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PROPAGANDA/1440: Jubel in NATO-Land ... zum Sieg die Erniedrigung des Feindes (SB)



Tiefe Genugtuung, ja Jubel über den mutmaßlichen Tod des libyschen Machthabers Muammar al Gaddafi beherrschen die politischen Stellungnahmen und journalistischen Kommentare am Tag danach. So viele Rechnungen, wie mit dem Ende des "Terrordiktators" - doppelt genäht hält besser, meint man wohl in der Redaktion der meinungsführenden Springerzeitung - angeblich beglichen wurden, müßten die Welt auf einen Schlag in das gelobte Land von Freiheit und Demokratie verwandeln. Wofür Gaddafi auch immer verantwortlich sein sollte, ob den Anschlag von Lockerbie, die Bomben der IRA, die Leiden der Libyer, die Korrumpierung westlicher Politiker, die zu geringe Versorgung mit Erdöl - nun wird alles gut, verheißt der Tenor der heute erstellten Erfolgsbilanzen. Es hat sich gelohnt, diesen "Einsatz" der NATO bis zum Ende durchzuhalten, ist man sich einig, und noch einmal wird dem schamvoll in der Versenkung verschwundenen Außenminister Guido Westerwelle von allen Seiten eingeschenkt, wie falsch seine Entscheidung war, die Bundesrepublik nicht an diesem Feldzug für Menschenrechte - und was sonst noch gut und nützlich ist - teilhaben zu lassen.

Kaum eine Zeitung der westlichen Welt verzichtet heute darauf, mit dem Bild des malträtierten Gaddafi aufzumachen. Wo man noch vor wenigen Jahren über journalistische Ethik debattierte, ist mit der allmählich zu imperialistischer Gewohnheit werdenden Diktatorenjagd jegliche Berührungsangst mit der spektakulären Erniedrigung der Starken und Mächtigen von gestern geschwunden. Gaddafi möge mit Hitler in der Hölle verroten, reizt das britische Boulevardblatt Sun das Maximum kondolierender Verdammung aus, als habe es ihr Besitzer Rupert Murdoch immer noch nötig, von den menschenverachtenden Praktiken einiger seiner Angestellten abzulenken. "Keine Gnade" will die Konkurrenz vom Daily Telegraph "einem gnadenlosen Tyrannen" gewähren ganz im Geiste einer sozialchauvinistischen Klassenlogik, derzufolge jeder die Misere auszulöffeln hat, die ihm ein rachsüchtiger Gott zur Geburt mitgibt.

Das Böse in Handschellen zu präsentieren, wie dereinst den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic vor dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal, um sich dann vollständig auszuschweigen über das, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hatte, bevor ihm die ärztliche Behandlung seiner Wahl mit tödlicher Konsequenz untersagt wurde, war nur die Vorstufe für die drastischere Version der Menschenvorführung. Der irakische Präsident Saddam Hussein wurde in aller Öffentlichkeit einer Inspektion seiner Mundhöhle durch einen mit Handschuhen geschützten US-Militärarzt unterzogen, als handle es sich um einen gefährlichen Infektionsherd, um ihn schließlich nach einem Prozeß, der den westlichen Rechtsstaatsimport als Scharade irakischer Rachejustiz entlarvte, zum Johlen seiner Henker aufzuknüpfen. Gaddafi nun wird der einheimischen Fußtruppe der NATO, die ohne deren Bombardement nie so weit gekommen wäre, zum Fraß gezielter Erniedrigung vorgeworfen, um sich die Logik einer Herrschaft anzueignen, die ein Gaddafi, wie sein Niedergang beweist, eben nicht in der gebotenen machiavellistischen Konsequenz vollziehen konnte.

So verkehrt sich der vermeintliche Vorsprung westlicher Zivilisation, zu deren angeblicher Verteidigung der Terrorkrieg vor zehn Jahren vom Zaun gebrochen wurde, zur Affirmation derjenigen Grausamkeit, die damit angeblich gebannt werden sollte. Es wächst zusammen, was stets zusammengehörte und nur dem schönen Schein der Legitimationsproduktion zuliebe auseinanderdividiert wurde: der humanitäre Ethos mit der archaischen Brutalität, über die er sich zu erheben trachtete, zur konstitutiven Raublogik, die damit zivilisiert werden sollte, um sie desto wirksamer vollziehen zu können; das christliche Wertebekenntnis, das der Bomberpilot ablegt, wenn er sich vor dem Abwurf seiner tödlichen Fracht bekreuzigt, mit dem islamistischen Revanchismus, der in den "Gott ist groß"-Rufen der libyschen Rebellen widerhallt, zur Aggressivität monotheistischer Unterwerfung; die Freiheitsdoktrin marktwirtschaftlicher Inwertsetzung mit der verschärften Versklavung durch Entwertung menschlicher Arbeit zu einem kapitalistischen Weltsystem, das seine Reproduktion mit Hunger und Krieg zu sichern trachtet.

Daß bessere Zeiten anbrächen, weil mißliebige Herrscher beseitigt wurden, ist die Suggestion einer kulturindustriellen Geisterbahn, deren Dämonen Schrecken produzieren, die das Jahrmarktspublikum aus ganz anderen Gründen plagen. Für jeden der Kriege, die die NATO-Staaten mit der Moral einer allein ihrer Deutungshoheit unterliegenden Gerechtigkeit geführt haben und führen, lassen sich so schwerwiegende Widersprüche aufzählen, daß der universale Charakter der in Anspruch genommenen Werte seinerseits als Waffe jener Suprematie erkennbar wird, die angeblich auf der Seite derjenigen verortet sein soll, auf die die Gewehrmündungen gerichtet sind. So dokumentieren die zehntausende Opfer des Libyenkriegs, daß die von der NATO inszinierte Schutzverantwortung nur eines schützt: die Interessen der Aggressoren. Während für die Behauptung, man sei auf der Seite der Rebellen in den Krieg eingetreten, um ein gigantisches Massaker zu verhindern, jeder Beweis fehlt, teilt die offizielle Beendigung des NATO-"Einsatzes" kurz nach dem Tod Gaddafis unverhohlen mit, daß es niemals um etwas anderes als einen Regimwechsel zugunsten einer pflegeleichteren Administration in Tripolis ging.

Das Primat der in Anspruch genommenen Wahrheit über das Böse, das etwa die Außenministerin eines demokratischen Staates wie Hillary Clinton dazu ermächtigt, zur Ermordung Gaddafis aufzufordern, wird durch das Mittel ihres Vollzugs zur tödlichen Gefahr für all diejenigen, die aus zum Teil völlig unerfindlichen, weil in geheimdienstlicher Bezichtigung oder antiterroristischer Willkürjustiz wurzelnden Gründen ins Visier nicht von ungefähr anonym operierender Mordmaschinen geraten. "Droneland" könnte der dystopische Name für das Schlachtfeld einer Kriegführung lauten, die den Prompt Global Strike zum absolutistischen Prärogativ einer Weltexekutive erklärt, die ihre Opfer aus heiterem Himmel heraus vernichtet und dafür keinerlei Rechenschaft schuldig ist.

Diktatoren zu stürzen ist Aufgabe der von ihnen unterdrückten Bevölkerungen. Ihnen dieses Vorrecht zu nehmen, muß logischerweise vom Regen in die Traufe neuer Herrschaftsverhältnisse führen. Die westliche Realpolitik, mit echten oder angeblichen Diktatoren je nach Wetterlage gute Geschäfte zu machen oder ihre Länder mit Krieg zu überziehen, beantwortet alle offenen Fragen zur demokratischen Legitimität militärischer Interventionen. Wenn es dabei um Befreiung gehen sollte, dann ausschließlich die bislang ungenügend erschlossener Verwertungsmöglichkeiten. Dementsprechend ist der politische Diskurs, der die Angriffskriege der NATO flankiert, von der apologetischen Eindimensionalität religiöser Dogmatik geprägt. Ein demokratischer Streit, bei dem es zumindest nicht zu körperlichen Verletzungen käme und der unter Berücksichtigung aller zur Konfliktkonstellation beitragenden Faktoren schnell deutlich machte, daß die Leichen in den Kellern aller Parteien so zahlreich sind, daß es nach menschlicher Vernunft einfach keinen Sinn macht, ihnen noch weitere hinzuzufügen, verhielte sich dazu wie die Befreiung von priesterlicher Indoktrination in Schuld- und Sündhaftigkeit gehaltener Untertanen.

Der Verzicht auf diesen Diskurs zeigt, daß der angeblich irreduzible Wertekern menschlicher Gemeinschaft keineswegs davor gefeit ist, als Tauschwert ihm adäquater Menschenfeindlichkeit in den Verkehr einer Vorteilsnahme eingespeist zu werden, deren Nutznießer das regulative Potential handelsüblicher Moralität längst so inflationär entwertet haben wie die materielle Grundlage gesellschaftlicher Reproduktion. Die damit akkumulierte Schuld übrtrifft jede Möglichkeit ihrer moralischen wie ökonomischen Tilgung, so daß ihre Begleichung nurmehr in der Ohnmacht erlittener Gewalt darstellbar ist. So beschwört die Aufhebung dessen, was als menschliche Vernunft frei von partikularem Nutzen und Gebrauch zu sein beansprucht, in Gestalt der Kriegführung der NATO gerade deshalb den größeren Schrecken herauf, weil das Legitimationskorsett eines vermeintlich neutralen, allein den politischen Weisungen demokratisch legitimierter Regierungen verpflichteten Akteurs zur dissoziativen Verkennung der von ihm ausgehenden Gewalt nötigt. Die Gleichzeitigkeit moralischer Integrität und vernichtender Brutalität soll nicht zuletzt diejenigen Menschen einschüchtern, die derzeit auch in der EU und den USA Anstalten unternehmen, den Aufstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu proben. Wozu libysche Rebellen, unter ihnen bewaffnete Gruppen, die mit rassistischen Ausfällen gegen Schwarze und der Unterwerfung von Frauen unter patriarchalische Gewalt demonstrieren, wer zu den Verlierern des Machtwechsels gehört, mit finanzieller und militärischer Unterstützung ermutigt wurden, soll den eigenen Bürgerinnen und Bürgern keinesfalls zugestanden werden - die Machtfrage zu stellen und höchst einseitig zu beantworten bleibt das Privileg der Machthaber.

21. Oktober 2011