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PROPAGANDA/1502: Berlin Ankara - Kochen mit Feuer und Wasser ... (SB)



In kapitalistischen Gesellschaften kommt dem bürgerlichen Liberalismus eine wichtige Legitimationsfunktion zu. Möchte man sich nicht an sozialen Widersprüchen abarbeiten und die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung unter allen Umständen aufrechterhalten, dann sind liberale Freiheitspostulate mit hohem Symbolgehalt Gold wert. Obschon zentrale Achse jeder Marktordnung gilt das weniger für das Vertragsrecht, das im liberalen Freiheitscredo einen zentralen Platz einnimmt. Viel bedeutsamer für den öffentlichen Diskurs sind Meinungs- und Pressefreiheit, sollen doch Arm und Reich gleichermaßen vom Universalismus dieser bürgerlichen Privilegien profitieren. Das stimmt nur sehr bedingt, solange partikuläre Interessen die technischen Mittel und Strukturen medialer Kommunikation kontrollieren, doch das ist der Glaubwürdigkeit der Propaganda kaum abträglich.

So rühmen sich von krasser sozialer Ungleichheit durchzogene Gesellschaften wie die der USA und EU gerade anhand dieses Beispiels, Garanten der Freiheit zu sein und Despoten, denen man aus ganz anderen Gründe zu Leibe rückt, als Feinde derselben bekämpfen zu können. Will eine Regierung jedoch aus strategischen Gründen beste Beziehungen zu einem autoritären Herrscher unterhalten, dann bleiben selbst Meinungs- und Pressefreiheit auf der Strecke der Staatsräson. Das zeigte der Besuch des türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Bundesrepublik, dem alle Ehren eines Staatsgastes zuteil wurden, obwohl maßgeblich auf sein Betreiben hin 168 JournalistInnen in der Türkei im Knast sitzen, meist wegen des Verdachtes auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Dieser Vorwurf wird schon bei kleinen Abweichungen von der genehmen Linie der Berichterstattung und insbesondere beim Eintreten für Rechte der kurdischen Minderheit erhoben.

Seit dem Putsch im Juli 2016 wurden 189 Medienunternehmen geschlossen, und etwa 30 Prozent der türkischen JournalistInnen haben ihren Job verloren. Doch der von der AKP-Regierung erweckte Eindruck, der angeblich von der Gülen-Bewegung ausgehende Umsturzversuch sei verantwortlich für die massive Unterdrückung der Medien in der Türkei, trifft nicht zu. Schon im Zeitraum von 2003, dem Beginn der AKP-Ära, bis 2016 mußten sich rund 11.000 JournalistInnen vor Gericht verantworten. Allein zwischen 2013 und 2016 wurden 36.000 Presseausweise nicht erneuert, was die ohnehin gefährliche Arbeit von Presseleuten in der Türkei praktisch unmöglich macht [1].

Bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Erdogan wurde der türkische Journalist Adil Yigit aus dem Saal geworfen, weil er auf seinem T-Shirt auf türkisch und deutsch "Pressefreiheit für Journalisten in der Türkei" forderte. Er hatte die Aktion geplant, weil er als türkischer Oppositioneller bei früheren Pressekonferenzen mit Erdogan in Deutschland niemals das Wort erteilt bekam. Also nahm er es sich selbst und löste damit, daß er das, was alle im Saal versammelten PolitikerInnen und JournalistInnen wußten, auf seiner Brust sichtbar machte, einen entlarvenden Eklat aus.

Zwar hatte er damit gegen die Regeln der Pressearbeit bei der Bundesregierung verstoßen, doch das aus nachvollziehbaren Gründen. Dennoch wurde Yigit nach Ausziehen des T-Shirts entgegen anderslautenden Zusagen nicht mehr in den Saal gelassen. Das deutsche Sicherheitspersonal könne ihn dort angeblich nicht vor Angriffen der Schergen Erdogans schützen, was dazu führte, daß die Anwesenheit des unbequemen Kritikers vollständig unterbunden werden konnte. [2]

Vor 50 Jahren waren es "Prügelperser", die auf die gegen den iranischen Schah Reza Pahlevi demonstrierenden StudentInnen mit Holzlatten einprügelten, ohne daß die Polizei dies verhinderte. Heute bedroht das Sicherheitspersonal Erdogans KritkerInnen des Despoten, ohne daß die Polizei des Landes, in dem dieser zu Gast ist, dies unterbindet [3]. Dieser willentlich hingenommene Souveränitätsverlust ist ein bezeichnendes Zugeständnis an den Omnipotenzanspruch Erdogans, dem auf diese Weise noch mehr Raum zugestanden wird, seine repressiven Maßnahmen auch außerhalb der Türkei durchzusetzen. Die massive Verfolgung der AktivistInnen der türkischen Linken und kurdischen Freiheitsbewegung in der Bundesrepublik reicht als Morgengabe an den türkischen Potentaten offensichtlich nicht aus.

Adil Yigit hat die Aktion trotz stets möglicher Abschiebung durchgeführt. Vor einem Jahr wurde ihm das Aufenthaltsrecht in Deutschland nach 35 Jahren in der BRD entzogen, was seine Meinungsbekundung zu einem Akt besonderen Mutes macht. Zudem stellt das bedrohliche Auftreten militanter türkischer Nationalisten beim Erdogan-Besuch [3] eine akute Bedrohung aller Oppositioneller türkischer wie kurdischer Herkunft dar. Da die deutschen und türkischen Behörden im Bereich des Staatsschutzes eng zusammenarbeiten, ist im Ernstfall kaum Hilfe von der deutschen Polizei zu erwarten, sondern eher eine Verhaftung mit anschließender Anklage nach Paragraph 129 b.

Nun reichen sich die Strafverfolgungsapparate beider Staaten nicht mehr nur bei als terroristisch diffamierten Vereinigungen Oppositioneller die Hände. Auch die Öffentlichkeitsarbeit gegen die zivilgesellschaftliche und linke Opposition in der Türkei scheint sie zusehends zusammenzuschweißen, was die Arbeit aller in der Bundesrepublik arbeitenden JournalistInnen in Frage stellt.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/340667.berichten-nach-erdogans-gnaden.html

[2] https://www.nuceciwan1.net/de/2018/09/29/wegen-gefahr-durch-tuerkische-sicherheitsleute-eintritt-verweigert/

[3] https://www.nuceciwan1.net/de/2018/09/29/mafia-als-erdogan-security-in-koeln/

3. Oktober 2018


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