machen.

Die Vereinigten Staaten sind als Ganzes betroffen und drohen mit Maßnahmen eines militärischen Katastrophenschutzes überzogen zu werden, wie es sie nur im Kriegsfall gibt. Laut Michael Moore ist die Nationalgarde in New York City bereits in Stellung gegangen. Bei anhaltender Krise ist in ländlichen Gebieten mit Plünderungen und anderen Formen ziviler Unruhe zu rechnen, davon gehen zumindest diejenigen BürgerInnen in den langen Schlangen vor Waffenläden aus, die sich dort mit mehr Munition und Feuerkraft eindecken.

Was wie ein apokalyptischer Film wirkt, ist ein sozialer Krieg, in dem der unsichtbare Feind als Metapher derjenigen Menschen fungiert, die dabei zugrunde gehen. Die bourgeoise Gleichgültigkeit eines Trump gegenüber den Bedürfnissen einer Bevölkerung, die jeden Cent umdrehen muß und im Falle von Frauen, LGBTIQ-Menschen und nichtweißen Minderheiten zudem rassistischen und sexistischen Formen der Unterdrückung ausgesetzt ist, ist das Merkmal einer Klasse der Gewinner, deren vermeintliche Unangreifbarkeit nur faktisch widerlegt werden kann. Das hat auch der Autor Dave Lindorff erkannt, wenn er die Auseinandersetzung mit COVID-19 aus ihrer biologistischen Verankerung löst und zu dem Schluß gelangt:

Wir leben in einem Horror-Roman von Stephen King. Wir sind auf den Feind gestoßen, aber es könnte sein, daß es nicht COVID-19 ist. Wir selbst und die ungleiche, entzweite und dysfunktionale Gesellschaft, die wir geschaffen haben, könnten der Feind sein.


Fußnoten:

[1] Rumble with Michael Moore - Episode 51: Emergency Podcast System - The Awful Truth:
https://rumble.media/episode/episode-51-emergency-podcast-system-the-awful-truth/

[2] https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/aktien-verkaufen-risiken-herunterspielen-wie-us-senatoren-auf-coronavirus-informationen-reagierten/

[3] https://foreignpolicy.com/2020/01/31/coronavirus-china-trump-united-states-public-health-emergency-response/

[4] https://www.counterpunch.org/2020/03/20/survive-and-revolt/

[5] https://www.nytimes.com/interactive/2020/us/coronavirus-us-cases.html#g-cases-by-county

[6] https://www.counterpunch.org/2020/03/17/we-have-met-the-enemy-it-may-turn-out-to-be-us-and-not-a-virus/

30. März 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang