Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1467: "Verbraucher" zwischen Bezichtigung und Verführung (SB)




Die Bezichtigung des "Verbrauchers", er trage mit dem Kauf von Billigangeboten ebenso dazu bei, daß Lebensmittel gepanscht werden, als daß er sich mitschuldig an der Ausbeutung von Niedriglohnsklaven macht, ist fester Bestandteil des neoliberalen Erregungsdiskurses. Würde er nur hochwertige Bioware oder andere Premiumprodukte kaufen, anstatt beim Discounter die Sonderangebotspalette zu plündern, dann müßten die Hersteller auch kein nichtdeklariertes Pferdefleisch untermischen. Bezöge er seine Unterhaltungselektronik nicht bei Amazon oder anderen Billigheimern, dann schlügen sich die knapp kalkulierten Preise auch nicht in horrenden Arbeitsbedingungen und einem rücksichtslosen Personalmanagement nieder, so der Tenor einschlägiger Kommentare in Presse und Rundfunk.

Wer hier als vermeintlich marktbewußter Konsument die Stimme erhebt und in den Chor der angebotspolitischen Weltdeuter einfällt, laut denen alles seinen Preis hat und nur dieser über Gedeih und Verderb der wirtschaftlichen Entwicklung entscheide, der kann es sich offensichtlich leisten, beim Einkauf nicht auf sein Budget zu gucken. Er kann dies vor allem deshalb tun, weil andere jeden Eurocent umdrehen müssen, bevor sie ihn gegen Dinge des täglichen Bedarfs eintauschen. Nicht in Rechnung gestellt bei den prototypischen Zielgruppen des gehobenen Markensortiments wird die Bedeutung, die die Reproduktionskosten der Lohnarbeit für die aus ihr geschöpfte Mehrwertrate haben. Je billiger sich der durchschnittliche Lohnempfänger ernährt und kleidet, je weniger er für Wohnung, Energie, Mobilität und Medien ausgibt, desto eher ist die Abschöpfung eines größeren Anteils an unbezahlter Arbeitskraft gewährleistet, den der Unternehmer reinvestieren und damit zum Wirtschaftswachstum der maßgeblich auf Exportgüterindustrie und Finanzwirtschaft abonnierten Gesellschaft beitragen kann.

Ginge es vorrangig um die Bedürfnisbefriedigung nach bestem qualitativen Maßstab, sollten also vollwertiges und gesundes Essen, Wohnen und Kleiden allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, dann wäre dies unter den herrschenden Verwertungsbedingungen ruinös für jede kapitalistische Gesellschaft, die dies zu realisieren versuchte, ohne über ein langfristig gesichertes Nationaleinkommen in Form von Erdöl oder anderer am Weltmarkt gefragter Rohstoffe zu verfügen. Die gerne auch von Grünenpolitikern propagierte Regulation des Marktes über den Preis zeitigt mithin nicht nur die Folge des sozialfeindlichen Ausschlusses, sie setzt die Existenz eines breiten Bodensatzes von Niedriglohnarbeitern und einer das Lohnniveau permanent senkenden Reservearmee voraus. Zudem unterschlägt die Propaganda vom Konsumenten als zentrale Instanz ökonomischer Regulation die Frage, wieso er als Subjekt des demokratischen Verfassungsstaates nicht souverän genug ist, um der Zerstörungsgewalt von Marktakteuren Einhalt zu gebieten.

Zwar realisiert auch der für die Reproduktion der Arbeitskraft erforderliche Konsum Mehrwert durch die Herstellung der verbrauchten Waren und Dienstleistungen, doch reichte dieser auf dem im Hightech-Kapitalismus erreichten Produktivitätsniveau schlicht nicht aus, um eine Profitrate zu erwirtschaften, die als Minimum systemischer Bestandssicherung erachtet wird. Dies belegt etwa die Produktivkraftentwicklung in der Landwirtschaft, die die Zahl der Menschen, die ihren Lebenserwerb dort bestreiten, in der Bundesrepublik auf einen historischen Tiefpunkt hat sinken lassen. Nicht umsonst ist von bezahlbarer Nachfrage die Rede, wenn Prognosen über zu erwartende Absatzzahlen getroffen werden. Bei einer Milliarde hungernder Menschen auf der Welt braucht über die Nachfrage nach Nahrungsmitteln nicht geredet zu werden, und das wird es dann auch nicht. Die Not der Hungernden schlägt sich nicht im größeren Absatz von Lebensmitteln nieder, sondern im Anstieg der Preise für sie. Die Trennscheide zwischen Zahlungsfähigkeit und Mangel entscheidet schlußendlich über Leben und Tod. Ist die Sicherung seines Lebens für den Armen unerschwinglich, so sagt ihm der abschätzige Blick dessen, der seinen ökonomischen Nutzen taxiert, daß er gerade deswegen nichts wert ist.

Das Lamento über die angebliche Crux des Billigkonsums suggeriert die heile Welt von "Verbrauchern", die als Adressaten eines emphatischen oder ethischen Marketings zum Konsum des guten Gefühls verführt werden, das Richtige zu tun. Zweifellos gibt es zahlreiche Gründe, die Totalität des Tauschwertäquivalents Geld in Frage zu stellen und es für bestimmte Dinge nicht auszugeben. In der Unterstellung, mit Hilfe des individuellen Kaufverhaltens ließen sich Mißstände wie die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur abstellen, wird der Primat des Geldes jedoch verabsolutiert und der in der Konkurrenz um die Kostensenkung bei der Güterproduktion verortete Schaden zementiert. Indem der Marktprimat mit der Forderung, den angerichteten Schaden durch höhere Preise zu beheben, nicht angetastet wird, bleiben ihm auch der Lohn der Arbeit und die Sozialtransfers bei Arbeitslosigkeit und -unfähigkeit unterworfen.

Diese auf ein Niveau zu bringen, das die Befriedigung der Grundbedürfnisse übererfüllte, um von Budgetzwängen freie Kaufentscheidungen treffen zu können, und dies in humanistischer Konsequenz nicht nur bei allen Bundesbürgern, sondern allen Menschen überhaupt zu tun, bedarf der revolutionären Aufhebung jeglichen Wertverhältnisses.

Doch nichts könnte den Verwertern und Vertretern kapitalismusgenerierten, marktgerechten Konsums ferner liegen, als die systemimmanente Funktionalisierung des Menschen zum Spitzeninhaber des ersten Platzes in der Nahrungskette als sogenannter Verbraucher und damit die Wirkung nebst aller dabei vorauszusetzenden Zerstörungsprozesse und schlußendlich kannibalistischer Konsequenz aufheben zu wollen.

21. Februar 2013