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RAUB/1003: Sozialer Krieg im Mittelmeer ... blutige Grenzen sichern die Festung Europa (SB)



Die NATO gibt vor, in Libyen Krieg zu führen, um das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen. Abgesehen von dem immanenten Widersinn dieser Behauptung und ihres erwiesenermaßen irreführenden Charakters wird zudem mit leichter Feder über die Tragödie der Kriegsflüchtlinge hinweggegangen. Über 1800 gezählte Tote hat der Exodus aus den von bürgerkriegsartigen Revolten und militärischen Interventionen zerrütteten Staaten Nordafrika bereits in diesem Jahr gefordert. Die Dunkelziffer im Mittelmeer schiffbrüchig gewordener und ertrunkener oder bei der Überfahrt verdursteter Menschen dürfte in Anbetracht der Ignoranz und Gleichgültigkeit, mit der die EU und ihre Anrainerstaaten das Problem behandeln, hoch sein. Der Libyenkrieg hat die Situation für die MigrantInnen, die aus anderen afrikanischen Staaten stammen und in dem wohlhabenden Land gearbeitet haben, zusätzlich verschärft, sind sie doch ins Visier xenophober Rebellen geraten, die meinen, die Drangsalierung ungeliebter Schwarzafrikaner gehöre zum Kampf gegen die libysche Regierung.

Ein Schiff mit 72 MigrantInnen, das Libyen am 25. März Richtung Lampedusa verlassen hatte und in Seenot geriet, wurde trotz mehrerer Kontakte mit NATO-Einheiten und der Benachrichtigung der italienischen Küstenwache seinem tödlichen Schicksal überlassen. Am 10. April wurde das manövrierunfähige Boot an die libysche Küste getrieben. In den 16 Tagen auf See waren 61 Flüchtlinge verhungert und verdurstet. Die aus Äthiopien, Nigeria, Eritrea, Ghana und dem Sudan stammenden MigrantInnen, unter denen sich 20 Frauen und zwei kleine Kinder befanden, waren von der NATO und der EU-Flüchtlingsabwehr praktisch zu Nichtmenschen erklärt worden.

Nun sind möglicherweise bis zu hundert Flüchtlinge bei der Überfahrt in einem nur 20 Meter langen Boot, das bis zu 400 Passagiere beherbergt haben muß, in der sengenden Sonne verdurstet. Das Schiff sei schon anderthalb Tage lang fahruntüchtig auf dem Meer getrieben, bevor es von einem Schlepper gesichtet worden wäre. Dieser habe Rettungsinseln ins Wasser geworfen und die italienischen Behörden alarmiert, die wiederum ein in der Nähe befindliches Kriegsschiff der NATO um Hilfe gebeten hätten, was die Militärallianz jedoch abgelehnt hätte. Erst dann sei die viel weiter entfernte Küstenwache aus Lampedusa zu einer Rettungsaktion aufgebrochen, so der bisherige Erkenntnisstand [1].

Selbst wenn sich die Weigerung der NATO nicht bewahrheiten sollte, trägt das Kriegsbündnis in großem Ausmaß Verantwortung für das massenhafte Sterben im Mittelmeer. Sie hat in Libyen in einen Bürgerkrieg eingegriffen, der ohne die Unterstützung des Aufstands womöglich längst beendet wäre, und zieht diesen vielleicht noch auf mehrere Monate hinaus in die Länge. Was immer die Rebellen treibt, ein Regimewechsel in Tripolis wäre nur dann als Beginn einer selbstbestimmten Neuordnung des Landes zu werten, wenn sie ihn aus eigener Kraft ermöglichten. Die Einschaltung der NATO und die dort praktizierte Instrumentalisierung einer Rebellion, die zu einem Gutteil interner Machtkonkurrenz geschuldet zu sein scheint, wird die Bevölkerung des Landes lediglich in eine andere Form der Abhängigkeit und Unterdrückung führen. Allein die toten Flüchtlinge, die die NATO dabei in Kauf nimmt, belegen ihr ganz und gar nicht menschenfreundliches Interesse.

Obwohl für militärische Maßnahmen mehr als genug Finanzmittel vorhanden sind, wie die Ankündigung Frankreichs und Britanniens, man werde diesen Krieg auch auf lange Sicht bis zum Sturz des libyschen Machthabers Muammar al Gaddafi führen, belegt, fühlt man sich für die dadurch verstärkte Flüchtlingskatastrophe nicht zuständig. Ganz im Gegenteil, man läßt sie systematisch eskalieren, indem alles auf die Insel Lampedusa konzentriert wird, wo man sich absehbar von der Situation überfordert zeigt. Warum die NATO nach mehreren Monaten Krieg nicht umfassende Vorkehrungen für die Aufnahme der Flüchtlinge in allen Staaten der Militärallianz getroffen hat, ist leicht zu erklären.

Was sich beim Überfall der NATO auf Jugoslawien PR-technisch noch gut machte, weil es die unzureichende Angriffslegitimation anhand angeblich durch die jugoslawische Regierung verursachter Vertreibungen stützte, ist in Zeiten der verschärften sozialen Krise nicht mehr erwünscht. Die vor dem Angriff auf Libyen auch dort zur Zufriedenheit der EU durchgeführte Flüchtlingsabwehr muß unter allen Umständen aufrechterhalten werden, geht es bei dieser Intervention doch gerade darum, die neokolonialistischen Verhältnisse in Nordafrika auch gegen das Interesse der sich dort erhebenden Bevölkerungen durchzusetzen. Die Abwehr hungernder und verelendeter AfrikanerInnen soll auch in Zukunft im Vorfeld des EU-europäischen Homelands erfolgen, um sich gar nicht erst dem Problem auszusetzen, die vielfach berechtigten Asylgründe anerkennen zu müssen.

Zu diesem Zweck wird derzeit die europäische Grenzschutzagentur Frontex mit eigenständigen Handlungsvollmachten und eigenem technischen Gerät, das nicht mehr wie bisher von den EU-Mitgliedstaaten angefordert werden muß, für die verstärkte Flüchtlingsabwehr aufgerüstet [2]. Um so mehr erweist sich Frontex als ziviler Arm einer Kriegführung, die gerade am Beispiel der MigrantInnen belegt, daß sie zutiefst sozialer Art ist. Die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sind, völlig unabhängig von den aktuellen Unternehmungen imperialistischer Kriegsziele, stets in ihrem Leben bedroht [3]. Sie erleiden dieses Schicksal, weil sie sich nicht damit abfinden wollen, Opfer von Armut und Gewalt zu werden.

Während die europäischen Metropolengesellschaften ihre in Nordafrika angesiedelten Verwertungsoptionen mit Waffengewalt schützen, sollen angeblich unproduktive afrikanische MigrantInnen in den Hunger- und Kriegszonen klaglos zugrundegehen. In einem aus militärischen Gründen bestens überwachten Seegebiet sterben Menschen zu Hunderten, nicht weil sie Opfer krimineller Machenschaften sogenannter Schlepper wurden oder aus angeblich wirtschaftlichen Gründen illegitimerweise versuchen, die Küsten Europas zu erreichen. Ganz anders, als es die marktwirtschaftliche Doktrin von der Tugend unternehmerischen Risikos verheißt, sollen diejenigen, die nicht dazugehören, keinesfalls den Versuch machen, sich aus eigener Kraft einen besseren Platz in der Hackordnung der Überlebensinteressen zu verschaffen.

Die MigrantInnen sollen bleiben, wo man sie kostengünstig einsetzen kann oder sie still und leise an ihrem Elend vergehen. Diese Ansicht erfreut sich, wie das wachsende Ressentiment gegenüber angeblichen Freßfeinden nicht nur unter der klassisch xenophoben Rechten, sondern auch der neokonservativen Islamfeinde belegt, einer Popularität, die jeden Gedanken an die eigene Unterwerfung im Sozialkampf vergessen macht. MigrantInnen aus den Ländern des Südens als KonkurentInnen auszumachen heißt, von der mangelnden Bereitschaft, diesen Kampf in den eigenen Gesellschaften an der Front kapitalistischer Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse aufzunehmen, projektiv ablenken zu wollen. Der andere wird kulturalistisch als Feind stigmatisiert, um nicht FreundIn und GenossIn zu werden. Das gäbe Anlaß zu einer Solidarität, die sich den herrschenden Verhältnissen widersetzen könnte.

Von daher gilt es, das rassistische Stereotyp der numinosen Bedrohung aus den Weiten Afrikas und Asiens seiner zweckgebundenen Feindseligkeit zu entledigen und das Problem kolonialistisch unterworfener Subjekte als das eigene zu begreifen. Es geht um nichts geringeres, als die strikt selektiv nach Verwertungskriterien regulierte Globalisierung durch die Internationalisierung der sozialen Kämpfe aufzuheben und die blutigen Grenzen zwischen arm und reich einzuebnen. Ohne eine fundamentale Analyse herrschender Gewaltverhältnisse wird dies nicht gelingen, demonstriert die Gewaltbereitschaft der weißen, mit christlicher und europäischer Identität aufgeladenen Offensive nicht nur als wahnsinnig zum Sonderfall verharmloster Massenmörder, sondern als exekutiver Ausdruck zivilisierten politischen Willens legalisierter Streitkräfte und Sicherheitsapparate doch, wer in dieser Auseinandersetzung die Initiative hat.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingsdrama-tote-vor-lampedusa-nato-soll-fluechtlingen-hilfe-verweigert-haben-1.1128237

[2] http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t237811.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub0983.html

5. August 2011