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HERRSCHAFT/1890: Brasilien - ohne Rücksicht auf Verluste ... (SB)



Auf die Frage, warum er nicht mehr gegen die steigende Zahl der Coronatoten im Land unternehme, erwiderte der Präsident: "Na und? Das tut mir leid. Aber was verlangt ihr, das ich dagegen tue? Mein zweiter Vorname ist Messias, aber ich vollbringe keine Wunder. Die Toten von heute wurden schon vor zwei Wochen angesteckt. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung wird es treffen.
Jair Bolsonaro im Epizentrum der Coronakrise [1]

Lateinamerika entwickelt sich zu einem neuen Zentrum der Coronakrise, und Brasilien ist der Hotspot der Pandemie auf dem Kontinent. Im mit 210 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten lateinamerikanischen Land läßt der rapide Anstieg der Infektions- und Todeszahlen katastrophale Folgen insbesondere für die ärmeren Bevölkerungsteile befürchten, die kaum über Möglichkeiten verfügen, sich vor der Krankheit zu schützen. War Sars-CoV-2 zunächst das Virus der Reichen, die es von Auslandsreisen mitbrachten, so hat es längst die Favelas erreicht, wo es den Bewohnern oft am Nötigsten wie Wasser und Seife fehlt, während ganze Familien auf engstem Raum zusammenleben. Millionen von Menschen haben keinen Arbeitsvertrag, keine Rücklagen und keinen sozialen Schutz. Sie müssen sich als fliegende Händler und Tagelöhner, Putzfrauen oder Haushaltshilfen, Müllsammler und Schuhputzer durchschlagen. Können sie nicht arbeiten, fehlen ihnen unmittelbar die geringfügigen Einkünfte, um sich und ihre Familien zu ernähren. Wirtschaftskrise und Pandemie verschärfen die sozialen Unterschiede und führen zu einer neuen Welle struktureller Armut, die vor allem die schwächsten Teile der brasilianischen Klassengesellschaft trifft.

Wenngleich angesichts einer kriselnden Volkswirtschaft, schwacher Sozialsysteme und unterfinanzierter Krankenhäuser die Ausgangsbedingungen von vornherein weitaus schwieriger als in Europa sind, war Brasilien doch in der Vergangenheit bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. Jair Bolsonaros chaotischer Umgang mit der Coronakrise macht jedoch ein landesweit koordiniertes Vorgehen zunichte. Der bekennende Faschist im Präsidentenpalast spielt die Gesundheitsgefahr herunter, drängt auf eine sofortige Lockerung ergriffener Maßnahmen und erklärt die volle Wiederaufnahme der Wirtschaft zur absoluten Priorität. "Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend werden die Zukunft derjenigen sein, die die Tyrannei der totalen Isolation unterstützen", kritisiert er die von mehreren Bundesstaaten verhängten Ausgangsbeschränkungen und sabotiert damit eine Strategie, die womöglich dazu führen könnte, das Schlimmste abzuwenden. [2]

Der Präsident hatte frühzeitig klargestellt, daß er wenig tun werde, um das Land gegen den "unsichtbaren Feind" Corona zu verteidigen. Personen der Risikogruppe seien älter als 60 Jahre. Warum also die Schulen schließen? 90 Prozent der Menschen würden im Falle einer Infektion nichts spüren. Seine Ansprache gipfelte in dem Satz: "Unser Leben muss weitergehen, Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben." In der Abwägung zwischen gesundheitlichen Risiken durch das Virus und dem Schaden für die Wirtschaft hat sich Bolsonaro klar für letztere entschieden. Dabei tut er alles, um die Verantwortung für die Wirtschaftskrise von sich fernzuhalten, und rechnet damit, daß sie viele Menschen wesentlich stärker als das Virus beschäftigen wird.

Er verkörpert die Überzeugung der brasilianischen Eliten, daß es kein Schaden wäre, würden Zehntausende Hungerleider mehr der Pandemie zum Opfer fallen. Bei einem Bad in der Menge seiner jubelnden Anhänger ließ er sich mit den Worten über das Virus aus: "Das ist wie Regen. Man kann versuchen, sich dagegen zu schützen, aber ein bisschen nass wird man doch immer." Auf die Frage eines Fernsehteams, warum er nicht mehr gegen die steigende Zahl der Corona-Toten im Land unternehme, erwiderte er: "Na und? Das tut mir leid. Aber was verlangt ihr, das ich dagegen tue? Mein zweiter Vorname ist Messias, aber ich vollbringe keine Wunder. Die Toten von heute wurden schon vor zwei Wochen angesteckt. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung wird es treffen." Die Behauptung, vor dem Virus seien alle gleich, trifft in kaum einem Land so wenig wie in Brasilien zu.

Mitte April hatte der Präsident Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta entlassen, weil dieser strenge Maßnahmen im Sinne der Weltgesundheitsorganisation WHO befürwortete. Auch dessen Nachfolger Nelson Teich hat nach nur einem Monat im Amt seinen Posten wieder geräumt. Grund war offenbar ein Streit mit Bolsonaro, der von ihm verlangte, Chloroquin als Wirkstoff gegen Covid-19 zuzulassen, was der Minister verweigerte, da keine wissenschaftlichen Studien dessen Wirksamkeit bestätigen. Auch war Teich bereits zuvor in einem Beschluß des Präsidenten zur Lockerung von Isolationsmaßnahmen übergangen worden. General Eduardo Pazuello übernahm vorübergehend die Leitung des Gesundheitsministeriums, bis Nachfolge gefunden ist. Hoch im Kurs für den Posten steht die Ärztin Nise Yamaguchi, die den Einsatz von Chloroquin gutheißt und sich bereits mit Bolsonaro getroffen haben soll. Wie so oft zeigt sich auch bei dieser Kontroverse, in welch hohem Maße Bolsonaro sein erklärtes Vorbild Donald Trump zu imitieren versucht, wenn er mangels jeglicher Kompetenz im Umgang mit der Coronakrise sein Heil in einem vermeintlichen Wundermittel sucht, mit dem er sich als Retter des Landes inszenieren könnte. [3]

Da der Präsident als Bekämpfer der Coronakrise ausfällt, haben die Gouverneure der meisten Bundesstaaten in eigenem Ermessen Initiative ergriffen und Maßnahmen verfügt. Weil es aber an einer landesweit geschlossenen Abstimmung und Vorgehensweise fehlt, haben auch die Gouverneure ungeachtet ihrer öffentlich zum Ausdruck gebrachten Kritik an Bolsonaro keine flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen verfügt, sondern Einschränkungen für einzelne Städte erlassen oder die Entscheidung an Bürgermeister übertragen, so daß ein Flickenteppich entstand. Allein im Bundesstaat Sao Paulo, der 40 Millionen Einwohner hat, wurden nach offiziellen Angaben inzwischen mehr Coronatote als in ganz China mit mehr als einer Milliarde Einwohner registriert. Hinzu kommt, daß in Brasilien vergleichsweise wenig getestet wird, so daß die amtlichen Zahlen zur Pandemie ohnehin wenig aussagekräftig sind, weshalb eine um ein Vielfaches höhere Dunkelziffer vermutet wird.

Zu Wort gemeldet hat sich Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011). Er wirft seinem ultrarechten Nachfolger vor, wegen unzureichender Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des neuartigen Coronavirus einen "Genozid" zu verursachen. Die Regierung in Brasília mache aus jedem, der sich vor dem Erreger fürchte, einen Feind, kritisierte Lula in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Bolsonaros Aufrufe zur Öffnung der Wirtschaft trieben das Land ins Chaos. Zudem verurteilte Lula den weit verbreiteten Einsatz der Armee und erklärte, es gebe heute weniger Zivilisten als Militäroffiziere im Präsidentenpalast. Die Armee habe unter Bolsonaro sogar mehr Einfluß in der Regierung als während der Militärdiktatur. Angesichts der Attacken auf die Demokratie, die demokratischen Institutionen und das brasilianische Volk müsse Bolsonaro des Amtes enthoben werden. Er sei jedoch dagegen, daß eine Bewegung für ein Amtsenthebungsverfahren von einer politischen Partei ausgehe. [4]

Bolsonaro steht derzeit unter verschärftem Druck durch die Justiz, da das Oberste Gericht die Bundespolizei angewiesen hat, Anschuldigungen gegen den Präsidenten wegen Einmischung in die Polizeiarbeit zu untersuchen. Diese Vorwürfe wurden von dem im April zurückgetretenen Justizminister Sérgio Moro erhoben. Die Polizei ermittelt Medienberichten zufolge in verschiedenen Fällen gegen Bolsonaro und sein enges Umfeld. Dabei geht es unter anderem um Vorwürfe gegen seinen Sohn Carlos, einen Stadtrat von Rio de Janeiro, der eine Fake-News-Kampagne zugunsten seines Vaters geleitet haben soll, wie auch mutmaßliche Verwicklungen von Bolsonaros Söhnen in korrupte Geschäfte paramilitärischer Milizen in Rio de Janeiro. Einige dieser Paramilitärs, mit denen die Bolsonaros geschäftliche und teilweise persönliche Beziehungen pflegten, waren auch in den Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco verwickelt, die am 14. März 2018 erschossen wurde.

Inzwischen sind Videoaufnahmen von einer Kabinettsitzung aufgetaucht, die Moros Vorwürfe zu bestätigen scheinen. Dabei drohte der Präsident offenbar, den Bundespolizeichef und den Justizminister auszutauschen, falls der Posten des Direktors der Bundespolizei in Rio de Janeiro nicht neu besetzt würde. Er müsse schließlich seine Familienmitglieder schützen. Zudem sollen sich der Präsident und sein Kabinett in der Sitzung einer anrüchigen Sprache bedient und Beleidigungen verschiedener Politiker, der Richter des Obersten Gerichts und von Brasiliens größtem Handelspartner China ausgesprochen haben. Wie der Präsident dazu erklärte, sei er nicht besorgt über die vom Obersten Gerichtshof genehmigte Untersuchung. Auch sei das Wort "Bundespolizei" auf der fraglichen Aufzeichnung gar nicht zu hören. Dennoch hätte das Video seiner Ansicht nach zerstört werden sollen. [5]

Unmittelbar vor dem Rücktritt des Justizministers hatte Bolsonaro den Chef der Bundespolizei, Maurico Valeixo, entlassen, der wiederum ein enger Vertrauter Moros ist. Valeixo warf dem Präsidenten später in einem Interview politische Einflußnahme auf die Polizei vor. Bolsonaro habe den Posten mit einer ihm nahestehenden Person besetzen wollen. In der Tat nominierte der Präsident anschließend Alexandre Ramagem, einen Freund der Familie, als Nachfolger, doch Brasiliens oberster Richter Alexandre de Moraes legte sein Veto dagegen ein. Nach der Auswertung des Videos und der Befragung der beteiligten Minister entscheidet der Generalstaatsanwalt nun, ob er wegen Machtmißbrauchs und Behinderung der Justiz gegen Bolsonaro vorgehen wird. Sollten der Oberste Gerichtshof sowie zwei Drittel des Unterhauses des Kongresses begründete Beweise für eine Schuld sehen, würde der Präsident seines Amtes enthoben und Klage vor dem Obersten Gericht erhoben. Inzwischen werden die Stimmen nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro lauter, wobei dessen Kritiker darauf setzen, daß sich die Vorwürfe Moros beweisen lassen. Die ohnehin kaum sichtbare Opposition scheut sich bislang, diesen riskanten Weg zu gehen, zumal ein Impeachment stets die Gefahr birgt, daß sich ein bezichtigter Amtsträger als Opfer inszenieren kann und sogar gestärkt daraus hervorgeht.

Nachdem Bolsonaro wichtige Minister verloren hat, die seiner Regierung Akzeptanz in konservativen bürgerlichen Kreisen verschafften, versucht er nun, die Reihen im eigenen Lager zu schließen. Zu den einflußreichsten gesellschaftlichen Kräften auf seiner Seite gehören die wachsenden evangelikalen Kirchen mit ihren Mediennetzwerken und populären Fernsehpredigern. Einer, der die Stimmung zugunsten Bolsonaros beeinflussen könnte, ist der TV-Missionar und Multimillionär R. R. Soares, dessen Sohn, der Abgeordnete David Soares, mit dem Präsidenten zusammentraf. Dabei soll es um einen Schuldenerlaß in Höhe von umgerechnet mehreren Millionen Euro gegangen sein. Das ist wohl der Preis, den Bolsonaro als Gegenleistung für eine entsprechende Unterstützung entrichten muß. [6]

Daß Jair Bolsonaro durch ein Amtsenthebungsverfahren zu Fall gebracht werden könnte, ist eher nicht zu erwarten. Er steht und fällt nach dem Willen der Militärs, die ihn aufgebaut haben und erst dann demontieren, wenn er ihnen mehr schadet als nützt. Solange er erhebliche Teile der Bevölkerung für sich einnehmen und die Interessen der Bibel-, Blei- und Bullenfraktion erfolgreich bedienen kann, bleibt er deren Marionette im Präsidentenpalast, die gesellschaftlichen Widerstand gegen Ausbeutung, Unterwerfung und Zerstörung eindämmt und ausschaltet. Mit ihm als politischer Führungsfigur sind die Militärs einflußreicher geworden, als sie es je seit Ende der Diktatur vor 35 Jahren waren. Würde der Strohmann an der Spitze des Staates zum Rücktritt gezwungen, nähme der Vizepräsident, General Hamilton Mourao, seinen Platz ein. Inmitten der eskalierenden Coronakrise nach einer stärkeren Hand als der Bolsonaros zu rufen, brächte die Militärs offen an die Macht, womit Brasilien vom Regen in die Traufe käme. Viel wird davon abhängen, wie der Präsident die Coronakrise abwettern kann, doch entscheidend bleibt, daß sich an der verhängnisvollen Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft erst dann etwas ändert, wenn dies Bewegungen von unter her durchsetzen.


Fußnoten:

[1] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/bolsonaro-wirtschaft-wichtiger-als-covid-19-bekaempfung-16762055-p3.html

[2] www.fr.de/politik/coronavirus-brasilien-mehr-13400-ansteckungen-binnen-stunden-13642304.html

[3] www.faz.net/2.1677/streit-mit-bolsonaro-brasiliens-gesundheitsminister-tritt-ab-16772142.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/378409.coronavirus-in-brasilien-lula-warnt-vor-genozid.html

[5] www.tagesschau.de/ausland/bolsonaro-video-polizei-101.html

[6] www.welt.de/politik/ausland/article207655769/Brasiliens-Praesident-und-Corona-Bolsonaros-Radikalisierung-in-der-Krise.html

20. Mai 2020


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