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RAUB/0939: Immunabwehr gegen Arme ... Westerwelle laboriert am Sozialstaat (SB)



Die demagogischen Blendgranaten des Guido Westerwelle verfolgen den Zweck, die Debatte um die Regelsätze von Hartz IV-Empfängern so sehr nach rechts zu verschieben, daß Einsparungen bei den Sozialtransfers politisch durchsetzbar werden. Die Chancen darauf stehen gut, wie man an seinen Kritikern im Lager der Regierungsparteien ermessen kann, die dem FDP-Chef zwar anlasten, rhetorisch zu überziehen, die ihm aber auch zugestehen, allemal zur Sache zu sprechen. Auf der Opernbühne, auf der derzeit Unfreundlichkeiten ausgetauscht werden, wird man nach der weiteren Verschärfung der sozialen Lage in der Bundesrepublik gemeinsam vor den Vorhang treten und sich für diesen Erfolg am Modell Deutschland bejubeln lassen.

Bei dem Versuch, sich die Klientel der Besserverdienenden und Kapitaleigner gewogen zu halten, versteigt sich der FDP-Chef zu Behauptungen, hinter denen nichts anderes steckt als das sozialrassistische Ressentiment, mit dem Lautsprecher bourgeoiser Selbstzufriedenheit wie Peter Sloterdijk oder Thilo Sarrazin Klassenkampf von oben betreiben. Verbindendes Element der Strategien, mit denen die Gesellschaft weg von den verbliebenen Rudimenten egalitärer Ansprüche hin zu einer unumkehrbaren Elitenherrschaft getrieben wird, ist die Ausblendung konstitutiver Machtverhältnisse.

Die von Westerwelle betriebene Kampagne gegen eine Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze ist ein Musterbeispiel dafür, daß sich ethische Ansprüche in jede Richtung drehen lassen, wenn man das Feld, auf dem sie durchgesetzt werden sollen, nur eng genug umgrenzt. Je aggressiver die Tonlage, je schriller die Wortwahl, je erregter die scheinbare Debatte, desto mehr Platz wird zu Lasten der gesellschaftlichen Verlierer besetzt. Daß diese bestenfalls gefragt werden, um Zeugnis für ihr verantwortungsloses Treiben bei der Ausnutzung der Sozialtransfers abzulegen, hat System. Die medialen Kampagnen, mit denen Hartz IV-Bezieher zu faulen, schwachen und desolaten Existenzen erklärt werden, basieren auf einem potentiellen Sozialfaschismus, der seiner institutionellen Verankerung harrt. Zwar setzen sich die Vertreter von Sozialverbänden und einige linke Politiker für die von dieser Stigmatisierung betroffenen Gruppen ein, doch eine eigene Stimme, die auf angemessene Weise medial und politisch übersetzt würde, hat die sogenannte Unterschicht nicht. Sie ist, wie der ehemalige US-Präsident William Clinton, der in den neunziger Jahren mit einer radikalen Reform des US-amerikanischen Sozialhilfesystems das Massenelend in seinem Land vertiefte, schon damals wußte, keine "under-", sondern eine "outerclass".

Um so leichteres Spiel hat ein Demagoge wie Westerwelle, wenn er den Eindruck erweckt, ihm gehe es um Gerechtigkeit. Am Beispiel von Haushalten, die mit Erwerbseinkommen angeblich schlechter gestellt sind als Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, soll der Wahrheitsgehalt seines Glaubenssatzes "Leistung muß sich lohnen" bewiesen werden. Ins Verhältnis zu einer anderen Elendsexistenz gesetzt zu werden, um darin zuzustimmen, daß es dieser noch nicht schlecht genug geht, um sie für die staatliche Alimentation ihres Lebens abzustrafen, droht den von Westerwelle hofierten Geringverdienern eben dieses Schicksal an. Ihm ist die Friseuse, die mit vier Euro Stundenlohn ihre zwei Kinder durchbringen muß, ausschließliches Mittel zum Zweck der Klassenspaltung. Nicht nur Hartz IV-Empfänger, sondern die Millionen Menschen, die sich gerade eben über diesem Elendsniveau durchschlagen oder ihren geringen Lohn als Aufstocker durch staatliche Leistungen ergänzen müssen, um auf das Existenzminimum zu kommen, leiden unter dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, das Westerwelle propagiert.

Dementsprechend übergeht Westerwelle, wenn er in die Kerbe "spätrömischer Dekadenz" schlägt, mit der Leistungsempfänger ihren "anstrengungslos" erwirtschafteten Wohlstand genießen, den disziplinatorischen Charakter dieses Sozialstaats. So bringt die Existenz eines Alg II-Empfängers Pflichten und Maßnahmen mit sich, die ihn zu einem Bürger zweiter Klasse degradieren. Liberale Freiheitsapostel hätten, wenn es ihnen wirklich um Bürger- und nicht um Reichenrechte ginge, allen Grund dazu, die Entmündigung der Empfänger von Sozialleistungen als Anmaßung autoritärer Staatlichkeit zu kritisieren. Statt dessen zeigt sich, daß der Liberalismus der FDP im Grundsatz staatsautoritär ist, sprich die sozialtechnokratisch formierte Gesellschaft favorisiert, in der der Staat die Rolle des Aufsehers der durch den neoliberalen Produktivitätsethos überflüssig gemachten Menschen übernimmt.

Ebenso verschweigt Westerwelle, daß die niedrigen Löhne der erwerbsarbeitenden Vollzeitbeschäftigten, deren Interessen er zu vertreten behauptet, Ergebnis einer aktiven Politik der Lohnsenkung sind, die sich der Kürzung von Sozialleistungen bereits bedient hat, um nun mit dem Argument des Lohnabstandsgebots die weitere Verbilligung der Lohnarbeit durchzusetzen. Das einfache Mittel staatlich festgelegter Mindestlöhne wird von Westerwelle als Eingriff des Staates in die Freiheit der Wirtschaft abgelehnt, eine Freiheit, die die Gefangenschaft der durch die Kapitalakkumulation überflüssig Gemachten voraussetzt. Ihre Existenzsicherung soll unter dem Diktat der Bezichtigung stehen, auf unverdiente Weise erlangt worden zu sein. Niemals tun die Leistungsempfänger genug dafür, um aus ihrer angeblich selbstverschuldeten Zwangslage herauszukommen, sonst wären sie ja nicht auf staatliche Versorgungsleistungen angewiesen. Das geschlossene Glaubenssystem neoliberaler Logik lebt von Zirkelschlüssen wie diesen, ansonsten wäre nicht glaubhaft zu vertreten, daß Erwerbslose und Arbeitsunfähige einer Mangelration ausgesetzt werden, die ihnen das Leben so sauer macht, wie es den Nutznießern der Kapitalrenten süß ist.

Da Notlagen, die nur mit Hilfe der Solidargemeinschaft zu bewältigen sind, der Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung immanent sind, muß das Freiheitsdogma, laut dem jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, mit der Wucht eines Totschlagarguments ins Feld geführt werden. So wird der Widerspruch, das Eigentum mit der gleichen legalen Gewalt zu garantieren, die die Ausbeutung durch Arbeit durchsetzt, zu einer sozialdarwinistischen Anthropologie überhöht, laut der die unterschiedliche Verteilung sozialer Privilegien natur- und kulturgegeben ist. Die "Unproduktiven" werden ethnisch, religiös, entwicklungspsychologisch oder erbbiologisch stigmatisiert, indem ihre angeblichen Defizite der Anpassungs- und Leistungsbereitschaft von einer materialistischen Analyse der sie bedingenden Verhältnisse entkoppelt werden. Hier geben sich die Apologeten des neoliberalen Marktfundamentalismus mit den Vorbetern zivilisatorischer Suprematie, die Strategen der Neuen Weltordnung mit den Ideologen der neokonservativ formierten Gesellschaft ein fröhliches Stelldichein.

An Feindbildern mangelt es im weltanschaulichen Kosmos der Gut-Böse-Dichotomie nicht, wie das von Westerwelle aufgegriffene Wort vom "Sozialbetrüger", den es zu bekämpfen gilt, zeigt. Anstatt anzuerkennen, daß die offizielle Mißbrauchsquote von 1,9 Prozent unter fast sieben Millionen Leistungsempfängern dokumentiert, wie sehr die Betroffenen um einen korrekten Umgang mit den ihnen auferlegten Regeln bemüht sind, anstatt in Rechnung zu stellen, daß ein Gutteil dieser Fälle auf bürokratische Probleme und Versäumnisse gegenüber dem harschen, auf das Erwirtschaften von Leistungskürzungen ausgelegten Disziplinarregime der Arbeitsagenturen zurückzuführen ist, wird das Verhalten der Erwerbslosen skandalisiert. Die Absicht, kleine Fische als parasitäre Nutznießer vorzuführen, um die großen Tiere bei einem Raubbau ungestört zu lassen, der ganze Volkswirtschaften in den Ruin treibt, ist von einer solch offenkundigen Mißachtung aller für den normalen Menschenverstand einsichtigen Vergleichsmaßstäbe, daß man über den diskriminierenden Tenor der von dem FDP-Chef geforderten Generaldebatte zur sozialen Gerechtigkeit keine Mutmaßungen anzustellen braucht.

Die systematische Begriffsverwirrung, mit der unterstellt wird, daß Besserverdienende und Kapitaleigner unter einem Gerechtigkeitsdefizit leiden, bedient sich eines Leistungspostulats, das vollständig vom arbeitsbedingten Verbrauch der Physis abstrahiert, um den Faktor des Kapitals zur zentralen Produktivkraft zu erklären. Um mit einer solch platten Sklaventreibermentalität durchzukommen, beschwört Westerwelle den antikommunistischen Konsens der Regierungsparteien und ihrer Zuträger in der Opposition.

Damit setzt er auf das richtige Pferd, kann er sich doch gewiß sein, daß die Anerkennung eines sozialen Gleichheitsprimats, das mit der kapitalistischen Raubordnung bricht, nicht einmal in der Linkspartei mehrheitsfähig ist. Die gegen ihn gerichteten Angriffe aus den eigenen Reihen dienen der Legitimation herrschender Verhältnisse. Diese mit offenkundig inkonsistenten Argumenten in Frage zu stellen bietet allen Anlaß dazu, sie anhand einer Neudefinition um so unangreifbarer zu machen. Die von dem FDP-Chef stellvertretend für viele andere Politiker der Regierungsparteien vorgetragene Offensive gegen die verbliebenen Reste eines solidarischen Gesellschaftsverständnisses soll in eine systemische Immunabwehr münden, die zu stärken mitunter auch ein in ihrem Sinne agierender Politiker geopfert werden muß.

Ein Sozialismus, der mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ebenso Ernst macht wie mit dem Verzicht auf imperialistische Kriege, findet nicht einmal unter dem neuen Subproletariat viele Fürsprecher. Hier feiert die Hegemonie eines Überlebenspostulats, dessen Nutznießer genau wissen, daß man hierzulande auch deshalb satt wird, weil in anderen Teilen der Welt gehungert wird, um nur ein Beispiel für die zerstörerischen Folgen der internationalen Arbeitsteilung und der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung zu nennen, seinen überzeugendsten Triumph. Was liberale Ideologen zu seiner sozialrassistischen Blüte treiben, wurzelt in einer national organisierten Vorteilsnahme, an der erfolgreich teilzuhaben auch Menschen glauben, die davon betroffen sind. Über den reaktionären Kehrwert dieser Teilhaberschaft aufzuklären und Gegenstrategien zu entwickeln wäre Aufgabe einer Linken, die es ernst meint mit dem emanzipatorischen Ideal, keinen Menschen auszuschließen, wenn er sich nicht als rücksichtsloser Räuber selbst ausschließt.

15. Februar 2010