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HERRSCHAFT/1900: Ausländer, Flüchtlinge, Farbige im Visier ... (SB)



Die weltweiten Proteste gegen die Ermordung von George Floyd halten fast zwei Wochen nach jenem 25. Mai in Minneapolis, als der Polizist Derek Chauvin mit Unterstützung dreier Kollegen den wehrlosen Mann fast neun quälende Minuten lang umbrachte, unvermindert an. Und nicht nur das, der landesweite Aufstand in den USA hat in aller Welt Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen ausgelöst, an denen sich Zehntausende vor allem junger Menschen beteiligen. Dafür ist nicht nur das Vorliegen eines Videos verantwortlich, das den Rassismus in den USA auf derart grausame Weise sichtbar macht, daß diese Tat im Unterschied zu zahlreichen vergleichbaren Ereignissen rassistischer Polizeigewalt tiefen Eindruck bei allen hinterläßt, die auch nur einen Ausschnitt aus diesem Zeugnis mörderischer Menschenverachtung betrachtet haben.

Der Hilferuf Floyds "I can't breathe!" ist zum millionenfachen Ausdruck eines ganzen Ensembles von Unterdrückungs- und Ohnmachtserfahrungen geworden, die Menschen in aller Welt tagtäglich erleiden, weil es nicht nur einen Rassismus gegen nichtweiße Menschen gibt. Zahlreiche Rassismen unterschiedlicher Schweregrade und verschiedener Zielrichtung sind das Resultat einer Gesellschaftsordnung, die ihren Bestand nur sichern kann, wenn sie die Menschen spaltet und gegeneinander aufbringt. Milliarden Menschen sind für einen Kapitalismus entbehrlich, der so produktiv geworden ist, daß er sich nur noch über immer rücksichtslosere Formen der Ausbeutung, Enteignung, Entrechtung und Ausgrenzung sowie durch Anleihen an die Zukunft in Form immer weniger durch Mehrwertabschöpfung gedeckter Schulden reproduzieren kann. Um die davon Betroffenen daran zu hindern, den naheliegenden Weg zur tätigen Selbstorganisation und autonomen Krisenbewältigung, also nicht zuletzt der Enteignung der Enteigner, einzuschlagen, werden sie mit allen Mitteln sozialstrategischer Kunst atomisiert und in Überlebenskonkurrenz getrieben.

Die dabei produzierten Rassismen betreffen nicht nur Unterschiede in der Hautfarbe, sondern vor allem die Unterteilung der Menschen in eine heterosexuelle, hierarchisch organisierte Geschlechterdichotomie, ohne die die von Frauen kostenlos verrichtete Reproduktionsarbeit nicht mehr geleistet würde. Häufig ergänzen und intensivieren sich die verschiedenen Unterdrückungsverhältnisse, indem der jeweilige Sozialstatus, die nationale oder ethnische Herkunft, die individuelle Körperlichkeit, die Leistungsfähigkeit, das Alter und andere sich bei Abweichung von der verlangten Norm zur Stigmatisierung eignender Kriterien zur Anwendung gelangen.

Ganz extrem fallen die diversen Trennungs- und Spaltungslinien aus im Verhältnis zwischen den hochproduktiven, in gemäßigten Klimazonen liegenden Industriestaaten des Nordens und dem Globalen Süden, wo soziales Elend, massive Umweltzerstörung und lebensbedrohliche Verarmung für das Gros der Menschen Alltag sind. Als schwarze Frau im subsaharischen Afrika oder weißer Mann in einer westeuropäischen Metropolengesellschaft geboren zu werden ist ein Unterschied ums Ganze. Wenn diese Frau mit ihrem Kind in die EU fliehen will, um akuter Lebensgefahr zu entkommen, dann steht sie vor fast unüberwindlichen Hindernissen. Für sie ist die Wahrscheinlichkeit, schon auf dem Weg nach Europa zu sterben, so hoch, wie eine solche Gefahr für den weißen Mann, der nach Belieben um die Welt jetten kann, um Geschäfte zu tätigen oder einfach Spaß zu haben, auf ein kaum vorhandenes Restrisiko schrumpft.

So sind die zwischen weißer und schwarzer Hautfarbe ausgespannten Rassismen nicht zu trennen vom Nationalismus derjenigen, die bereit sind, für das eigene Wohlergehen nicht nur an der Misere der Menschen außerhalb der eigenen Landesgrenzen vorbeizugucken, sondern diese durch die eigenen Handels- und Geschäftspraktiken noch zu vertiefen. MigrantInnen und Flüchtlinge unterliegen dieser Kategorisierung, weil das globale Elendsproletariat in der Regel so ortsgebunden und immobil ist, daß die Flucht aus dieser Lage einem Bruch der Regel gleichkommt, laut der die Menschen in den Hütten verrecken sollen, damit sie die BewohnerInnen der Paläste nicht daran hindern können, daß ihnen die Welt weiterhin zu Füßen gelegt wird.

All das wird angesprochen in den Protesten gegen die rassistische Polizeiwillkür in den USA, die stellvertretend für die autoritäre Staatlichkeit in aller Welt angegriffen wird, mit der Klassengrenzen und Sozialschranken unüberwindlich gemacht werden. People of Color können noch so sehr in den Genuß formaler Gleichstellungsregeln gelangen, ohne daß Aussicht darauf bestände, daß der strukturelle Rassismus, der nichtweiße Menschen auf den Status von ZwangsarbeiterInnen und SklavInnen zurückwirft, in absehbarer Zeit unumkehrbar überwunden werden wird. Sie stellen das Gros der weltweit vor lebensfeindlichen Verhältnissen fliehenden Menschen und der oft nur für eine Saison in andere Länder ziehenden ArbeitsmigrantInnen, die den Abhang des Neokolonialismus, der aus ihren Herkunftsländern Rohstoffe aller Art saugt, in die steil ansteigende Gegenrichtung überwinden um des Hauches einer Chance auf ein besseres Leben willen. Wenn sie für Hungerlöhne auf Obstplantagen schuften, sich als DienerInnen bei neofeudalen Herren verdingen, Betten in den Tourismusresorts am Rande jenes Meeres machen, das sie mit letzter Kraft überwunden haben, fremde Senioren pflegen und dafür die eigenen Eltern zurücklassen, die ungeborenen Kinder weißer KarrieristInnen austragen oder als SexarbeiterInnen für das affektive Wohlbefinden gestreßter Erfolgsmenschen ausgebeutet und verachtet werden, sollen sie noch dankbar sein, anstatt gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung auf die Straße zu gehen.

Wenn das kapitalistische Weltsystem von einer Krise in die nächste taumelt, bleibt der achtsame Umgang mit den gesellschaftlichen Naturverhältnissen als erstes auf der Strecke. Wer mit der anthropozentrischen Sicht auf andere Lebewesen nicht mehr konform geht, kann dies auch als Ausweitung rassistischer Feindseligkeit auf das natürliche Leben verstehen. Die als Krise des Klimas und der Biodiversität unzureichend adressierten Gewaltverhältnisse, denen die vermeintliche Sonderstellung des Menschen und das Leugnen seiner tierlichen Herkunft zugrunde liegen, betrifft jüngere Menschen ganz besonders, nicht nur weil man ihnen die Zukunft klaut, sondern weil die Einsicht in die Unteilbarkeit des Schmerzes die Grenze der Arten und Spezies gerade bei denjenigen transzendiert, die in den Trümmern kapitalistischen Wachstums geboren wurden und die Herrschaft des Menschen über die Natur nur noch als zynische Anmaßung verstehen können. Für sie hat die häufig zu vernehmende Kritik, man dürfe Menschen nicht wie Tiere behandeln, längst die Frage danach aufgeworfen, was Tiere dazu qualifiziert, zu Objekten monströser Grausamkeit gemacht zu werden.

All das schwingt mit in den antirassistischen Protesten, die im besten Sinne inklusiv und inersektional sind. Wenn auch von Hautfarbe und Herkunft privilegierte Menschen in fast allen europäischen und nordamerikanischen Großstädten massenhaft auf die Straße gehen, um Solidarität mit People of Color, MigrantInnen und flüchtenden Menschen zu üben, dann ist das Anlaß zur Freude angesichts einer ansonsten mit anwachsender Beschleunigung in diverse Katastrophen taumelnden Welt.

Es ist vor allem auch ein starkes Signal in Richtung derjenigen, die mit Nationalchauvinismus, Rassenhaß, Antifeminismus, Homo-, Trans- und Interphobie versuchen, die Herrschaft von Patriarchat und Kapital zu befestigen, und sei es auf den Trümmern ganzer Städte und den Leichen von Millionen. Diese Auseinandersetzung wird zu führen sein, und sie wird entbehrungsreich und schmerzhaft werden, denn die Kräfte der Reaktion und Zerstörung geben ihren Platz nicht kampflos preis. Auch dafür ist das langsame Sterben George Floyds ein Symbol - vielleicht werden die Umstehenden schon beim nächsten Akt massiver Polizeigewalt nicht mehr zuschauen, sondern entschieden für das Leben des Opfers übermächtiger Gewalt kämpfen.

7. Juni 2020


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