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HERRSCHAFT/1920: Zeit der Autokraten ... (SB)



"Danke an jeden einzelnen, der uns dabei geholfen hat, den Patriotismus zu retten, der gebetet hat, auf die Straße gegangen ist und dafür gesorgt hat, dass Bolsonaro bei dieser Wahl so viele Stimmen bekommen hat wie noch nie in seinem Leben! Wir werden unser Brasilien nicht aufgeben! Das ist ein Befehl Gottes!"
Jair Bolsonaros Sohn Flávio auf Twitter [1]


Wenngleich Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl um das Präsidentenamt den amtierenden Staatschef Jair Messias Bolsonaro mit hauchdünnem Vorsprung bezwungen hat, ist die Zeit der Autokraten auch in Brasilien keineswegs abgelaufen. Dem Kern der brasilianischen Gesellschaft entsprungen, ist der Bolsonarismus so tief in ihr verwurzelt, dass ihn auch der symbolträchtige und vermeintlich richtungsweisende Wechsel im Präsidentenpalast nicht mit Stumpf und Stil ausreißen wird. Bolsonaro hat den permanenten inneren Kriegszustand in der Klassengesellschaft mit seiner rechtsextremen Agenda derart befeuert, dass sein Nachfolger Lula vor der Herkulesaufgabe steht, das von staatlicher Gewalt und kapitalistischer Ausbeutung, extraktivistischer Ausplünderung und rassistischer Unterjochung, patriarchaler Brutalität und religiöser Knebelung geprägte soziale Grundverhältnis bestenfalls in ein sozialdemokratisch moderiertes Prozedere der Herrschaftsverhältnisse zurückzuschrauben.

So sehr das auf der Kippe stehende Straucheln des Autokraten, der per Taufe im Jordan strategisch vom Katholizismus zu den Evangelikalen konvertiert war und seither "Messias" im Namen trägt, auch zu begrüßen sein mag, droht die kaum minder messianisch überhöhte Hoffnung, die Wiederkehr des in der Rückschau verklärten Expräsidenten werde das Leiden allerorts lindern, in dieselbe Falle der Beteiligung an der Gesellschaftsordnung und Machthierarchie zu münden. Sich in diesem personifizierten Konflikt auf Seiten Lulas zu positionieren, kann allenfalls ein erster Schritt sein. Es dabei bewenden zu lassen und sich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Lulaismus zu enthalten, als müsste dies zwangsläufig bolsonaristisches Teufelswerk sein, hieße indessen, auf jede radikale, nämlich zu den Wurzeln vordringende Streitbarkeit zu verzichten.

Der seinerzeit weltweit gefeierte und zur womöglich bedeutendsten Persönlichkeit auf Erden hochstilisierte Lula da Silva fungierte nicht zuletzt als Gegenentwurf zu den westlicherseits als Bedrohung empfundenen gesellschaftlichen Entwürfen der sogenannten Bolivarischen Revolution des Hugo Chávez und seiner Verbündeten, welche die Hegemonie der Vereinigten Staaten und mittelbar auch die Einflussnahme der Europäischen Union zurückwiesen. Die boomende Verwertungsoffensive von Bodenschätzen und Agrarerzeugnissen erlaubte es Lula damals, wohl zum letzten Mal ein sozialdemokratisch-keynesianisches Gesellschaftsmodell zu etablieren, das auch die Lebensverhältnisse der ärmsten Bevölkerungsteile verbesserte und die Konflikte befriedete. Damit schien der Beweis erbracht zu sein, dass extraktivistischer Kapitalismus nicht nur funktioniert, sondern auch in Schwellenländern die bestmögliche Wirtschaftsweise und Entwicklungsgarantie für alle Menschen ist.

Längst haben die eskalierenden Krisenschübe des kapitalistischen Weltsystems und die hereinbrechende Klimakatastrophe die in Aussicht gestellten Rettungsmanöver per kontrollierter Kurskorrektur auf Grundlage unveränderter Gesellschaftsverhältnisse als Luftschlösser enttarnt. Da nun selbst in den westlichen Industriestaaten die Perspektive künftig wachsenden Wohlstands für die allermeisten Menschen weggebrochen und der Glaube an den Schutz im Schoße der bürgerlichen Mitte perforiert worden ist, sondern sich aus dieser mehr oder minder rechtsextreme Heilsversprechen ab. Vielerorts drängen solche Bewegungen und parteipolitischen Repräsentanzen an die Macht, um angesichts tiefgreifender Erschütterungen die Wiederherstellung angeblich guter alter Zeiten zu beschwören, in denen die Lebenswelt noch geordnet und sicher gewesen sei. Die Restauration reaktionärer Werte in modernisiertem Gewand geht mit der Produktion von Feindbildern einher, die der aus dem Kontrollverlust resultierenden Ohnmacht greifbare Ziele vor Augen führen, deren Unterwerfung oder Vernichtung das eigene Wohlergehen wieder in Kraft setzen soll.

Rechtsextremismus entspringt der bürgerlichen Mitte

Nicht die Staatsgewalt, die Ausbeutung unter den herrschenden Produktionsbedingungen oder die Eigentumsverhältnisse als solche greift die extreme Rechte an, sondern deren angebliche Bemächtigung durch abgehobene Eliten und Überantwortung an fremde oder untaugliche Kräfte unter Schädigung all jener, die ihrer Natur nach alleinigen Anspruch auf Wohlstand und Durchsetzung ihrer Lebensrechte haben sollten. So wird die radikale Frage nach der konkreten Unterdrückung und Verfügung in den alltäglichen Lebensverhältnissen wie auch deren letztendliche Aufhebung systematisch vermieden und zugunsten einer erhofften Okkupation der Kommandohöhen und Errichtung einer offen repressiven Autokratie nach eigenem Gusto entsorgt. Der Rechtsextremismus in seinen diversen Spielarten bleibt daher ein Instrument der Machteliten, um in Krisenzeiten gesellschaftlichen Widerstand als Blockade innovativer Verwertungs- und Verfügungsregime zu brechen.

Obgleich der landläufige Begriff des Rechtsextremismus lediglich den Rand des politischen Koordinatensystems bezeichnet, verortet er doch die extremistische Gefahr für die "Mitte" der Gesellschaft von einem imaginären Außen kommend, als wollten fremde Mächte die bewährte bürgerliche Demokratie überwältigen. Dieses Koordinatensystem ist jedoch einem Wandel unterworfen, der seit Jahren, in Wechselwirkung mit immer neuen Krisenschüben, zunehmend nach rechts driftet. Im Kampf um die Diskurshegemonie treibt die Rechte mittels gezielter Tabubrüche die als normal wahrgenommene Mitte vor sich her, die sich ihrerseits in diese Richtung öffnet. Man könnte also von einem Extremismus der Mitte sprechen, deren Ideologie in den zurückliegenden Jahrzehnten maßgeblich von der neoliberalen Hegemonie geprägt wurde.

Diese forciert ein Konkurrenzdenken, das nahezu alle Gesellschaftsbereiche erfasst hat. Rechtsextremismus greift das Konkurrenzprinzip begeistert auf und spitzt es auf vielfältige Art und Weise zu. Dem Grundprinzip der Marktkonkurrenz verleihen rechte Ideologien einen höheren, zeitlosen Sinn, indem die Konkurrenz als Kampf zu einem ewigen Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens imaginiert wird: Die ideologische Spannbreite reicht von sozialdarwinistischen Vorstellungen, über Kulturalismus, Rassismus, Wirtschaftschauvinismus bis hin zu dem manichäischen Wahnsystem des deutschen Nationalsozialismus, der einen ewigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwischen Ariern und Juden halluzinierte. [2]

Die Ära der neoliberalen Globalisierung brachte eine besondere Form des Nationalismus und eine Modifikation der nationalen Identität hervor, die sehr stark von ökonomischem Denken geprägt war. So schöpft der Standortnationalismus seinen Chauvinismus aus einer erfolgreichen Weltmarktkonkurrenz, Kulturalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wurden oftmals ökonomisch vermittelt. Die kulturelle oder rassische Hierarchisierung richtet sich nicht nur gegen andere Nationen, sondern auch gegen Minderheiten im eigenen Land. Wirtschaftlicher Erfolg wird mit überlegenen Genen oder einer höherwertigen Kultur assoziiert, so dass Verarmung und Marginalisierung im Umkehrschluss auf diesbezügliche Mängel zurückgeführt werden. Rechte Ideologie verkehrt die Krisenopfer zu Tätern, indem etwa verarmten Menschen die Schuld an ihrem Elend zugewiesen wird oder Flüchtlinge angeblich das Gastrecht missbrauchen. Der Rechtsextremismus kann rasant triumphieren, weil er so einfach nachzuvollziehen und kein gedanklicher Bruch mit den herrschenden Verhältnissen erforderlich ist.

Die Bibel des Bolsonarismus

Nach Ende der Militärdiktatur erschien der Report "Brasil: Nunca Mais" ("Brasilien - Nie wieder"), der die Greuel der Juntazeit schildert. Das Buch war im Untergrund entstanden und dokumentierte anhand von Unterlagen der Militärgerichte, wie Regimegegner gefoltert und ermordet wurden. Da sich die Militärs als Voraussetzung für die demokratische Öffnung eine Amnestie für alle während ihrer Herrschaft begangenen politischen Verbrechen ausbedungen hatten, konnten die Informationen jedoch nicht zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen herangezogen werden.

Dessen ungeachtet sahen sich führende Repräsentanten der Streitkräfte zu einem ideologischen Gegenschlag veranlasst und gaben den Report "Orvil" in Auftrag. Das Buch trägt den Untertitel "Versuch einer Machtergreifung" und schildert, wie Brasiliens Linke seit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 1922 angeblich dreimal vergeblich versucht hat, mithilfe des bewaffneten Kampfs an die Macht zu gelangen - die letzten beiden Versuche, so die These, vereitelten die Militärs, die sich 1964 an die Macht geputscht hatten. Nachdem der bewaffnete Kampf gescheitert war, änderten die Kommunisten laut "Orvil" ab 1974 ihre Strategie und versuchen seither, die Institutionen zu unterwandern, bis ihnen der Staat wie eine reife Frucht in die Hände fallen würde.

Der Titel des Machwerks stammt von "livro", dem portugiesischen Wort für "Buch", das jedoch rückwärts gelesen wird. Der fast tausend Seiten starke Wälzer zitiert von Marx über Marcuse bis zu Carlos Marighella, dem brasilianischen Erfinder des Konzepts der Stadtguerilla, zahlreiche Theoretiker der kommunistischen Revolution. Die Aktionen brasilianischer Linker, die unter der Militärdiktatur in den Untergrund gegangen waren, werden ausführlich dokumentiert und mit Fotos illustriert. Eine Gruppe von Offizieren, die Zugang zu den Archiven des militärischen Geheimdiensts hatte, verfasste das Werk zwischen 1986 und 1989. Präsident José Sarney, das erste zivile Staatsoberhaupt nach der Junta, verhinderte jedoch seine Veröffentlichung, da dies seines Erachtens die Aussöhnung im Land gefährdet hätte. Geheime Fotokopien zirkulierten jahrelang in Militärkreisen, erst 2013 veröffentlichte ein kleiner Verlag das Buch. Heute bieten rechtsextreme Websites den Report in einer Faksimile-Version zum Herunterladen an. Politische Bedeutung erlangte das Werk aber erst unter Jair Bolsonaro, gilt es doch unter Experten als die Bibel des Bolsonarismus. [3]

Bolsonaros ideologischer Vordenker

Die angebliche Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme dient als Triebfeder für den "Kulturkrieg", wie Bolsonaro und seine Anhänger ihren Kreuzzug gegen alle Menschen und Institutionen nennen, die sie als Maulwürfe des Kommunismus bezichtigen. Ihr oberster Prophet ist der selbsternannte "Philosoph" Olavo de Carvalho, der in den USA lebt und von Bolsonaro als ideologischer Vordenker verehrt wird. Carvalho ist ein ehemaliger Linker, der am bewaffneten Kampf gegen die Diktatur teilgenommen hat und in der Kommunistischen Partei organisiert war. Er wechselte die Seiten, arbeitete zunächst als Journalist in Rio und widmete sich später der Philosophie, Astrologie und Esoterik. Seine Rolle als Wortführer verdankt sich nicht so sehr einer inhaltlichen Qualität seiner Denkweise als vielmehr ihrer ausgesprochenen Passförmigkeit für den Kriegszug der extremen Rechten Brasiliens.

Carvalho hat das Erzählmuster von "Orvil" verfeinert und dem Bolsonarismus damit eine Vision und Sprache verliehen. Die zentrale These, die sich durch das Buch zieht und von ihm weiterentwickelt wird, entstammt den Zeiten des Kalten Krieges, als die berüchtigte "Doktrin der Nationalen Sicherheit" das Denken und Handeln der Militärdiktaturen in Lateinamerika bestimmte. Diese Doktrin ging davon aus, dass sich der äußere Feind der Nation in Gestalt kommunistischer Staaten wie Kuba, der Sowjetunion oder China interner Helfershelfer bedient, welche die Stabilität des Staates untergraben und deshalb ausgelöscht werden müssen. Mit dieser Doktrin versuchten die Streitkräfte, eine legale Basis für die Vernichtung der Linken zu konstruieren. In Anlehnung daran haben sich heute die "digitalen Milizen" der Anhänger Bolsonaros auf WhatsApp, Facebook und Twitter diese Doktrin zu eigen gemacht, um jeden "auszulöschen", der nicht auf ihrer Seite steht.

Olavo de Carvalho passte die Feindbilder an die Erfordernisse der sich verändernden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen an und schrieb modernisierend die Logik der Sündenböcke fort, indem er weitere angeblich subversive Gruppen identifizierte: Nicht nur linke Politiker, sondern auch Afro-Brasilianer und indigene Gemeinschaften, Feministinnen und LGBTQI+-Menschen, Studierende, Intellektuelle und Kulturschaffende, die Landlosenbewegung und Umweltschützerinnen, Corona-Mediziner und viele andere mehr trügen die Verantwortung für den Niedergang Brasiliens. Er verurteilte jegliche Versuche, genderspezifische und ethnische Ungleichheiten zu beheben und forderte die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung. [4]

Brasiliens Gesellschaft seit jeher tief gespalten

Dieser Prozess einer rechtsextremistischen "Verrohung" der gesellschaftlichen Mitte drängt auf eine immer mörderischere Krisenform der Herrschaft. Der Bolsonarismus ist aufgrund seines zugespitzten Freund-Feind-Denkens eine politische Bewegung, die von offen propagiertem Hass angetrieben wird und unablässig neue Gegner erfindet. Da deren physische Vernichtung in der Demokratie mit gewissen Risiken verbunden ist und daher nicht immer opportun erscheint oder gelingt, hat sich der Bolsonarismus die Okkupation der Institutionen bis hin zu deren Zerstörung zum Ziel gesetzt, um sie für Zwecke unbrauchbar zu machen, die nicht seine eigenen sind. So verortet er seine politischen Gegner insbesondere in der Regierungsbürokratie und der Justiz, weshalb Bolsonaro Schlüsselposten in diversen Ministerien mit Gefolgsleuten besetzt hat. Dies führte eine Situation herbei, in der ein regelrechter Militärputsch zwar nie ausgeschlossen, aber insofern aus Sicht der extremen Rechten nicht vordringlich war, als Angehörige der Streitkräfte ohnehin in hochrangigen politischen Ämtern und maßgeblichen Funktionen der Bürokratie zahlreich vertreten waren.

Als ehemaliger Hauptmann der Fallschirmjäger entstammt Jair Bolsonaro nicht den wirtschaftlichen Eliten des Landes, ja nicht einmal der höchsten militärischen Führungsriege. Er baute jedoch durch die Postenvergabe eine gewisse Hausmacht in Militärkreisen auf und sein Familienclan, der sich unter seiner Präsidentschaft massiv bereichert hat, ist offenbar auch mit dem organisierten Verbrechen gut vernetzt. Was ihn zwar nicht unantastbar, doch vorerst unersetzlich für die Eliten des Landes machte, war sein Talent, nach langen Jahren als Hinterbänkler im Parlament die Gunst der Stunde zu nutzen und verschiedene einflussreiche gesellschaftliche Gruppen zusammen massiv zu begünstigen, indem er zum Staatschef der "Bibel-, Blei- und Bullenfraktion" avancierte. Doch nicht minder wichtig war sein Geschick, Begeisterung für die von ihm geschaffene Bewegung zu entfachen, die zuletzt fast die Hälfte der brasilianischen Wählerschaft erfasst hatte.

Wenn ein ums andere Mal kolportiert wird, der Machtmensch Bolsonaro habe in seiner Präsidentschaft das Land in zwei tief miteinander verfeindete Lager vertikal gespalten, verschleiert diese Deutung geflissentlich den Tatbestand, dass die Gesellschaft seit jeher horizontal gespalten war. Brasilien, das als letzte westliche Nation die Sklaverei abschaffte, hat seine koloniale Vergangenheit, den strukturellen Rassismus, das System der Großgrundbesitzer, die alle Schichten durchziehende patriarchale Gewalt und einen ausgeprägten Hang zum Autoritarismus nie überwunden.

So enden die Militärdiktaturen immer nur für die Weißen, nie für die Schwarzen. Das brasilianische Bürgertum war stets sehr zufrieden mit der Verfolgung der Schwarzen und der Armen, der Rechtsstaat ist in den Favelas nie angekommen. Die Ungleichheit findet sich nicht nur in den Unterschieden im Einkommen und im Zugang zu Bildung und Gesundheit wieder, sondern auch in den Zahlen gewaltsamen Todes: 42.000 Menschen wurden 2019 in Brasilien ermordet, zwei Drittel von ihnen waren schwarze Männer, die meisten zwischen 15 und 29 Jahren. Die gewalttätigste Polizeitruppe der Welt tötete rund 6000 Menschen, mehr als 75 Prozent ihrer Opfer waren schwarz. Die Ausrottung junger Schwarzer und das Fehlen grundlegender Bürgerrechte für Bevölkerungsgruppen wie Indigene, Kleinbauern und Fischer wurden von keiner Regierung der Neuen Republik seit 1988 mit Dringlichkeit behandelt. [5]

Das mörderische Treiben wurde niemals beendet, es sorgte nur in den Jahren der Sozialdemokratie unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) sowie während des links-reformistischen Zyklus' der Arbeiterpartei unter Lula da Silva und Dilma Rousseff (2003-2016) für wenig Aufsehen. Der Staat kriminalisierte die Armen durch den mörderischen "Krieg gegen die Drogen" oder vertrieb sie durch Großprojekte wie das Wasserkraftwerk Belo Monte von ihrem Land. Der Unterschied ist nicht so groß zwischen Rechtsextremisten und den biederen Bürgern, die ihr Einkommen und ihren Komfort beschützen und deren einzige Antwort auf Ungerechtigkeit, Vertreibung und die unablässigen Morde an Schwarzen und Indigenen ein gleichgültiges Schulterzucken ist.

Autoritärer Leim des Ordnungsversprechens

Um den Bolsonarismus anhand der in ihm vertretenen Strömungen nach sozialwissenschaftlichen Kategorien zu charakterisieren, ließe er sich als eine Konvergenz ökonomischer, politischer und kultureller Strukturen ausweisen, die tief in der brasilianischen Gesellschaft verankert sind. Seine diskursiven und ideologischen Ursprünge liegen im Sozialkonservativismus, leistungsorientierten Unternehmertum, Neoliberalismus und in der Linkenfeindlichkeit, nicht zuletzt aber im Militarismus, Anti-Intellektualismus sowie dem evangelikalen Fundamentalismus begründet. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen und teils sogar widersprüchlichen Strömungen, die unter dem Banner des Bolsonarismus versammelt sind, das tiefsitzende Bedürfnis nach autoritärer Ordnung. 2018 konnte sich Bolsonaro deshalb als Vorkämpfer durchsetzen, weil er sich als einziger Kandidat präsentierte, der die wirtschaftliche und soziale Ordnung wiederherstellen würde.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts musste Brasilien mehrere wirtschaftliche, politische und soziale Krisen in Folge bewältigen. So hatte etwa die Wirtschaftskrise im Jahr 2014 einen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenquote zur Folge. Viele Menschen und insbesondere jene, deren Lebensstandard durch die Umverteilungspolitik der Arbeiterpartei in den 2000er Jahren gestiegen war, sahen sich nun mit einem dramatischen sozialen Abstieg konfrontiert. Parallel zur Wirtschaftskrise war das politische Establishment in einen großen Korruptionsskandal verstrickt, der als "Operation Car Wash" bekannt wurde. Angesichts der Dimensionen dieses Skandals stellte sich bei vielen Menschen das Gefühl ein, das gesamte politische System sei korrupt. Auch die zunehmende Gewalt in den Städten verstärkte die Wahrnehmung eines Landes, das im Chaos versinkt.

Würde Bolsonaro an seinen damaligen wirtschaftlichen und sozialen Versprechen gemessen, hätte er keine Chance auf eine zweite Amtszeit haben dürfen. Seine Bilanz liest sich verheerend: Brasilien gehört heute weltweit zu den zwölf Ländern mit der größten Ungleichheit. Die Erwerbslosenquote liegt bei zehn Prozent, fast 700.000 Menschen starben an Covid, die Abholzung im Amazonasgebiet erreichte katastrophale Rekordwerte, und mit 33 Millionen, die an Hunger leiden, wird der viertgrößte Agrarexporteur der Welt bei der UNO wieder als Land mit einem gravierenden Ernährungsproblem gelistet. Wenngleich also der Präsident, der die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse versprach, das Verhängnis an vielen Fronten erheblich verschlimmert hat, wäre er nun um ein Haar wiedergewählt worden.

Es handelt sich jedoch nicht so sehr um politische Amnesie in weiten Teilen der Bevölkerung, als vielmehr um eine Teilhaberschaft am ideologischen Entwurf, sich von der Drangsalierung und Vernichtung anderer Menschen den eigenen Vorteil zu erhoffen. Die ungebrochene Anziehungskraft des Bolsonarismus resultiert aus einem Ordnungsversprechen, das die Erklärung faktischer Entwicklungen der Lebensverhältnisse in eine triadische Struktur rechtsextremer Ideologie zwängt: Diese stellt "dem Volk" eine Reihe von "Eliten" gegenüber, die diverse "Andere" in unangemessener Weise bevorzugen. Dabei setzt der Bolsonarismus dem Bild des "aufrechten Bürgers" das Stereotyp des "Vagabunden" entgegen. Während ersterer die herrschende Ordnung respektiert, selbst wenn dies mit Beschwernissen verbunden ist, lässt der "Vagabund" Minderheiten eine unverdiente Sonderbehandlung zukommen oder profitiert selbst davon. In dieser Logik muss der "Vagabund" dafür bestraft werden, die traditionelle Ordnung der brasilianischen Gesellschaft angetastet zu haben.

So hat Bolsonaros Regierung das Bildungsbudget zusammengestrichen, den Kahlschlag und illegalen Bergbau auf geschütztem indigenen Land vorangetrieben, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Regierung die Finanzierung entzogen und mit der Kriminalisierung sozialer Bewegungen gedroht. Umweltschutz- und Sozialhilfemaßnahmen wie auch die bürgerlichen Freiheiten wurden eingeschränkt, im Schulterschluss mit den einflussreichen Pfingstkirchen wurde die Mission zum Schutz der traditionellen Familie vor der Bedrohung durch die "Genderideologie" vorangetrieben. Das Ordnungsversprechen des Bolsonarismus läuft also darauf hinaus, bestehende Hierarchien zu reproduzieren und repressiv zu verschärfen. [6]

Dabei stützt er sich auf eine dicht gestaffelte Infrastruktur aus Organisationen, Institutionen und Plattformen, die von großen politischen Koalitionen bis hin zu kleinen WhatsApp-Gruppen reichen. Während der Einfluss traditioneller Medien weiter abnimmt, wenden sich viele Menschen unter ausschließlicher Verwendung sozialer Medien zu Informationszwecken einer "Gegenöffentlichkeit" der extremen Rechten zu. In WhatsApp-Gruppen, Youtube- und Telegram-Kanälen oder Twitter-Accounts wird die "Wahrheit" verkündet, welche die "linke Kulturhegemonie" zu unterdrücken versuche. Beispielsweise produziert der Youtube-Kanal "Brasil Paralelo" revisionistische Dokumentationen, denen zufolge die Militärdiktatur vorteilhaft für das Land gewesen sei. Andere Kanäle feiern Bolsonaro als Retter der brasilianischen Kultur und stimmen in die allgegenwärtige Hetze gegen die Linke oder nicht-weiße Menschen, aufbegehrende Frauen und jegliche marginalisierten Gruppen ein. In einer eklektizistischen Mixtur unverhohlener Aggression ist jedes Mittel recht, wenn es nur die eigene ideologische Ausrichtung befeuert und deren Feinde niedermacht.

Bewegung reicht weit über ihre Führungsfigur hinaus

Wie jedes Unterdrückungsregime speist sich der Bolsonarismus aus der Entmenschlichung des Anderen. Im Kampf um die Deutungsmacht hat er sich der sozialen Medien bemächtigt und bezichtigt die Arbeiterpartei, deren Regierungen hätten ein Chaos hervorgebracht, weil jetzt Schwule, Feministinnen oder Schwarze über Rechte, Jobs und Privilegien verfügten, während anständige Bürger leer ausgingen. Er inszeniert sich als Vorkämpfer der armen Leute und Fürsprecher jener, die sonst keine Stimme haben, als Vertreter des echten Brasiliens. In emotional aufgeladener Sprache erklärt er die Klassenschranken für nicht existent und beschwört eine Nation der Weißen, Heterosexuellen, Evangelikalen und Menschen aus dem wohlhabenden Süden.

Dies fällt in weiten Teilen der Mittelschicht, doch leider auch einem beträchtlichen Teil jener Bevölkerungskreise, die faktisch am meisten unter dem Bolsonarismus leiden, auf fruchtbaren Boden. Sie sind dieser von der extremen Rechten systematisch geschürten Nostalgie verfallen, die ein Brasilien zurückhaben will, das so nie existiert hat. Was für sein erklärtes Vorbild Donald Trump gilt, trifft wohl auch für Jair Bolsonaro zu: Wenngleich die Person bislang unersetzlich ist, muss sie nicht zwangsläufig durchgängig das höchste Staatsamt bekleiden, reicht doch das Phänomen der von ihr beflügelten Bewegung weit über sie hinaus.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/brasilien-wahl-reaktionen-101.html

[2] www.konicz.info/2022/10/27/radikalitaet-vs-extremismus/

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/brasilien-jair-bolsonaro-und-das-buch-orvil-bolsonaros-bibel-a-e9d814bb-8bb5-4958-bdcf-d4c8adc17669

[4] www.deutschlandfunk.de/regierung-bolsonaros-brasiliens-kehrtwende-in-der-kultur.1184.de.html

[5] www.tagesspiegel.de/kultur/rassismus-faschismus-militarismus-ein-blick-in-die-finstere-seele-brasiliens/25888192.html

[6] www.heise.de/tp/features/Vor-der-Wahl-in-Brasilien-Was-ist-das-Erfolgsrezept-des-Bolsonarismo-7244970.html

11. November 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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