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PROPAGANDA/1377: Im Namen des Herren? Selbstgerechte Diffamierung Sevim Dagdelens (SB)



Vor der deutschen Staatsräson, nicht nur Israels von der Partei Die Linke niemals in Frage gestelltes Existenzrecht zu verteidigen, sondern diesen Staat auch dann zu unterstützen, wenn er das Existenzrecht anderer mißachtet, scheint die Freiheit der eigenen Meinung kein großes Gewicht mehr zu besitzen. Die Reaktionen darauf, daß sich drei Parlamentarierinnen der Linken am 27. Januar nach der Rede des israelischen Präsidenten Shimon Peres nicht erhoben, um ihm nach dem gemeinsamen Gedenken an die Opfer des Holocaust zusätzlich Reverenz zu erweisen, lassen erkennen, daß man sich von dem im SED-Staat verorteten Einheitsdenken nicht wirklich entfernt hat. Wenn die Grenzen des demokratischen Pluralismus nur eng genug gezogen werden, dann verwischen sich die Unterschiede zwischen angeblich totalitären und demokratischen Gesellschaftssystemen bis zur Unkenntlichkeit. Der Staatschef eines Landes, demgegenüber Deutschland in besonderer Weise verpflichtet ist, muß keinesfalls dafür bejubelt werden, wenn er aus strategischen Erwägungen einen anderen Staat zu einer Bedrohung erklärt, die bei unvoreingenommener Betrachtung mindestens auf zwei Schultern lastet respektive auf gegenteilige Weise wirksam wird. Wenn die Nachfahren der Massenmörder ihre Lektion gelernt haben, dann entziehen sie ihm in diesem Fall ihre Unterstützung so konsequent, wie sie sie ihm gewähren, wenn er in einer Position der Schwäche von Vernichtung bedroht wird.

Unter dem Titel "Eiskalte Sitzenbleiber" dokumentiert Welt Online (08.02.2010) den Brief dreier evangelischer Geistlicher an die Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Sevim Dagdelen. Darin wird ihre Nichtbeteiligung an den stehenden Ovationen gegenüber Peres mit einer Unversöhnlichkeit quittiert, die bezeichnend für den doktrinären Charakter der verlangten Willfährigkeit ist. Pfarrerin Barbara von Bremen von der St.-Petri-Kirche in Dortmund, Pfarrer Thomas Schöps von der Bleckkirche in Gelsenkirchen und Pfarrer Thomas Wessel von der Christuskirche in Bochum fragen die Abgeordnete:

"Zu wem sprechen Sie, wenn Sie sitzen bleiben? Sind auch die Anhänger der Hisbollah darunter, mit denen Sie auf Demos gehen und den "Tod! Tod Israel!" verlangen?"

Mit Hilfe des klassischen Bezichtigungskonstrukts bloßer Assoziation wird Dagdelen in Gesinnungshaft mit Feinden Israels genommen, obwohl sie mit diesen schlimmstenfalls verbindet, an einer Demonstration teilgenommen zu haben, die sich womöglich gegen den Überfall auf Gaza oder die Bombardierung des Libanon richtete. Wollte man vermeiden, daß die eigene politische Position durch Kräfte instrumentalisiert wird, mit denen man ansonsten nichts zu tun hat, dann kann es keinen demokratischen Diskurs geben. Wenn die NPD sich positiv zu der Aussage eines x-beliebigen Politikers äußert, dann kann ihm daraus eine Schlinge gedreht werden, auch wenn er sie aus ganz anderen Gründen und zu ganz anderen Zwecken als diese Trittbrettfahrer getroffen hat. So wird antidemokratischen Kräften eine Macht verliehen, über die sie von sich aus nicht verfügen, was den Schluß nahelegt, daß sie ihnen von interessierter Seite her übertragen wird. Was immer die Hisbollah mit Israel an beiderseitiger Feindseligkeit verbindet, soll, wenn es nach den Kritikern Dagdelens geht, hierzulande verhindern, daß berechtigte Kritik an Israel artikuliert wird. Im Ergebnis läuft die Unterstellung, die Abgeordnete der Linken habe mit ihrem Verhalten notorischen Judenhassern zugearbeitet, darauf hinaus, daß ihre Gegner gemeinsame Sache mit Gruppen machen, denen die offene demokratische Aussprache ein Greuel ist, weil sie sich in Anbetracht der Schwäche ihrer Argumente im Umgang mit dem politischen Gegner des Mittels der ideologischen Diffamierung bedienen müssen.

Da die drei Geistlichen Dagdelen, die für ihr Eintreten gegen Rassismus und Faschismus bekannt ist, nicht glaubhaft mit dem Makel einer totalitären Gesinnung behaften können, lasten sie ihr das Kalkül des Berufspolitikers an:

"Antisemitismus ist die Leidenschaft, die den Tod der Juden wünscht. Nur dass Sitzenbleiben nicht sehr leidenschaftlich wirkt, eher kalkuliert. Als rechnete es sich für Sie. Blieben Sie sitzen im Bundestag, weil Sie den Sitz im Bundestag behalten wollen? Könnte sein, dass Sie gar keine Antisemitin sind, sondern eine Politikerin, ganz leidenschaftslos."

Hier werden alle Register einer Diffamierung gezogen, deren Mutmaßungen nur deshalb im gleichen Atemzug wieder dementiert werden, um den damit gesäten Verdacht in der nächsthöheren Ordnung der Verwerflichkeit noch wirkungsvoller verankern zu können. Allein die Frage, ob es sein könnte, "dass Sie gar keine Antisemitin sind", ist an Impertinenz kaum zu überbieten. Damit nicht genug, wird Dagdelen als angeblich kalt berechnende Politikerin unterstellt, ihre Meinung allein aus populistischen Gründen kundgetan zu haben. Tatsächlich haben sich Sahra Wagenknecht, Christine Buchholz und Sevim Dagdelen mit einem Akt, für den es in Anbetracht der im deutschen Obrigkeitsdenken stets zur Tugend erhobenen Bequemlichkeit des Mitmachens vor allem Mut bedarf, nur Schwierigkeiten eingehandelt. Der hegemonialen Kraft der von der Bundesregierung, den vier anderen Bundestagsfraktionen und Kreisen der eigenen Partei vertretenen Unterstützung Israels auch in Angelegenheiten, die Menschen- wie Völkerrecht zutiefst widersprechen, stellt man sich nicht aus dem Kalkül entgegen, damit mehrheitlichen Zuspruch zu erhalten. Dies erfolgt im besten Sinne einer Prinzipientreue, die opportunistischen Erwägungen widersteht, weil es um nämliche Rechte und nicht um partei- und machtpolitische Winkelzüge geht.

Dagdelens angebliche Leidenschaftslosigkeit, von Welt online mit professioneller Demagogie eiskalt serviert, wird von den evangelischen Geistlichen zielsicher in die Nähe einer totalitären Gesinnung gerückt:

"Seit Hannah Arendt dämmert uns, wie banal das Böse sein kann, sie hat die Banalität des Bösen als "Unwillen" beschrieben: "Da ist keine Tiefe, es ist nicht dämonisch. Es ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist." Einfach der Unwille, "an der Stelle jedes andern zu denken"."

Zweifellos ist der Mangel an Empathie ein großes Problem hochgradig individualisierter postmoderner Gesellschaften. Über die sozialdarwinistische Verrohung, mit der Menschen in offensichtlicher Not alleingelassen werden, muß eine antikapitalistische Linke, die auch in der Partei Die Linke vertreten ist, nicht aufgeklärt werden. Den Kritikern Dagdelens wäre, wenn sie schon Unterstützung bei einer Autorität wie dieser weltberühmten jüdischen Philosophin suchen, allerdings zu empfehlen, deren Erkenntnisse nicht auf ihre zweifellos berühmteste Aussage zu reduzieren. So hat Hannah Arendt das Problem des Antisemitismus in ihrem Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" in den Kontext der imperialistischen Entuferung nationalstaatlicher Entwicklung und der Zerstörung des Politischen durch die grenzenlose Expansion kapitalistischen Verwertungszwangs gestellt. In ihrer Lesart des marxistischen Imperialismusbegriffs ist die rassistische Einteilung der Welt in Herren- und Sklavenrassen von besonderer, die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden überhaupt erst ermöglichender Bedeutung. Die von ihr geübte Kritik an der Praxis imperialistischer Staaten, Menschen durch Aberkennung ihres staatsbürgerlichen Status grundlegende Rechte zu entziehen und sie damit zum Objekt staatlicher Willkür zu machen, ist keineswegs eine Sache der Vergangenheit, wie heutige Formen administrativer Flüchtlingsabwehr in der EU belegen:

"Denaturalisierung und Entzug der Staatsbürgerschaft gehörten zu den wirksamsten Waffen in der internationalen Politik totalitärer Regierungen, weil sie hierdurch dem Ausland, das innerhalb seiner eigenen Verfassungen unfähig war, den Verfolgten die elementarsten Menschenrechte zu sichern, ihre eigenen Maßstäbe aufzwingen konnten. Wen immer die Verfolger als Auswurf der Menschheit aus dem Lande jagten - Juden, Trotzkisten und so weiter -, wurde überall auch als Auswurf der Menschheit empfangen, und wen sie für unerwünscht und lästig erklärt hatten, wurde zum lästigen Ausländer, wo immer er hinkam."
(Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1986)

Der türkischstämmigen Mitbegründerin des Bundesverbandes der Migrantinnen in Deutschland vorzuwerfen, kein Mitgefühl mit dem Schicksal vom NS-Regime verfolgter Juden zu haben, bedarf besonders rigoroser Borniertheit. Man fragt sich ob der Feindseligkeit, mit der die drei Geistlichen Dagdelen zu einer in ihren Kirchen unerwünschten Person erklären und ihr ins Gesicht sagen, wie angewidert sie von ihrem Verhalten sind, wie es um ihr Mitgefühl mit den Palästinensern bestellt ist, die in einem kleinen, vom israelischen Besatzungsregime umschlossenen Gebiet gnadenlos niedergebombt wurden und seitdem weiter ausgehungert werden. Es bedarf keiner ausführlicheren Schilderung dieses Massakers, um zu wissen, daß das Bejubeln eines Politikers, der diesen Überfall gutheißt, einer dementsprechend aggressiven Apologetik bedarf. Wer an diesem Stachel im Fleisch selbstgerechter Aggressoren rührt, muß schon aus Gründen moralischer Selbstachtung reprojektiv zum Adressaten dieser Schuld erklärt werden.

Hannah Arendt hat sich am 4. Dezember 1948 zusammen mit anderen US-amerikanischen Juden, darunter Albert Einstein, in einem offenen Brief an die New York Times entsetzt über das Aufkommen der Freiheitspartei des späteren israelischen Premierministers Menachem Begin gezeigt. In dem Brief wurde die Herut-Partei in "ihrer Organisation, ihren Methoden, ihrer politischen Philosophie und ihrer sozialen Anziehungskraft als eng verwandt mit den Parteien der Nazis und Faschisten" und der von Begin geführte Kampfbund Irgun Zvai Leumi als eine "terroristische, rechtsextreme, chauvinistische Organisation" charakterisiert. Die Unterzeichner des Briefs wollten angesichts eines Besuchs Begins in den USA darüber aufklären, daß die Unterstützung eines israelischen Politikers, der unter anderem für das Attentat auf das King David Hotel in Jerusalem, das vor allem Offiziere der britischen Mandatsmacht und ihre Angehörigen traf, und für das Massaker von Deir Yasin, bei dem über hundert Palästinenser systematisch ermordet wurden, nicht mit dem Kampf gegen den Faschismus in Übereinstimmung zu bringen sei.

Die 1975 verstorbene Philosophin hat die unheilige Allianz von Rassismus und Kapitalismus am Beispiel des völkischen Nationalismus des NS-Staates und der Apartheid in Südafrika untersucht und zu einem Ausdruck imperialistischer Politik erklärt. Wie sie über die heutige Entwicklung in Israel und Palästina geurteilt hätte, muß spekulativ bleiben. Als Kronzeugin für einen israelischen Präsidenten, der die Landnahme an den Palästinensern durch den israelischen Siedlerkolonialismus ebenso mitträgt, wie er die Besetzung eines Teils des Libanons gutgeheißen hat, um nur zwei mögliche Kritikpunkte zu nennen, ist sie dennoch ungeeignet. Ihre Ausführungen zum "jüdischen Chauvinismus", den sie in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" als Ergebnis der Transformation des traditionellen Judaismus zu einer modernen Staatsdoktrin und der säkularen Mutation des religiösen Konzepts des von Gott auserwählten Volkes zu einem Wesenszug dieser Ideologie erklärte, belegen, daß ihrem Eintreten gegen Rassismus und Antisemitismus ein unvoreingenommener Blick auf die Dynamik kapitalistischer Vergesellschaftung und nicht eine geschichtspolitisch um die Kritik ihrer Postulate verkürzte Täter-Opfer-Dichotomie zugrundelag.

Die mit der "Banalität des Bösen" gemeinte Logik des "Verwaltungsmassenmords", den Arendt am Beispiel des maßgeblich für die Judenvernichtung verantwortlichen SS-Offiziers Adolf Eichmann aufzeigt, wird von ihr im bürokratischen Getriebe totaler Herrschaftsapparate verortet, die darauf zugerichtet sind, "aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie damit zu entmenschlichen" (Eichmann in Jerusalem, 1986). Um die Lektion des Holocaust im Sinne Hannah Arendts für heutige Entwicklungen fruchtbar zu machen, wären Überlegungen zur Genese moderner staatlicher Gewaltakte, die von Politikern und Militärs aus der sicheren Entfernung ihrer Kommandohöhen mittels kaum abzuwehrender Distanzwaffen an Menschen verübt werden, die wenig mehr als ihre nackte Existenz zu verlieren haben, vonnöten. Sie mit ideologischen Argumenten zu unterbinden und ihre Initiatoren unlauterer Motive zu bezichtigen zeugt von dem Anspruch auf eine Exklusivität der Betroffenheit, die das Problem des Rassismus fortschreibt, anstatt seine Bewältigung ohne Ansehen nationaler, ethnischer, religiöser und geschlechtlicher Herkunft ernsthaft in Angriff zu nehmen.

In einer Stellungnahme zu dem offenen Brief hat Sevim Dagdelen am 5. Februar erklärt, welchen Aussagen des israelischen Präsidenten sie nicht durch Applaus oder andere Zeichen der Gutheißung zustimmen wollte. Seinen Verfassern hat sie auf der Ebene geantwortet, die diese gewählt haben. Dem ist nichts hinzuzufügen:

"Sie sagen, es widert Sie an, dass ich sitzengeblieben bin. Was mich anwidert, sind hasserfüllte Stellungnahmen der Selbstgerechtigkeit, die nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun haben, was ich mir von der Kirche erhoffe und von ihr erwarte. Ich bin sicher, damit stehe ich nicht allein."

9. Februar 2010