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PROPAGANDA/1378: Selbstmordattentäter Joe Stack ... kein Terrorist, sondern nur "irre"? (SB)



Die US-Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) enthält sich jeder Stellungnahme zu dem Streit, der zwischen dem mutmaßlichen Selbstmordattentäter Joseph Andrew Stack und ihr geführt wurde. Der 53jährige Softwareingenieur raste am Donnerstagvormittag in der texanischen Hauptstadt Austin mit einem Kleinflugzeug in ein siebenstöckiges Bürogebäude, in dem diese Behörde ihren Sitz hat. Außer dem Piloten starb ein Büroangestellter, mindestens 13 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Wenn sich, wie alle bisherigen Zeugenaussagen nahelegen, bestätigen sollte, daß Stack gezielt mit Vollgas das Verwaltungszentrum ansteuerte, in dem 200 Menschen arbeiteten, und wenn der von Stack angeblich verfaßte Abschiedsbrief authentisch ist, woran bislang keine Zweifel geäußert wurden, dann handelt es sich nach gängiger Definition um einen terroristischen Anschlag. Da bis auf das Massaker von Fort Hood seit dem 11. September 2001 keine Anschläge mit eindeutig politischem oder ideologischen Hintergrund ausgeführt wurden, gehört er zu den schwerwiegendsten terroristische Vorfällen, seit die US-Regierung vor acht Jahren den Globalen Krieg gegen den Terrorismus begonnen hat.

Dies wird in den meisten Pressepublikationen anders gesehen: "Pilot raste aus Wut über Steuerbehörde in Bürohaus" (Spiegel Online), "Texas: Pilot fliegt Kleinflugzeug in Bürogebäude" (FAZ), "Luftangriff auf die Steuerbehörde" (SZ), "Austin/Texas: Selbstmörder rast mit Kleinflugzeug in Bürohochhaus" (STERN.DE), "USA: Selbstmörder fliegt mit Flugzeug in Steuerbehörde" (FOCUS Online) - die großen deutschen Zeitungen entsprechen in ihren Schlagzeilen ohne Ausnahme der Sprachregelung der US-Regierung wie der des US-Heimatschutzministeriums, die bei dem Vorfall von keinem Terrorakt ausgehen. "Selbstmordanschlag gegen US-Steuerbehörde" (NZZ Online) ist noch das weitestgehehende Zugeständnis, das eine große deutschsprachige Zeitung an die naheliegende Annahme macht, daß ein Mann, der in seiner Auseinandersetzung mit einer staatlichen Behörde erklärt, daß nur noch Gewalt helfe, einen Akt des Terrorismus vollzieht.

Den Vogel des Widersinns schießt die BZ ab, indem sie ihrer Überschrift vom 19. Februar "Flugzeug stürzt in US-Behörde" eine in rote Lettern gesetzte Kurzzusammenfassung vorschaltet: "Weißes Haus: Es war kein Terrorakt! Pilot in Texas wollte sich an Finanzamt rächen." Im Text der Meldung heißt es dann: "Der Mann hinterließ im Internet einen Abschiedsbrief. Darin drückte er seinen Unmut über die US-Regierung aus: Gewalt sei im Umgang mit der Steuerbehörde 'die einzige Antwort', so der Attentäter, dessen Wut sich in dem Schreiben auch gegen seine Frau und die Kirche richtete."

Die Seite embeddedart.com, auf der Joe Stack sein über einen längeren Zeitraum vor seinem Tod verfaßtes Bekennerschreiben veröffentlichte, wurde von dem Netzprovider T35 Hosting nur wenige Stunden nach dem Anschlag abgeschaltet. Die Angabe der Firma, daß dies auf Ersuchen des FBI erfolgte, wird von der US-Bundespolizei dementiert. Gleichzeitig gibt der Netprovider an, daß der sechsseitige Text Stacks in den letzten zwei Stunden vor der Abschaltung der Seite über 10 Millionen mal angeklickt worden wäre. Offensichtlich gibt es erhebliches Interesse an der Begründung, mit der Stack seine blutige Tat rechtfertigte.

Wie diesem Text als auch seiner Analyse durch die CBS-Wirtschaftsjournalistin Kathy Kristof (moneywatch.com) zu entnehmen ist, führte Stack seit langem einen politisch motivierten, mit ausführlichem Studium des Steuerrechts einhergehenden Kampf gegen die US-Steuerbehörde. Dieser soll ihn 40.000 Dollar, zehn Jahre seines Lebens und seine komplette Alterssicherung gekostet haben. Stack beklagt sich in seinem Bekennerschreiben über den ungerechten Umgang, den der IRS mit steuerlich bevorteilten Institutionen wie Kirchen und steuerlich benachteiligten Kleinunternehmern wie ihm betreibt. Er stellt seinen Kampf als Erkenntnisprozeß dar, der ihm Einsicht in den versklavenden Charakter des Regierungssystems seines Landes gewährt habe. Dabei habe das Schicksal einer greisen, verarmten Witwe, deren Mann 30 Jahre in einem Stahlwerk gearbeitet habe, nur um am Ende aufgrund des Mißmanagements der Unternehmensleitung und der korrupten Gewerkschaft all seiner Rentenansprüche beraubt zu werden, eine wichtige Rolle gespielt.

Nachdem die vielen Versuche, sich mit seiner Klage über das ungerechte Steuersystem an Politiker auf Staats- wie Bundesebene zu wenden, ignoriert wurden und ohne jedes Ergebnis blieben, sei er in den frühen neunziger Jahren trotz eines fast die ganze Zeit in Anspruch nehmenden Berufslebens in Südkalifornien bankrott gegangen. Schuld daran wären die Schließungen von US-Militärbasen gewesen, die eine umfassende regionale Wirtschaftskrise ausgelöst hätten. Eine weitere Pleite habe er nach dem 11. September 2001 erlitten, als der Flugverkehr monatelang eingeschränkt wurde, wodurch der Kontakt mit seinen Kunden sehr teuer geworden wäre. Während die Fluggesellschaften mit Milliarden Dollar vom Staat unterstützt worden wären, hätte ihm niemand zur Seite gestanden. Nach seinem Umzug nach Texas hätten die Lohndrückerpraktiken in seiner Branche dazu geführt, daß er nur noch ein Drittel seines Einkommens erhielt und all seine Ersparnisse aufbrauchen mußte. Schließlich sei er von einem Steuerberater, den er in dem falschen Glauben, er werde seine Interessen gegenüber dem IRS vertreten, beauftragt hatte, hinters Licht geführt worden. Tatsächlich habe dieser nur seine eigenen Interessen verfolgt und ihn auflaufen lassen.

Wie immer die Details der beruflichen Karriere des Attentäters und die von ihm ausgesprochenen Schuldzuweisungen zu beurteilen sind, im Ergebnis scheinen sie zu einer erheblichen Wut darüber geführt zu haben, daß die Armen für die Fehler der Reichen zur Kasse gebeten werden, wie Stack schreibt. In der US-amerikanischen Blogosphäre wird nun anhand von Aussagen wie den folgenden, die dem Bekennerschreiben Stacks entnommen und in eigener Übersetzung ins Deutsche übertragen wurden, ein Streit darüber geführt, aus welchem politischen Lager der Attentäter stammt und wer unter seiner Tat zu leiden habe:

"Es ist immer ein Mythos gewesen, daß es keine Leute mehr gibt, die für ihre Freiheit in diesem Land sterben, und das ist nicht auf Schwarze und arme Einwanderer beschränkt. Ich weiß, daß es zahllose vor mir gab und es ebenso viele nach mir geben wird. Aber ich weiß auch, daß ich, wenn ich meinen Körper nicht opfere, dafür sorge, daß sich nichts ändert. (...) Ich kann nur hoffen, daß die Zahl schnell zu groß wird, als daß man weißwaschen und ignorieren könnte, daß die amerikanischen Zombies aufwachen und revoltieren; nichts geringeres ist dazu erforderlich. (...) Obwohl ich mein ganzes Leben auf den Versuch verwendet habe [etwas anderes] zu glauben, ist Gewalt traurigerweise nicht nur eine Antwort, es ist die einzige Antwort. (...) Ich habe einmal gelesen, daß die Definition von Geisteskrankheit darin besteht, den gleichen Prozeß fortwährend zu wiederholen und zu erwarten, daß das Ergebnis plötzlich ein anderes ist. Ich bin jetzt bereit, diese Geisteskrankheit zu beenden. Nun, Mr. Big Brother IRS-Mann, laß uns etwas anderes versuchen; nimm mein Pfund Fleisch und schlaf gut.

Das kommunistische Glaubensbekenntnis: Von jedem gemäß seiner Fähigkeit, für jeden gemäß seines Bedürfnisses.

Das kapitalistische Glaubensbekenntnis: Von jedem gemäß seiner Leichtgläubigkeit, für jeden gemäß seiner Gier."

Wie auch immer der Streit zwischen den Bloggern, die im paläokonservativen bis rechtslibertären Spektrum angesiedelt sind und häufig als Steuerrebellen von sich reden machen, und linksliberalen Bloggern, die schon bei vorsichtigem Eintreten für eine Umverteilung von oben nach unten klassenkämpferischer Ambitionen bezichtigt werden, um den ideologischen Standort Joe Stacks angesichts der Stellungnahme, mit der das Bekennerschreiben endet, ausgeht, am politischen Charakter seiner Gewalttat kann kein Zweifel bestehen. Daß dieser Attentäter in einem Land, das seit Jahren unter hochgradigen Sicherheitsauflagen Krieg gegen den Terrorismus führt und das exekutive wie strafrechtliche Vorkehrungen zur Verfolgung des sogenannten domestic terrorism getroffen hat, dennoch nicht des Terrorismus verdächtigt wird, verweist auf den seinerseits hochgradig ideologischen Charakter dieses Feindbilds. Wäre die gleiche Tat von einem Muslim begangen worden, der seiner Wut über erlittene rassistische Diskriminierung freien Lauf gelassen hätte, sähe die Sache vermutlich anders aus.

Offensichtlich hat man in den USA wie in der EU kein Interesse daran, wie auch immer gelagerte soziale Widersprüche in den Kontext des Terrorkriegs zu stellen. Beträfen die Motive der Terroristen mehr als eine kleine, generell unter Terrorverdacht gestellte Minderheit der Bevölkerung, dann könnten die dagegen gerichteten Maßnahmen in den Verdacht geraten, nicht allein sicherheitstechnisch begründet zu sein, sondern spezifischen politischen Interessen zu folgen. Es bietet sich daher an, ein Verbrechen wie dieses als Folge der geistigen Verwirrung eines Einzeltäters zu behandeln. "Der irre Abschiedsbrief des Todespiloten" (bild.de, 19.02.2010) titelt Deutschlands führendes Boulevardblatt, um unter anderem über das "irre Manifest" Joe Stacks mitzuteilen:

"Total irre: Er schreibt über Gehirnwäsche im Land und dem daraus resultierenden Irrglauben der Menschen, die Behörden würden für Gerechtigkeit stehen."

Stellt man diese verkürzte Wiedergabe des Textes dem Absatz aus dem Bekennerschreiben gegenüber, dem er entlehnt zu sein scheint, dann zeigt sich, daß es nicht ausreicht, Taten wie diese durch ihre Pathologisierung zu verhindern:

"Uns wird als Kind beigebracht, daß es ohne Gesetze keine Gesellschaft gäbe, sondern nur Anarchie. Leider wurden wir in diesem Land von früher Kindheit an gehirngewaschen um zu glauben, daß unsere Regierung im Gegenzug für unseren Einsatz und unsere Dienste für Gerechtigkeit für alle eintritt. Wir werden des weiteren gehirngewaschen um zu glauben, daß an diesem Ort Freiheit herrscht und daß wir bereit sein sollen, unser Leben für die ehrenvollen Prinzipien einzusetzen, die durch unsere Gründerväter repräsentiert werden. Erinnert ihr euch? Eines dieser Prinzipien war 'keine Besteuerung ohne Vertretung'. Ich habe alle Jahre meines Erwachsenenlebens darauf verwendet, diesen in nur einigen Jahren meiner Kindheit erlernten Mist zu verlernen. Wer heute tatsächlich für dieses Prinzip aufsteht, wird sofort als 'Irrer', Verräter und schlimmeres gebrandmarkt."

Dieses republikanische Ideal ist in der Geschichte der USA tief verankert, bezieht es sich doch auf den Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Krone, die den nordamerikanischen Kolonien zwar Steuern abverlangte, ihnen aber keine Sitze im Parlament gewährte. Ob fiskalische Pflichten in kapitalistischen Gesellschaften gerecht verteilt sind, wird nicht zuletzt von konservativen Kräften in Frage gestellt. Sollte die Höhe ihres Beitrags zum staatlichen Gemeinweisen in entsprechend großer politischer Einflußnahme resultieren, dann entscheidet wiederum der Reiche über das Geschick der Armen.

Dementsprechend inkonsistent erscheint die politische Logik des mutmaßlichen Selbstmordattentäters Joe Stack. Ihn schlichtweg als irre abzuschreiben wird den brisanten sozialen Widerspruchslagen der US-Gesellschaft, die zur Ausführung seiner Tat maßgeblich beigetragen haben, dennoch nicht gerecht. Die sozialen Folgen dieses besonders rücksichtslosen Akkumulationsregimes entscheiden über Leben oder Tod, wie die Massenphänomene Armut, Hunger, Obdachlosigkeit und medizinische Unterversorgung belegen. Es gibt im rechten wie im linken Lager nicht wenige US-Bürger, denen die Ansichten Stacks keineswegs irre erscheinen. Sie vom Gegenteil zu überzeugen erfordert daher eine andere gesellschaftliche Praxis und nicht die bloße Behauptung, daß es anders wäre.

19. Februar 2010