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RAUB/0947: Griechenlands Forderungen an deutsche Besatzer unabgegolten (SB)



Die griechische Regierung möchte die Sache auf sich beruhen lassen, doch in der Bevölkerung des Landes ist man keineswegs bereit, die Frage deutscher Kriegsreparationen ein für alle Mal ad acta zu legen. Das gilt um so mehr, seit sich in deutschen Medien das Bild eines räuberischen Balkanvolks verfestigt hat, das sein Dasein auf Kosten anderer Europäer und insbesondere fleißiger Deutscher fristet. Während der Vorteil des Produktivitätsgefälles, das die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion der Bundesrepublik beschert, selbstredend in Anspruch genommen wird, sollen die dabei anfallenden Kosten von denjenigen getragen werden, die auch sonst dazubezahlen. Unterschlagen wird generell, daß es sich bei der europäischen Integration um ein Projekt oligarchischer Eliten handelt, das den sozialen Widerspruch in den Mitgliedstaaten festschreiben und nicht aufheben soll. Nur so können die innereuropäischen Verwertungsverhältnisse als Basis einer Standortdynamik fungieren, mit Hilfe derer sich die Kosten der Kapitalakkumulation sozialisieren und ihre Gewinne privatisieren lassen.

In diesem System unabgegoltene Ansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg zu erheben ist eine Form der Selbstverteidigung, die sich Ministerpräsident Giorgos Papandreou aus schlechtem, weil realpolitischen Grund nicht zu eigen machen will. Er ist zwar der Ansicht, daß das Thema der Reparationszahlungen noch offen ist, will es jedoch nicht auf die Tagesordnung setzen, "weil wir derzeit ganz andere Schwierigkeiten haben" (FAZ, 05.03.2010). Diese liegen darin, genügend politische Rückendeckung der EU für die sozialfeindlichen Maßnahmen zu erhalten, mit denen die eigene Bevölkerung für die Begleichung der Schulden herangezogen wird, mit Hilfe derer sich die reichen Eliten des Landes saniert haben. Die griechische Lohnabhängigen wissen sehr wohl, daß der Angriff auf ihre Lebensbedingungen von einer Transnationale der Krisenprofiteure ausgeht, und wehren sich dementsprechend. Die Privilegien der Herrschenden zu sichern, anstatt die Wirtschaftskrise und das Schuldenproblem zum Anlaß einer Neuordnung der gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse zu nehmen, bedarf desto mehr der massiven internationalen Legitimation.

Den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Griechenland dennoch zum Thema zu machen bleibt mithin eine Angelegenheit aller Griechen, die sich die Möglichkeit im nationalen Rahmen vollzogener Gesellschaftsveränderungen nicht nehmen lassen wollen. Die Bundesrepublik durch die Erinnerung daran herauszufordern, daß das Land während der Besatzungszeit erheblich zur Ader gelassen wurde, ohne daß dies in der Nachkriegszeit ausreichend vergolten wurde, ist also alles andere als geschichtspolitischer Symbolismus. Mit dieser Intervention wird die Vormachtstellung der Bundesrepublik in den Kontext eines imperialistischen Dominanzstrebens gestellt, dem die Distanzierung von der Aggression Hitlerdeutschlands ein probates Mittel ist, um heute um so unbeschwerter an frühere Raubzüge anzuknüpfen. Was am Beispiel des Überfalls der NATO auf Jugoslawien mit der unbelegbaren Behauptung, man müsse dieses Opfer Hitlerdeutschlands daran hindern, ein zweites Auschwitz zu begehen, vorexerziert wurde, wird heute mit der Aufhebung souveräner Rechte Griechenlands durch ein supranationales ökonomisches Zwangsregime auf zwar weniger blutige, aber nicht minder aggressive Weise wiederholt.

Zwischen 1941 und 1944 mußten die Griechen die gesamten Kosten der ihnen aufoktroyierten Besatzung bezahlen, ihre Wirtschaft wurde unter deutsche Zwangsverwaltung gestellt, und die Ausplünderung des Landes durch die Besatzungsmacht bescherte seinen Bürgern eine Hungersnot, an der insbesondere griechische Babies und Kinder verstarben. Am nationalen Widerstand vollzogen Wehrmacht und SS grausame Kollektivbestrafungen, und die jüdische Bevölkerung des Landes wurde in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Nach dem Abzug der Wehrmacht war die Infrastruktur Griechenlands fast vollständig zerstört, so daß ein Neubeginn von weit größeren Nachteilen belastet war, als sie etwa die durch den Marshallplan begünstigte Bundesrepublik zu erleiden hatte.

Den von Deutschland zu leistenden Betrag zur Vergeltung der materiellen Schäden, die Griechenland aus der Besatzungszeit entstanden sind, legten die Siegermächte 1947 auf sieben Milliarden Dollar zum damaligen Wert fest. Ende Februar forderte der der Bürgermeister von Athen, Nikitas Nakalamatis, von Deutschland "70 Milliarden Euro für die Ruinen, die ihr uns hinterlassen habt." Wie hoch die ausstehende Summe tatsächlich ist, wird letztendlich Verhandlungssache sein, doch sie ist zweifellos weit größer als die 115 Millionen Mark, die Griechenland laut dem Wiedergutmachungsabkommen von 1960 erhielt. Mit dieser Summe, so meinen die Bundesregierungen seither, seien die Forderungen der Kriegsopfer abgegolten. Die Milliarden, die Athen als Nettoempfänger im Rahmen der EU aus deutschen Töpfen erhalten hat, werden in Berlin zwar auch als Ersatz für nichtbezahlte Reparationen angegeben, doch widerspricht diese vom Auswärtigen Amt vertretene Ansicht der selbsterklärten Aufgabe der Bundesrepublik, je nach Auslegung als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs oder in staatsrechtlicher Identität mit diesem nicht nur gegenüber Griechenland für die im Zweiten Weltkrieg entstandenen Schäden aufzukommen.

Der 87jährige Widerstandskämpfer Manolis Glezos, der bei den Protesten griechischer Bürger gegen die Sozialkürzungen vor kurzem von der Polizei mit Tränengas mißhandelt wurde, erinnerte in der jungen Welt (09.03.2010) daran, daß die Bundesrepublik die Zahlung von Reparationen 1953 auf die Zeit nach dem Abschluß eines Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Alliierten vertagt hätte. Dies sei 1990 mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag erfolgt, daher stehe nun der Vollzug der Wiedergutmachung an, deren konkrete Gestalt allerdings verschiedenste Formen annehmen könne. In diesem Zusammenhang listete Glezos die menschlichen Opfer des deutschen Überfalls, die in den von ihm genannten Wiedergutmachungsforderungen nicht enthalten wären, auf:

"Bei einer Gesamtbevölkerung von sieben Millionen verlor Griechenland: 70000 Personen infolge direkter kriegerischer Auseinandersetzungen; 12000 Zivilisten infolge indirekter kriegerischer Auseinandersetzungen; 38 960 hingerichtete Menschen; 100000 in Konzentrationslagern ermordete Geiseln (ein großer Teil davon griechische Juden); 600000 Hungertote."
(junge Welt, 09.03.2010)

In Anbetracht dessen, daß die Bundesrepublik gegenüber anderen Opferstaaten und -gruppen sehr viel großzügiger war und daß deutsche Regierungen im Verhältnis zu den USA und Israel immer wieder betonen, wie sehr ihre Außenpolitik diesen Staaten gegenüber von den Verpflichtungen geprägt ist, die aus der moralischen und materiellen Schuld des NS-Regimes resultieren, ist nicht einzusehen, warum dies im Verhältnis zu Griechenland anders sein soll. Man stelle sich einmal vor, deutsche Journalisten nähmen sich gegenüber Israel oder den USA ähnlich beleidigende Töne heraus, wie sie es im Falle Griechenlands mit einem Selbstverständnis eigener Suprematie tun, dessen nationalchauvinistischer Grundton unüberhörbar ist.

So zog Hagen Fleischer, Historiker an der Universität in Athen, hinsichtlich der Schmähungen, die sich deutsche Medien gegenüber Griechenland herausnehmen, im Deutschlandradio Kultur (02.03.2010) die Parallele zu Aussagen deutscher Offiziere, die die Bevölkerung des von ihnen besetzten Landes pauschal schmähten. Ein Wehrmachtsgeneral, der 1943 die Kleinstadt Kalabriza zerstören und 700 Männer exekutieren ließ, beschimpfte die Griechen kollektiv als "Saufvolk der Nichtstuer, Schieber und Korrupteure". Offensichtlich fehlt in diesem Fall jegliche Sensibilität gegenüber den Opfern deutscher Kriegsaggression, was schon angesichts der Tatsache, daß sich zahlreiche Juden unter ihnen befanden, Anlaß für einen Eklat sein müßte. Daß dem nicht so ist, sondern Griechen unverhohlen parasitärer Verhaltensweisen bezichtigt werden, sagt einiges über den interessenbedingten Charakter der politischen Moral in diesem Land aus.

Auch Fleischer ist der Ansicht, daß Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit anderen Opfern deutscher Aggression stark benachteiligt wurde und daß seine heutigen Forderungen nach wie vor prinzipiell gerechtfertigt wären. So sei es vor der deutschen Wiedervereinigung juristisch nicht möglich gewesen, Wiedergutmachungsforderungen zu erheben. Als dies nach 1990 geschah, hätten sich die Regierung Kohl wie die Regierung Schröder schlicht davor gedrückt, ihren Verpflichtungen gegenüber Griechenland nachzukommen. Zu den bloßen Reparationen gesellte sich der Ausgleich für die Anfang 1945 von der NS-Regierung zugestandene Reichsverschuldung gegenüber Griechenland, die sich nach heutiger Kaufkraft unverzinst auf über fünf Milliarden Euro beliefe. Demgegenüber hätte die Bundesrepublik ihre Nachkriegskredite an Griechenland stets verzinst.

Wenn Fleischer die Begleichung der griechischen Forderungen aus politischen Gründen für eher kontraproduktiv hält, heißt das nicht, daß die griechische Bevölkerung dieser Ansicht ist. Vielen Bürgern des Landes geht es nicht anders als Menschen überall auf der Welt, die mit den Kosten der staatlichen Rettung einer Finanzwirtschaft belastet werden, zu deren Nutznießern sie niemals zählten. Am mehr als doppelbödigen Umgang mit deutscher Kriegsschuld wird deutlich, wie wenig Wert die Herrschenden in diesem Land darauf legen, das mörderische Vermächtnis des NS-Regimes nicht zu instrumentalisieren, sondern tatsächlich zugunsten der Betroffenen aufzuarbeiten.

12. März 2010