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PROPAGANDA/1477: Im Wandel der Werte - Geschichtsblindheit in Aktion (SB)




Einen Waffengang zwischen Rußland und der Ukraine zu verhindern sollte nicht nur aufgrund der Möglichkeit eines Kriegseintritts der NATO erste Pflicht aller Politikerinnen und Politiker sein. Während die Bundesregierung allmählich einzusehen scheint, daß ihr Versuch, für einen Regimewechsel in Kiew einen eigenen Hasardeur ins Feld zu schicken, zumindest vorerst nicht zum erwünschten Ergebnis führt, und daraus den Schluß zieht, daß Schadensbegrenzung im Augenblick für alle Beteiligten die naheliegende Wahl ist, verschärfen die notorischen Scharfmacher den Ton ihrer neoliberalen Freiheitsmission und Menschenrechtssuprematie.

Hillary Clinton zog einmal mehr die stark abgegriffene, vor lauter Blutflecken fast unkenntlich gewordene Hitler-Karte. Auch wenn sie damit eine Parallele zwischen dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschecheslowakei und der Präsenz russischer Truppen auf der Krim zog, bürdete sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin insgeheim die moralische Last einer Schuld auf, die nicht in Rußland, sondern im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurzelt. Daß die Bewerberin für die nächste US-Präsidentschaft Hitler damit den Persilschein ausstellt, im Grunde genommen nichts Schlimmeres getan zu haben als sein angeblicher Wiedergänger heute, heißt auch, den Handlungsspielraum eigener Kriegsmacht auf einer nach oben offenen Skala möglicher Zerstörungsgewalt zu verorten.

Clintons UN-Botschafterin Samantha Powers höhnt angesichts der Absicht der russischen Regierung, die russischstämmige Bevölkerung der Ukraine schützen zu wollen, man könne denken, Moskau sei zum verlängerten Arm der schnellen Eingreiftruppe des UN-Kommissars für Menschenrechte geworden, um Putin schließlich eines völkerrechtswidrigen Aggressionsaktes zu bezichtigen. Der vom Aktivisten gegen den Vietnamkrieg zum US-Außenminister aufgestiegene John Kerry lastet Rußland einen unzeitgemäßen, im 19. Jahrhundert zu verortenden Übergriff an, als hätten die USA nicht vor 11 Jahren "unter einem völlig erfundenen Vorwand" [1], so der Kern seines Vorwurfs an die Adresse Moskaus, den Irak überfallen. Die obsessive Züge aufweisende Dissoziation US-amerikanischer Geschichtsdeutung macht auch mit diesem Beispiel klar, daß mit allem zu rechnen ist, nur nicht mit einer Mäßigung, die als Ergebnis erfolgreichen Lernens verstanden werden könnte.

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, der keine bunte Revolution und NATO-Intervention ausläßt, um sich als Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie in Szene zu setzen, gibt auf dem Maidan die Parole "No pasaran!" aus. Indem er den Sturz Janukowitschs mit dem republikanischen Widerstand gegen das Vorrücken der faschistischen Truppen Francos 1936 gleichsetzt, jongliert er mit den Akteuren des Spanischen Bürgerkriegs in bester poststrukturalistischer, sprich ausschließlich zweckrationaler Manier. Das Plündern letzter Requisiten eigener Glaubwürdigkeit gipfelt in dem Appell, Europa müsse auch Putins Soldateska "No pasaran!" zurufen, um die "eine, unteilbare und freie Ukraine" zu verteidigen [2].

Nicht nur Levy, auch der grüne EU-Abgeordnete Werner Schulz scheint sich an seine Jugend im Prager Frühling erinnert zu fühlen. "Putin ist ein Verbrecher", erklärt er unumwunden und verlangt, Rußland mit Sanktionen seine Grenzen in der Ukraine wie anderswo aufzuzeigen [3]. Doch was hat das heutige Rußland mit der Sowjetunion des Kalten Krieges zu tun?

Es eignet sich hervorragend als Popanz für die feindseligen Projektionen einer zum postmodernen Werteimperialismus übergelaufenen Linken, die ihre Kriege stets von der Kommandohöhe unantastbarer Moral aus führt. Aufgewachsen und sozialisiert im Aufstand gegen eine Elterngeneration, die den Antibolschewismus des NS-Staates bruchlos in den Antikommunismus der NATO überführte, sind große Teile der Neuen Linken selbst zu den kapitalistischen Funktionseliten geworden, gegen die sie in ihrer Jugend antraten.

Spätestens seit der einhelligen Befürwortung der Zerschlagung Jugoslawiens durch NATO und EU wandelt dieser Teil der 68er-Generation auf Kriegspfaden, ohne darauf verzichten zu wollen, die Machtfrage mit moralischen Versatzstücken einer gegen sich selbst gewendeten Fortschrittsideologie zu beweihräuchern. Indem das berechtigte Aufbegehren gegen Nationalismus und Faschismus in ein Bekenntnis zur angeblich postnationalen Suprastaatlichkeit der EU wie USA mutierte, konnten Joseph Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Bernard Kouchner und zahllose andere freiheitlich-demokratisch beflaggte Linke das angenehme - die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse des neuen Feudalkapitalismus - mit dem nützlichen - dessen Durchsetzung gegen alle Menschen, die eigene Wege außerhalb seines Vormachtsanspruchs und Verwertungsinteresses beschreiten wollen - verbinden.

Nur so ist zu erklären, daß die offenkundige Einkreisung Rußlands durch NATO und EU auch dann, wenn mit der Krim eine zentrale geostrategische Position des Landes gefährdet ist, von Menschen, die es schon von der eigenen politischen Herkunft her besser wissen müßten, als Normalität friedlichen Miteinanders verkauft wird. Die Verkehrung linker Ideale in rechte Klassenherrschaft macht es möglich, zwar die Waffenhilfe finsterster und aggressivster Reaktionäre in Anspruch zu nehmen, den Vorwurf, man paktiere mit Faschisten, aber rundheraus als Propaganda zu diffamieren. Auch dazu bedarf es der projektiven Gleichsetzung des privatkapitalistischen Rußlands mit der realsozialistischen Sowjetunion, als habe es niemals eine durch Gewaltakte wie die Beschießung des russischen Parlaments initiierte Ära neoliberaler Radikalreformen gegeben, in der die Umverteilung von unten nach oben massive soziale Verelendung erzeugte.

So marschieren die EU-europäischen und US-amerikanischen Propagandakompanien mit festem Tritt auf von den Panzern der Wehrmacht und SS planierten Rollbahnen gegen eine Bevölkerung, die revolutionäre Weltgeschichte geschrieben und im Verteidigungskrieg gegen den Faschismus millionenfach geblutet hat. Absichtsvoll erzeugte Geschichtsvergessenheit steht Pate bei dem Versuch, den an seiner eigenen Widersprüchlichkeit scheiternden Kapitalismus an mangel- und schuldengetriebener Landnahme genesen zu lassen. Nachfolgende Generationen drohen unter der Allmacht einer Werteordnung, die die Vitalität kritischer Aufklärung durch ideologische Substanzlosigkeit ersetzt, in einer Wüste der Generalamnesie zu verdursten, die durch keine Google-Suche zu beleben ist, weil den Menschen alle echten Fragen ausgetrieben wurden. Wie schnell elf Milliarden Euro nicht etwa nur an Krediten, sondern regelrechten Geschenken an die Ukraine zu mobilisieren sind, um den erreichten Stand der Ostexpansion zu sichern, zeigt anhand der massenhaften sozialen Verelendung Griechenlands, daß die Auspressung letzter Verwertungspotentiale in der EU selbst nicht etwa notgedrungener Sachzwang, sondern Programm kapitalistischer Bewirtschaftung ist.

Was immer der russischen Führung an Brüchen internationalen Rechts angelastet wird, die olivgrünen und neokonservativen Sturmtruppen haben es bereits mehrfach vollzogen. Was immer ihr an räuberischer Aggression unterstellt wird, wurde bereits an den Menschen und Kulturen anderer Länder verübt. Ohne eine Deutungsmacht, die keine anderen Wahrheiten neben sich duldet, könnte die dabei beanspruchte Wertesuprematie keinen Augenblick Bestand haben. Der schrille Ton, mit dem die zu neoliberaler Realpolitik konvertierte Linke einen Kampf zwischen dem eigenen Guten und dem russischen Bösen beschwört, legt beredtes Zeugnis davon ab, daß die Moral ihrer Argumente eine rhetorische Mehrzweckwaffe nach Art einer Hellfire-Rakete ist, die das Diktat der herrschenden Ordnung in Personalunion von Ankläger, Richter und Henker vollstreckt.


Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2014/03-04/034.php

[2] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/bernard-henri-levy-auf-dem-majdan-europa-muss-euch-helfen-12829745.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/russland-sanktionen-der-westen-muss-deutlicher-auftreten.694.de.html?dram:article_id=279270

6. März 2014