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PROPAGANDA/1397: Durchsichtige Bezichtigung der humanitären Organisation IHH (SB)



Die türkische Wohltätigkeitsorganisation IHH (Insani Yardim Vakfi) als radikalislamistische Handlangerin der Hamas und Al Qaidas anzuprangern ist ein probates Mittel, um die internationale Kritik am Überfall der israelischen Streitkräfte auf die Gaza Freedom-Flottille auf ein anderes Feld der Debatte zu lenken. Dazu bedarf es kaum konkreter Belege, reicht doch die Verwendung negativ besetzter Begriffe und Symbole im Kontext des antiislamisch ausgerichteten Terrorkriegs und der am Feindbild muslimischer Mitbürger entzündeten Diffamierung erwerbsloser Menschen aus, um Zustimmung zu diesem Narrativ zu erhalten. Fragt man konkret nach, dann erweist sich der Vorwurf einer eindeutigen Konnotierung der Organisation mit terroristischen Aktivitäten als haltlos.

So hat das jeglicher Sympathie für islamistische Organisationen und Parteien unverdächtige Nachrichtenportal Spiegel Online (08.06.2010) bei der Untersuchung dieses Vorwurfs festgestellt, daß er im wesentlichen auf drei Quellen basiert, die für sich genommen nicht eben stichhaltig sind [1]. Die Los Angeles Times (06.06.2010) stellt fest, daß es keinen Beweis dafür gebe, daß die in über 100 Ländern tätige Organisation irgendwelche Verbindungen zu Al Qaida oder assoziierten Gruppen habe. Selbst die IHH-Aktivitäten in Bosnien und Tschetschenien in den 1990er Jahren sollen rein humanitären Belangen gedient haben. Daß die Organisation nicht auf der Liste terroristischer Organisationen des US-Außenministeriums steht, auf die islamische Wohltätigkeitsvereine seit dem 11. September 2001 sehr leicht geraten, spricht zusätzlich gegen den Verdacht auf Konspirationen dieser Art.

Der IHH Kontakte zur palästinensischen Hamas anzulasten bedeutet, auch den Vereinten Nationen terroristische Ambitionen nachzusagen, weil diese im Rahmen der Unterstützung der Bevölkerung Gazas nicht umhin kommen, mit der dortigen Regierung zusammenzuarbeiten. Deren Kriminalisierung ist Bestandteil einer Israel in die westlichen Hegemonialstrategie einbindenden Diffamierung, die den ureigensten Anspruch westlicher Bevölkerungen auf demokratische Selbstbestimmung dementiert. Den Palästinensern nicht zuzubilligen, was als Fundament der europäischen Wertegemenschaft propagiert wird, bedeutet entweder, daß es sich bei dieser um eine sinnentleerte Fassade handelt oder daß der palästinensischen Bevölkerung auch aus offizieller EU-Sicht grobes Unrecht angetan wird.

Ebensowenig, wie es Anlaß dazu gibt, die IHH oder die Hamas zu idealisieren, besteht Grund dafür, sie mit dem Brandmal des Terrorismus zu stigmatisieren. Wollte man darüber streiten, wer in diesem Konflikt aggressiver und gewalttätiger agiert, dann käme die israelische Seite angesichts der mehrfach so großen Opferbilanz der Palästinenser, ihrer durch die israelische Besatzungspolitik bedingten materiellen Not und politischen Unfreiheit jedenfalls nicht besser weg als die in Abwehr berechtigter Vorwürfe produzierte Behauptung von der angeblichen Selbstverteidigung israelischer Soldaten gegen die Aktivisten der Free Gaza-Bewegung und der IHH.

Ohnehin ist die Instrumentalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen für machtpolitische Zwecke keine Spezialität von Regierungen islamisch geprägter Staaten, wie an die Adresse der türkischen AKP-Regierung gerichteten Vorwürfe einer unlauteren Unterstützung der IHH glauben machen. Die bunten "Revolutionen" in Osteuropa wurden mit Hilfe westlicher Demokratie- und Menschenrechtsorganisationen vorbereitet, die teilweise sogar mit staatlichen Mitteln alimentiert werden. Das Konzept der zivilmilitärischen Zusammenarbeit, also die Einbindung humanitärer Organisationen in militärstrategische Konzepte, ist ein tragendes Element westlicher Eroberungs- und Besatzungspolitik. Die US-amerikanische Bürgerechtsorganisation Anti Defamation League (ADL) betreibt die Anprangerung Israel kritisierender Politiker und Akademiker mit zum Teil berufsschädigender Wirkung.

Auch wird gerne vergessen, daß die Zerschlagung Jugoslawiens unter anderem mit Hilfe islamistischer Kräfte erfolgte, die damals keineswegs gegen, sondern für die Interessen der USA und EU im Einsatz waren. Im blutigen Bürgerkrieg in Bosnien ging die US-Regierung sogar so weit, unter Bruch des UN-Embargos erfolgende Waffenlieferungen des Irans an die Mujahedin und die Streitkräfte der bosnischen Muslime zu tolerieren. Die gegen die bosnischen Serben und die Bundesrepublik Jugoslawien gerichtete Kriegführung der NATO basierte auf einer Allianz mit separatistischen Bewegungen, die im Fall der bosnischen Muslime wie der kosovoalbanischen UCK die Einbeziehung von freiwilligen Kämpfern aus arabischen Ländern wie die logistische Unterstützung durch islamische Organisation auch humanitärer Art umfasste.

Mehrere der damals in Bosnien unter Gutheißung der USA und EU aktiven islamischen Stiftungen und karitativen Organisationen wurden nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA wegen angeblicher Verbindungen zu terroristischen Kräften verboten. Wie im Fall des antikommunistischen Feldzugs gegen Afghanistan der 1980er Jahre waren die Regierung westlicher Staaten keineswegs wählerisch bei der Bestimmung ihrer Bündnispartner, wenn es um die eigenen hegemonialen Ziele ging. Auch im Kampf der tschetschenischen Separatisten gegen die russische Regierung ging man im Westen keineswegs so weit, vom Kreml als Unterstützer des Terrorismus gebrandmarkte Organisationen zu verbieten.

Von der Doktrin des politischen Islam angeheizte Militanz war stets willkommen, wenn sie den eigenen Zwecken diente, während sie in nicht minder einseitiger Weise verurteilt wird, wenn sie sich gegen diese richtet. Das ist nicht weiter erstaunlich, geht es in der internationalen Politik doch nicht um ethische Werte, sondern um Machtinteressen. Die dabei für Legitimationszwecke in Anspruch genommene Moral ist von vornherein eine doppelte, kehren sich die vorgeschützten Motive doch gegen sich selbst, sobald sich die Parameter der Konfliktkonstellationen verändern. So ist auch eine Instrumentalisierung der Gaza Freedom-Flottille für Zwecke, die nicht im Sinne ihrer Aktivistinnen und Aktivisten sind, nicht ausgeschlossen. Ihnen sinistre Absichten zu unterstellen, um die Aufhebung des an den Palästinensern exekutierten Gewaltverhältnisses zu verhindern, kann ebenso als eine solche Zweckentfremdung verstanden werden wie die Nutzung der internationalen Empörung über den Überfall auf die Gaza Freedom-Flottille für ganz andere Ziele der Regierung in Ankara.

Die die IHH unlauterer Motive bezichtigende Medienkampagne betrifft nicht nur humanitäre Organisationen islamisch geprägter Gesellschaften, die ihre Arbeit nicht anders als karitative Institutionen christlichen Bekenntnisses ethisch-religiös begründen. Sie richtet sich generell gegen jeden zivilgesellschaftlichen Aktivismus, der auf politischen Feldern mit hohem Konfliktpotential nennenswerten Einfluß erlangt. Die Gaza Freedom-Flottille hat dies in besonderer Weise getan und damit Möglichkeiten sozialen Engagements aufgezeigt, die Schule machen könnten. Keine Regierung hat Interesse daran, die Durchsetzung sozialfeindlicher und hegemonialer Interessen von basisdemokratischen Bewegungen kontern zu lassen, die aufgrund ihrer Verwurzelung in den Bevölkerungen von vornherein große Legitimität besitzen.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,699372,00.html

[2]http://www.latimes.com/news/nationworld/world/la-fg-turkey-charity-20100606,0,4532488.story

9. Juni 2010