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RAUB/0911: "Organernte" innovativ organisieren ... vom Elend der Empirie (SB)



"Wir haben Richtlinien für die reale Welt zu erschaffen, nicht für eine ideale". Unter dieser Prämisse diskutiert der an der Princeton University lehrende Philosoph Peter Singer (www.project-syndicate.org, August 2009) die Frage, ob man nicht kommerziellen Organhandel legalisieren sollte. Der führende Vertreter einer utilitaristischen Bioethik gesteht zwar zu, daß der Verkauf entbehrlicher Organe zur Ausbeutung armer Menschen beiträgt, hält den Kritikern, die fordern, Menschen in ökonomischer Not auf andere Weise zu helfen, anstatt ihre Probleme auszunutzen, entgegen:

"Das sollten wir zweifellos, aber wir tun es nicht: Unsere Unterstützung für die Armen ist beklagenswert unzureichend und überlässt eine Milliarde Menschen einem Leben in äußerster Armut. In einer idealen Welt gäbe es keine notleidenden Menschen und es gäbe genügend uneigennützige Spender, sodass niemand sterben würde, während er auf eine Niere wartet."

Die Dinge sind so, wie sie sind, machen wir also das beste, sprich das schlechteste daraus. Der Ausgangspunkt des Plädoyers Singers für ein Umdenken im Umgang mit der Lebendspende schützt die Unabänderlichkeit bestehender Ausbeutungsverhältnisse vor, um sie zu verschärfen. Die von ihm geschilderten Systeme legalisierter materieller Anreize zur Veräußerung einer Niere unterscheiden sich nur bedingt von Negativbeispielen wie dem Kauf eines Organs, das, wie offensichtlich in China übliche Praxis, einem exekutierten Gefangenen entnommen wurde und die Kasse des seinen Tod anordnenden Staates aufbessert, oder dem illegalen Organhandel, den Singer am Beispiel des US-Geschäftsmanns Levy-Izhak Rosenbaum schildert. Sein Einwand, die Verwendung der Leichen hingerichteter Krimineller sei "ethisch wohl fragwürdiger (...) als der Kauf einer Niere, da es einen Anreiz für die Verurteilung und Exekution von Personen bietet, die eines Kapitalverbrechens beschuldigt werden", trifft hinsichtlich der geschilderten Korrumpierung einer in den Dienst der Organsubstitution gestellten Justiz zwar zu, öffnet aber gleichzeitig das Einfallstor einer Abwägung, in der das größere Übel das kleinere Übel nicht nur legitimiert, sondern maximiert.

So reduziert sich die Praxis ethischer Bewertung nach Maßgabe absolut gesetzter Empirie auf den Abgleich unterschiedlicher Formen fremdnützigen Interesses, das die Menschen, die ihm ohnmächtig ausgesetzt sind, als Zugriff von vergleichsloser Totalität erleben. Wo Bioethik als Schlüssel zur Entwicklung innovativer Formen der Überlebenssicherung ausschließlich zweckbestimmt determiniert ist, da fördert sie nicht etwa notgedrungen, sondern auf voluntaristische Weise Mißstände, die sie im gleichen Atemzug beanstandet und stärkt. Die ins Feld geführte Not der Organempfänger durch deren Kapitalmacht zu kompensieren setzt die Mißachtung derjenigen Kranken voraus, die sich den Kauf einer Niere nicht leisten können. Daß diese in der Rechnung der Fürsprecher der Kommerzialisierung der Organspende nicht auftauchen, hat System, demonstrierte das ungerechte Verhältnis zwischen mittellosen und reichen Organempfängern doch vollends, daß der offizielle Handel mit dieser knappen Ressource auf eine kannibalistische Raubpraxis hinausläuft.

Dies gilt um so mehr, als daß Milliarden Menschen nicht einmal medizinische Grundversorgung erhalten, während sich Bioethiker wie Singer Gedanken darüber machen, wie gutsituierte Nierenkranke leichter an ein Ersatzorgan herankommen. Hier erweist sich das Lamento über die große Anzahl mit Armut geschlagener Menschen als ethische Beweihräucherung ihrer Vernutzung als bloße Bioressource. Dies wird, wie die distanzierte Beobachtung aus vermeintlich neutraler Sich des Empirikers suggeriert, nicht nur passiv akzeptiert. Tatsächlich wird die Verdinglichung mittelloser Menschen zum Lebenddepot pharmazeutisch nutzbarer Gewebeproben und operativ übertragbarer Organfunktionen aktiv vorangetrieben, indem mit utilitaristischer Sachzwanglogik der Schirm der Unabänderlichkeit über ihre desolate Lage gespannt wird.

Die grundsätzliche Frage, ob die Transplantationsmedizin nicht ohnehin etwa mit der Vorverlagerung des Todes ins Leben nach der Hirntoddefinition inakzeptable Formen des Raubs begünstigt, wird mit der Debatte um die Kommerzialisierung des Organhandels vollends ad acta gelegt. Die mit der Verfügbarkeit von Ersatzorganen und der verbesserten Unterdrückung der Abstoßung fremder Gewebe geförderte Praxis, vermeidbaren körperlichen Verschleiß nicht mehr zu vermeiden, weil Herz, Leber und Nieren austauschbar sind, dokumentiert die Fragwürdigkeit einer Objektivität, laut der Kranken auf nur diese Weise zu helfen sei.

Die von Singer befürwortete Entwicklung neuer Formen der sogenannten Organernte, die nicht nur marktwirtschaftlicher Art sein müssen, sondern auch als mit materiellen Anreizen arbeitende Strukturen staatlicher Zuteilung etabliert werden können, basieren in jedem Fall darauf, Not und Mangel zu organisieren, anstatt entschieden zu bekämpfen. Wenn Wissenschaftler wie Singer, die sich das Mäntelchen des besseren Menschen überwerfen, um die Zweckmäßigkeit der Mangelproduktion und damit die Privilegien eigener Überlebenssicherheit von Kritik frei zu halten, in Politik und Gesellschaft Gehör finden, dann steht der Qualifikation der Elendsverwaltung, bereits vorgeführt an der Einstellung humanitärer Hilfe zur Produktivitätssteigerung unterentwickelter Landwirtschaften oder an der Disziplinierung von Erwerbslosen durch Leistungsentzug, weniger denn je im Wege.

27. August 2009