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RAUB/1072: Moderne Sklaverei - Mangelproduktion par excellence (SB)




Die Entfaltung der Produktivkräfte unter der Herrschaft des Kapitals hat der Menschheit historisch beispiellose Höchstleistungen beschert, wollte man denn die Verewigung von Not und Qual in Zahlenwerten ausdrücken. Nie zuvor waren so viele Menschen vom Hungertod bedroht, forderten vermeidbare Krankheiten, schädigende Umweltbedingungen und Verkehrsunfälle einen derart hohen Blutzoll. Von den Hunderttausenden Toten ganz abgesehen, die unablässige Sanktionen und Angriffskriege der NATO-Mächte dahingerafft haben, gleicht der sogenannte Frieden einer Ordnung, in der sich altvertraute Widersprüche im neuen Gewand globaladministrativer Mangelverwaltung prozessieren, für wachsende Teile der Weltbevölkerung einem lebensfeindlichen Ausnahmezustand.

Das gilt auch für die moderne Sklaverei, der als unterster Ebene eines gestaffelten Ausbeutungsregimes heute mehr Menschen als je zuvor unterworfen sind. Einer Studie der Stiftung "Walk Free" [1] zufolge leben weltweit 29,8 Millionen Menschen als Sklaven. Diese Stiftung, die vor wenigen Monaten von dem australischen Rohstoffmagnaten Andrew Forrest mit eigenen Geldern gegründet wurde, hat sich angeblich die Abschaffung der Sklaverei zum Ziel gesetzt und will ab sofort eine jährliche Rangliste der Staaten mit entsprechenden Daten veröffentlichen. Wichtigster Autor des aktuellen Berichts ist der US-amerikanische Anthropologe und Soziologe Kevin Bales, der seit Jahren zu diesem Thema forscht. Nach Angaben einer Stiftungssprecherin wurde dessen Datenmaterial mit Informationen des UN-Kinderhilfswerks UNICEF zur Verheiratung Minderjähriger und Angaben über Menschenhandel zusammengeführt, woraus man die Zahlen für einzelne Länder hochgerechnet hat.

Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß die genannten fast 30 Millionen Sklaven von der Realität weit übertroffen werden, da bislang nur bestimmte Ausprägungsformen wahrgenommen werden und das Datenmaterial weitgehend auf Schätzungen beruht sowie aus rechnerischen Ableitungen gewonnen wird. Einbezogen werden in erster Linie Menschenhandel, Zwangsarbeit, Kinderheirat, Schuldknechtschaft sowie der Verkauf und die Ausbeutung von Kindern. Moderne Sklaverei wird dabei als Zustand definiert, in dem man einen Menschen mit dem Ziel besitzt und kontrolliert, aus ihm Profit zu ziehen. Wie diese Definition zeigt, ist die Abgrenzung zwischen Sklaverei und anderen, als mehr oder minder normal eingestuften Ausbeutungsverhältnissen zwangsläufig unscharf. Da der Zugang zu den Opfern meist nicht möglich ist, mußten sich die Forscher häufig umwegiger und eher spekulativer Verfahren wie der Auswertung von Zweitquellen und der Evaluation durch Experten bedienen, deren fachwissenschaftliche Kriterien nicht frei von berufständische Interessen reflektierenden Relativierungen sind. Wie es in dem Bericht heißt, sei das sicherlich nicht der beste Weg, um genaue Zahlen zu erheben. Da es sich jedoch um die erste Studie dieser Art handle, hoffe man, für den nächsten Bericht über mehr Material zu verfügen.[2]

Dem Report zufolge werden vor allem in Teilen Westafrikas und im Süden Asiens nach wie vor Menschen in die Sklaverei hineingeboren. Andere Opfer werden entführt und weiterverkauft, zwangsverheiratet oder als kostenlose Arbeitskräfte mißbraucht. Häufig lockt man die Opfer auch mit der Aussicht auf einen Job oder eine Ausbildung und nicht immer wendet man physische Gewalt an, da die sich die Täter auch der Einschüchterung, Täuschung oder Isolation bedienen.

In absoluten Zahlen leben mit 14 Millionen Menschen die meisten Sklaven in Indien, am schlimmsten sei die Lage in Mauretanien, da das Land den höchsten Anteil gemessen an der Bevölkerung aufweist. Dort leben bis zu 160.000 der insgesamt 3,8 Millionen Einwohner in derartigen Zwangsverhältnissen. Auch in Haiti ist die Situation demzufolge alarmierend, da vor allem die Versklavung von Kindern dramatisch zugenommen habe. Bis zu 200.000 der 10,2 Millionen Bewohner des Landes sollen als Sklaven leben. Pakistan landet auf dem dritten Rang, von dessen 179 Millionen Einwohnern mehr als zwei Millionen Opfer von Sklaverei sein sollen. Laut der "Walk Free Foundation" finden 76 Prozent aller Versklavungen in nur zehn Staaten statt, nämlich in Indien, China, Pakistan, Nigeria, Äthiopien, Rußland, Thailand, der Demokratischen Republik Kongo, Burma und Bangladesch.

Untersucht wurden 162 Länder, wobei es der Studie zufolge in Island, Irland und Großbritannien noch am besten aussehen soll, was jedoch nicht gleichbedeutend mit einem völligen Fehlen von Sklaverei sei. Die Europäische Union geht auf der Basis von Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) davon aus, daß in Europa 880.000 Menschen in Zwangsarbeit oder wie Sklaven ausgebeutet werden, davon mehr als zwei Drittel nicht in der Prostitution, sondern in Branchen wie der Landwirtschaft, der Pflege, dem Hotelgewerbe oder der Schlachtindustrie. Auch Deutschland ist davon nicht ausgenommen, wo es nach Angaben der Stiftung zwischen 10.000 und 11.000 Sklaven gibt. Nach Aussagen von Behörden liegen hierzulande keine verläßlichen Schätzungen vor. Polizeilich bekannt werden 600 bis 1000 von Menschenhändlern ausgebeutete Personen pro Jahr, wobei es sich fast ausschließlich um Prostitution handelt. Hingegen wird die Ausbeutung in anderen Arbeitsverhältnissen bislang kaum aufgedeckt.[3]

Obgleich die Frist für die Umsetzung der EU-Richtlinie gegen Menschenhandel in nationales Recht im April abgelaufen ist, wurden in Deutschland die dazu notwendigen Schritte bislang auf parlamentarischem Wege blockiert. Der Bundestag hat zwar mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition ein Gesetz verabschiedet, das jedoch von der Opposition mit ihrer Mehrheit im Bundesrat zum Scheitern gebracht wurde. Wie sie zur Begründung anführte, bleibe das deutsche Gesetz hinter den EU-Vorgaben zurück. Das Gesetz enthielt Verschärfungen im Strafrecht gegen Menschenhandel und eine stärkere gewerberechtliche Überwachung von Bordellen, womit die EU-Richtlinie in Teilen umgesetzt wurde. Sachverständige kritisierten jedoch einhellig, daß das Hauptanliegen der EU-Richtlinie, Schutz und Rechte der Opfer zu verbessern, nicht aufgegriffen worden war. Grundsätzlich verhindert in Deutschland die Übermittlungspflicht der Arbeitsgerichte gegenüber Ausländerbehörden den Opferschutz, und so ist die drohende Abschiebung neben unmittelbarer Gewaltanwendung das entscheidende Druckmittel der Täter. Wollte man Opferschutz ernst nehmen, der von vielen Experten als einzig unmittelbar wirksame Strategie gegen Sklaverei angesehen wird, müßte man die restriktive Migrationspolitik revidieren.

Der an der University of Surrey in England forschende und lehrende Kevin Bales kommt als Hauptautor des Berichts zu dem Schluß, daß entgegen der weitverbreiteten Meinung nicht die Armut der wichtigste Grund für die Sklaverei sei, sondern vielmehr eine grassierende Korruption. Diese führe dazu, daß der organisierten Versklavung durch kriminelle Banden kein Einhalt geboten werde. Er hoffe sehr, daß der neue Anti-Sklaverei-Index sowohl für die Regierungen in den zehn meistbetroffenen Ländern als auch für westliche Staaten ein Weckruf ist.[4]

Diese Abwesenheit einer analytischen Einbindung der modernen Sklaverei in die Produktions- und Herrschaftsverhältnisse weist Bales wie auch die "Walk Free Foundation" als ein Instrument aus, das letzten Endes der Verschleierung eben dieser Verhältnisse und einer gezielten Bezichtigung bestimmter Staaten oder Regierungen dient. An historischen Vorbildern fehlt es nicht: So verabschiedeten die USA bereits unter Bill Clinton ein Gesetz, das Ländern mit Sanktionen drohte, die nicht aktiv gegen Sklaverei vorgehen. Angeprangert wurden jedoch ausschließlich politisch unliebsame Regierungen, während man Sanktionen gegen Japan oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die zu den strategischen Partnern gehören, trotz konkret nachweisbarer Fälle von Sklaverei in erheblichem Umfang ausschloß.

So zutreffend die Erkenntnis sein mag, daß Sklaverei in wachsendem Maße jede Gesellschaft durchsetzt, führt doch die Behauptung in die Irre, es handle sich dabei um einen Mißstand, den man für sich genommen weltweit ächten könne und müsse. Wer nicht einmal an der sozialen Frage oder der Einwanderungspolitik rührt, geschweige denn die nationalen und weltweiten Strategien, Verflechtungen und Folgen der auf Profitmaximierung gründenden Verwertung entschlüsselt, leistet keinen ernsthaften Beitrag zur Abschaffung der modernen Sklaverei, will er doch von der Allgegenwart der Ausbeutungsverhältnisse nichts wissen.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/wirtschaft/article120981460/30-Millionen-Menschen-leben-weltweit-als-Sklaven.html

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/walk-free-foundation-30-millionen-menschen-leben-in-sklaverei-a-928275.html

[3] http://www.nzz.ch/aktuell/international/auslandnachrichten/moderne-sklaverei-als-verborgenes-verbrechen-1.18169108

[4] http://www.3sat.de/page/?source=/scobel/156728/index.html

19. Oktober 2013